ATIAD TGD zu priviligierter Partnerschaft

Die Deutschland-Türken sind zutiefst empört, verärgert und verletzt über die Ankündigung von Merkel und Gloß, gegen den Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei möglicherweise eine Unterschriftenaktion durchzuführen.

Es ist durchaus das Recht der Parteiführung der Unionsparteien, gegen eine EU-Mitgliedschaft und somit auch gegen den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der Tür-kei öffentlich Position zu beziehen. Dies ist auf vielfältige und höchst engagierte Weise in Deutschland und darüber hinaus auch mittels eines Briefes von Frau Merkel bei den Schwesterparteien in den EU-Staaten zur Genüge geschehen.

Wenn nun die Bundesvorsitzende der CDU ankündigt, mit einer Unterschriftenkampagne gegen den Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ins Felde ziehen zu wollen, so ist dies nichts anderes als eine offene Kampfansage gegen unser Herkunftsland Tür-kei und somit zugleich auch gegen uns, die Deutschland-Türken.

Eine solche Kampagne ist verantwortungslos, weil sie zu einer erheblichen Polarisierung zwischen den Positionen der Befürworter und der Gegner einer EU-Mitgliedschaft der Türkei sowohl innerhalb der deutschen Bevölkerung als auch zwischen den Beitrittsgeg-nern und der türkischen Bevölkerung in Deutschland führen wird. Überdies wird die Kampagne bei Teilen der deutschen Bevölkerung bereits vorhandene Ressentiments und Ängste gegenüber den Deutschlandtürken schüren und womöglich rechtsradikale Kräfte ermutigen, erneut gegen diese Menschen, möglicherweise auch gewaltsam, vor-zugehen. Die Ereignisse von Mölln, Solingen und in vielen anderen Orten Deutschlands sind noch in frischer Erinnerung. Wir jedenfalls sehen den sozialen Frieden in Deutsch-land durch derartige Aktionen akut gefährdet.

Es ist eine Atmosphäre entstanden, in der in diesem Land geborene und aufwachsende Jugendliche verunsichert sind und nicht mehr wissen, ob sie sich zu diesem Land zuge-hörig fühlen sollen oder nicht.

Wir haben das Gefühl, dass Frau Merkel kaum ahnt und vielleicht auch nicht ahnen kann, was ihre Positionierung mit einer solchen Kampagne für uns Deutschlandtürken auch gefühlsmäßig bedeutet, weil sie möglicherweise gar keine Kontakte zu uns hat und auch keine zu pflegen bereit ist.

Wer der Türkei trotz der mehr als 40 Jahre bestehenden vertraglichen Bindungen und Vereinbarungen mit der EU und trotz des seitens der Staats- und Regierungschefs der EU anerkannten Kandidatenstatus aus religiösen, kulturellen, historischen oder sonstigen Gründen die EU-Mitgliedschaft verhindern will, schottet und grenzt auch 2,6 Millionen Deutschlandtürken aus.

Die Deutschlandtürken, von denen bereits mehr als 700.000 die deutsche Staatsbürger-schaft besitzen, empfinden diese Ablehnung auch als persönliche Ausgrenzung. Wäre es etwa fair und angemessen, wenn türkische Organisationen in Deutschland die bis zur nächsten Bundestagswahl auf eine Million angewachsene Gruppe wahlberechtigter Bür-ger türkischer Herkunft in einer ähnlichen Kampagne öffentlich dazu aufriefen, gegen die Unionsparteien zu stimmen?

Uns verärgert auch der Vorschlag der Unionsparteien unter dem Etikett einer ‚privilegier-ten Partnerschaft‘, was nichts anders als eine ‚privilegierte Ausgrenzungspolitik‘ ist. Offenbar wollen uns die Vertreter dieser Idee für dumm verkaufen, ist doch das, was Frau Merkel unter diesem Begriff anbietet, längst Realität, als da sind; Freihandel, eine gemeinsame Sicherheitspolitik oder der Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Die Türkei ist seit 1996 Mitglied der Zollunion der EU, sie ist seit 52 Jahren in der NATO. CDU und CSU sollten wissen, dass die Türkei und die Deutschlandtürken längst wissen und verstanden haben, dass die Führung dieser

Dieser Vorschlag einer ‚privilegierten Partnerschaft‘ sollte schnell dort landen, wo er hingehört: Auf dem Müllhaufen der Geschichte!

Die Türkische Gemeinde in Deutschland (TGD) und der Verband Türkischer Unterneh-mer und Industrieller in Europa (ATIAD) sind ganz entschiedene Befürworter einer EU-Integration der Türkei. Auch deshalb, weil dies die Lebensbedingungen der Deutschland-türken stark verbessern und die bereits vorhandenen Beziehungen zwischen Deutsch-land und der Türkei ganz entscheidend vertiefen wird.

Über 60.000 türkischstämmige Unternehmer, die im letzten Jahr ca. 30 Milliarden Euro erwirtschaftet haben und 350.000 Menschen Arbeit bieten, beginnen sich zu fragen, ob sie in Deutschland weiter investieren sollen.

Nach Prognosen für das Jahr 2010 werden dann ca. 110.000 türkischstämmige Unter-nehmen in Deutschland weit über 110 Milliarden Euro umsetzen und mehr als 700.000 Menschen, davon zu 75 Prozent Deutschstämmige, werden in diesen Unternehmen ar-beiten. Dürfen oder besser noch können es sich Volksparteien, Parteien der politischen Mitte wie CDU und CSU, leisten, mit dieser Art Ausgrenzungspolitik gegenüber den Tür-ken und der Türkei dieses Wählerpotential abzuschrecken? Den Kommissionsbericht der EU haben wir im ganzen begrüßt, weil er den Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei empfiehlt. Wir haben jedoch auch einige ganz grundsätzliche Kritikpunkte an diesem Bereicht. Deshalb wollen wir bei den Regierungs- und Staatschefs der EU dafür werben, bei ihrer Entscheidung am 17. Dezember dieses Jahres die notwendigen Korrekturen vorzunehmen. Wir haben uns auch gegenüber der türkischen Regierung und Opposition sowie in der türkischen Öffentlichkeit dafür ausge-sprochen, sich für entsprechende Verbesserungen stark zu machen.

Unsere ganz prinzipielle Kritik aber gilt der Ungleichbehandlung der Türkei im Vergleich zu den bereits im Mai dieses Jahres aufgenommenen und den anderen noch aufzunehmenden Staaten. Die Staats- und Regierungschefs der EU haben der Türkei 1999 bei ihrem Gipfeltreffen in Helsinki die Gleichbehandlung mit ande-ren Kandidaten versprochen. Dies ist auch danach wiederholt zum Ausdruck ge-bracht worden.

Die Türkei wird jedoch von der EU nicht gleich behandelt! Die EU Kommission sieht für die Türkei Verhandlungen vor, die ergebnisoffen zu führen sind. Dies galt für keinen der bisherigen Kandidaten. Dieser Preis erscheint uns unangemessen hoch.

Die Türkei sollte ausdrücklich erklären, dass sie ungleiche und diskriminierende Bedingungen nicht akzeptieren wird und dies entschieden vertreten.

Manche Formulierungen in der Entscheidung der EU-Kommission bergen außerdem eine Reihe weiterer Probleme und Unklarheiten in sich. Vor allem auf fünf Feldern sehen wir diese Diskriminierung:

1. Selbst wenn die Türkei alle erforderlichen Beitrittsbedingungen erfüllt, behält sich die EU das Recht vor, eine Aufnahme abzulehnen. Bei den anderen Beitrittskan-didaten hatte die EU dieses Recht nicht, wenn alle Beitrittsbedingungen erfüllt worden waren.

2. Zum EU-Beitritt der Türkei werden in den Mitgliedsstaaten Referenden vorge-schlagen. Wenn die zukünftige europäische Verfassung bei Beitrittsentscheidun-gen das bisherige Prinzip der Einstimmigkeit übernimmt, ist eine Ablehnung des Beitritts der Türkei vorprogrammiert, denn es wird einige Staaten geben, deren Bevölkerung sich gegen den EU-Beitritt der Türkei aussprechen wird. Dieser Vor-schlag, der bis jetzt für keinen anderen Beitrittskandidaten vorgesehen war, sollte von der Türkei kategorisch abgelehnt werden.

3. Auch bei der Freizügigkeit wird von der Türkei nicht nur eine Übergangslösung erwartet, sondern eine dauerhafte Konzession. Dies ist mit dem Geist und der Philosophie der EU unvereinbar. Ein derartiges Ansinnen darf keinesfalls akzep-tiert werden.

4. Es wird erwogen, die Unterstützungen im Agrar- wie im infrastrukturellen Bereich für die Türkei im Gegensatz zu anderen Mitgliedsstaaten zu minimieren.

5. Obwohl alle anderen Beitrittskandidaten ein konkretes Beitrittsdatum erhalten ha-ben, ist dies für die Türkei nicht vorgesehen.

In der EU herrscht die Auffassung, dass die Türkei den EU-Beitritt ‚um jeden Preis‘ an-strebt und daher auch diskriminierende Bedingungen akzeptieren wird. Diese Einschät-zung wird weitere Diskriminierungen nach sich ziehen.

Die Türkei muss offen und entschieden ihre Beitrittspolitik erklären. Sie sollte sagen, dass sie keine Bedingungen akzeptieren wird, die sie im Vergleich zu anderen Beitritts-kandidaten diskriminieren und ausgrenzen. Eine solche Einstellung wird auch in der öf-fentlichen Meinung in der EU auf Akzeptanz stoßen. Gleichbehandlung ist die Forderung. Die Zusagen vom Gipfeltreffen in Helsinki müssen eingehalten werden.

Die türkische Regierung und die Opposition, die Arbeitgeber, die Gewerkschaften und die nichtstaatlichen Verbände sollten gemeinsam mit uns bei den europäischen Regie-rungen und in der Öffentlichkeit dafür werben, dass die Bedingungen in den oben er-wähnten fünf Feldern im Sinne unserer berechtigten Kritik korrigiert werden.

Die nichtstaatlichen Organisationen in der EU sollten Ihr Engagement in dieser Richtung intensivieren. Die Türkische Gemeinde in Deutschland und ATIAD werden sich weiterhin im Sinne dieser Empfehlungen engagieren.

Prof. Dr. Hakkı Keskin (Bundesvorsitzender TGD)

Eşref Ünsal (Vorstandsvorsitzender ATIAD)