Armenien-Bundestag

Sehr geehrte(r) Herr/Frau Abgeordnete des Bundestages,

Wir möchten Sie bitten, sich fünf Minuten Zeit zu nehmen, um diesen von zahlreichen türkischen Organisationen in Deutschland unterzeichneten Brief zu lesen.

Die Fraktionen im Bundestag wollen eine gemeinsame Erklärung zu den Ereignissen und der Zwangsumsiedlung der Armenier 1915 im Osmanischen Reich abgeben.

Wir sind der Meinung, dass diese sehr kontrovers diskutierte und erforschte Frage vor 101 Jahren, nicht zum Aufgabenbereich der Parlamente und Politikern gehört und nicht von diesen entschieden bzw. beurteilt werden darf.

Der im Februar im Bundestag diskutierter Antrag der Grünen (Drucksache 18/4687) ist völlig einseitig. Eine solch einseitige, ja sogar substanziell auf falschen Annahmen und Behauptungen basierende Erklärung wird sehr viele Deutschlandtürken und die Bevölkerung in der Türkei tief verletzen. Dies wird darüber hinaus zur Lösung des Problems zwischen Armeniern und Türken keinen Beitrag leisten.

Wir bedauern aufrichtig, dass hunderttausende Armenier bei den höchst dramatischen und traurigen Ereignissen bei und in Folge von der Zwangsumsiedlung von 1915 aus unterschiedlichen Gründen ums Leben kamen. Es ist jedoch falsch, wenn bei den vorangegangenen Auseinandersetzungen und Kriegshandlungen lediglich von getöteten Armeniern die Rede ist und die nahezu in gleicher Zahl getöteten Türken ausgeklammert werden.

Die Armenier und Türken lebten mehr als tausend Jahre in friedlicher Nachbarschaft zusammen. Die Armenier waren auf allen beruflichen Ebenen der osmanischen Gesellschaft, aber auch als Botschafter und Minister in vielen führenden Positionen des Staates präsent.

Der erste Ministerpräsident Armeniens, Howhannes Katschasnuni, fasst diese höchst traurige Geschichte des Osmanischen Reiches in 1923 im folgenden Satz zusammen. «Wir wurden getötet und wir haben getötet. Wir sind vom Traum für Groß Armenien verblendet gewesen. (Katschasnuni,H., Die Partei Daschnak kann nichts erreichen, Istanbul, 2005, S.9.).

Seit hundert Jahren kontrovers erforscht und diskutiert

«Völkermord» oder «Genozid» bezeichnet laut Uno-Konvention von 1948 die spezielle Absicht, auf direkte oder indirekte Weise «eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören».

Über die Bewertung der Ereignisse von 1915, also über die Zwangsumsiedlung von Armeniern aus Ost- und Zentralanatolien nach Syrien – damals Teil des Osmanischen Reiches – wird seit rund hundert Jahren geforscht und kontrovers diskutiert.

Freispruch in Malta

Unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg hatten die Besatzungsmächte Großbritannien und Frankreich vom 3. Januar 1919 bis 10. August 1921 im Osmanischen Reich Ermittlungen durchgeführt, um den Prozess gegen angebliche Täter wegen «schlechter Behandlung von Kriegsgefangenen und Massakern gegen Armenier» aufnehmen zu können. 147 politisch Verantwortliche und führende Offiziere des Osmanischen Reiches wurden vom englischen Militär in Istanbul nach Malta deportiert.

Insbesondere England als Besatzungsmacht war im Besitz aller Dokumente, Beschlüsse und Schriftwechsel über die Maßnahmen an Zwangsumsiedlung von Armeniern im Osmanischen Reich. 32 Monate lang hat der Königliche Staatsanwalt in enger Zusammenarbeit mit dem englischen Außen- und Verteidigungsministerium, dem hohen Kommissar und der Botschaft Englands in Istanbul, sogar unter Mitwirkung und Einschaltung des Parlaments Großbritanniens, den Prozesses gegen die Inhaftierten in Malta vorbereitet.

Im Juli 1921 kam der Königliche Staatsanwalt Großbritanniens zu folgendem Ergebnis: «Das Beweismaterial und die Informationen, die wir in der Hand haben, legen keine Beweise vor, um die Beschuldigten nach einem Zivilgerichts-Prozess zu verurteilen und zu bestrafen.» (Gürkan, U., Die Armenische Frage zu verstehen -Ermeni Sorununu Anlamak-, Istanbul 2011, S.78 ff.

Der mit großem Enthusiasmus und Aufwand an Hand sämtlicher damaliger Unterlagen des Osmanischen Reiches, Großbritanniens, Frankreichs und der USA gegen die inhaftierten «Verantwortlichen» geführte Malta-Prozess endete mit Freispruch. Am 31. Oktober 1921 wurden die Inhaftierten in die Türkei zurückgebracht.

Großbritannien lehnte neutrales Gericht ab

Noch vor dem Malta-Prozess hatte die Führung des Osmanischen Reiches bei den Ländern Dänemark, Schweiz, Schweden, Holland und Spanien, die am Ersten Weltkrieg nicht beteiligt waren und daher als neutral galten, um die Gründung eines Gerichts gebeten, um die Vorwürfe des Vergehens gegen Armenier zu untersuchen. Doch die Besatzungsmacht Großbritannien hat diesen Vorschlag abgelehnt.

Erklärung der 69 USA Wissenschaftler

Mit einem Brief wandten sich 69 US-amerikanische Wissenschaftler, die meisten von ihnen Historiker und Experten des Nahen Ostens, am 19.5.1985 an die Mitglieder des Senats. Ähnlich wie demnächst im Bundestag, wollte der Senat über einen Antrag entscheiden, in dem vom “Völkermord an Armenien“ die Rede war. “Eine historisch so umstrittene und auf Behauptungen basierende Entscheidung des Senats, wird einer historischen Analyse nicht gerecht und würde die Glaubwürdigkeit des Senats beeinträchtigen.” so die Kernaussage des Schreibens. Sie betonten, dass es während der Kriegshandlungen zu beidseitigen Massakern zwischen Christen (Armeniern) und Moslems (Türken und Kurden) gekommen ist.

Für Völkermord fehlen dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Rechtsgrundlagen

«Für eine zweifelsfreie Qualifizierung als Völkermord fehlen dem EGMR die klaren internationalen Rechtsgrundlagen, wie es sie im Falle des Holocaust gibt.», so der EGMR in ihrem Perinçek Urteil am 12. Dezember 2013.  Auch die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat diese Auffassung in ihre Entscheidung am 15.10.2015 bekräftigt. Großen Wert legt der EGMR darauf, dass die Perinçek-Angelegenheit nicht mit der Leugnung des Holocaust zu vergleichen sei.

Hunderttausende wurden Opfer der Zwangsumsiedlung, aber auch Massaker der Armenier

In unzähligen Publikationen von seriösen Historikern werden die Entstehungsgründe und Geschehnisse vor 1915 und danach detailliert erläutert. Sie belegen, wie die aufständischen und sich des Terrors und der Gewalt bedienenden Anhänger der armenischen Daschnaken Partei vor und inmitten des Ersten Weltkrieges, auch zwischen Russland und dem Osmanischen Reich, ermutigt und unterstützt vom zaristischen Russland – ja gemeinsam mit der russischen Armee – gegen den eigenen Staat in der Osttürkei kämpften.

Als die russische Armee die heutige Osttürkei gegen Ende 1914 besetzte, übten Anhänger der armenischen Daschnaken Partei gegen die türkische und kurdische Bevölkerung in der Osttürkei Massaker aus. Laut Schätzungen sind Hunderttausende dabei getötet worden. Dutzende Archivmaterialien, selbst Berichte und Dokumente von russischen Generälen und Verantwortlichen, belegen eindeutig diese Massaker.

Erst nach diesen Ereignissen in der Osttürkei wurde vom Osmanischen Staat, übrigens auch auf Empfehlung der in der osmanischen Armee einflussreichen deutschen Generäle, am 27. Mai 1915 über die Zwangsumsiedlung der Armenier entschieden. Ohne Zweifel kamen dabei bei meist fehlenden Transportmöglichkeiten und Erkrankungen auf diesem langen Weg und unter den damaligen höchst ärmlichen Zuständen hunderttausende  Armenier ums Leben. Es gab hierbei auch viele Racheakte und Raubüberfälle von der Lokalbevölkerung gegen die armenische Bevölkerung.

Von dieser Zwangsumsiedlung war die armenische Bevölkerung in den westlichen Teilen des Landes, beispielsweise in Istanbul, Izmir, Bursa nicht betroffen. Dies ist ein Indiz dafür, dass keine generelle Deportation – geschweige denn Vernichtung –  der armenischen Bevölkerung geplant war und stattfand.

Es ist mit Entschiedenheit zu kritisieren, dass auch die in der Osttürkei und in Zentralanatolien völlig unbeteiligte armenische Bevölkerung von dieser Deportation und vom unermesslichen Leid betroffen war.

Vorschlag einer paritätisch besetzten Historikerkommission

In einem interfraktionellen Antrag (Drucksache 15/5689, vom 15.6.2005) hatte der Bundestag die Bundesregierung aufgefordert  “sich für die Bildung einer Historiker-Kommission einzusetzen, an der außer türkischen und armenischen Wissenschaftlern auch internationale Experten beteiligt sind.” Auch die Unterschreiber dieses Briefes fordern seit längerem eine solche Historiker-Kommission zur Untersuchung der Ereignisse von 1915 an Hand von sämtlichen Archivmaterialien und  Dokumenten in den dafür in Frage kommenden Ländern.

Die Türkei hat offiziell in einem Brief an Herrn Robert Kotscharjan, damals Präsident der Republik Armeniens, am 10.4.2005 die Bildung einer Historiker-Kommission vorgeschlagen. Der vom damaligen türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan unterzeichnete Brief wurde auch vom damaligen Oppositionsführer Deniz Baykal mitgetragen. Leider hat Armenien auf dieses Angebot bis heute nicht reagiert.

Dieses Problem belastet seit Jahrzehnten die Beziehungen zwischen Armenien und der Türkei. Die Ergebnisse einer von Historikern geleisteten Forschungsarbeit sollten den Beweis erbringen, ob Völkermord oder eben nicht. Daher wäre das Ergebnis solch einer Kommission, das von beiden Seiten akzeptiert werden sollte, mit Sicherheit eine Lösung dieses Konflikts, die zur Normalisierung der Beziehungen zwischen der Türkei und Armenien ganz entscheidend beitragen würde.

Wir plädieren an das Gewissen aller Abgeordneten im Bundestag, dieses höchst brisante Thema nicht zum Gegenstand der täglichen Politik zu degradieren. Ein Parlament darf sich nicht an die Stelle eines Gerichtes setzen und über die historische Schuld oder Unschuld anderer Völker richten, über historische Ereignisse vor 100 Jahren Beschlüsse fassen. Einen solchen Beschluss, der die türkische Nation mit dem schwersten Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezichtigen würde, wird das türkische Volk nicht akzeptieren. Als zivilgesellschaftliche Organisationen gegründet von Menschen mit türkischer Herkunft in Deutschland, werden wir ein solches Urteil mit Nachdruck ablehnen. Ein solcher ungerechter, auf politischen Motiven basierender Beschluss würde auch die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei zutiefst erschüttern. Ein solches Ergebnis wünschen wir uns als Teil von und als Brücke zwischen beiden Völkern auf keinen Fall.