Das Kurdenproblem in der Türkei muss innerhalb des unitaristischen Staatswesens gelöst werden

Cumhuriyet
Die Türkei hat unbestritten ein Kurdenproblem. Eine diesbezügliche Lösung kann jedoch nicht in der Föderalisierung des türkischen Staates entlang ethnischer Grenzen bestehen. Dies würde den ethnischen Separatismus weiter stärken und nicht beenden. Der Schlüssel zur Lösung der Kurdenfrage liegt in der Anerkennung und Stärkung der kulturellen Rechte der Kurden und der anderen Minderheiten innerhalb der territorialen Integrität der Republik Türkei.

Prof. Dr. Hakki Keskin, MdB und EU-Erweiterungsbeauftragter der Fraktion Die LINKE.

In der Debatte um die Erarbeitung einer neuen Verfassung melden sich mitunter Vertreter mit der Forderung zu Wort, dass „eine auf türkischer und kurdischer Ethnizität beruhende Staatsauffassung ihren Ausdruck auch in der neuen Verfassung finden muss.“ Diese Forderung dient letztlich dem Ziel, eine rechtliche Grundlage für eine spätere Sezession zu schaffen, so wie dies in der Vergangenheit am Beispiel der Sowjetunion und Jugoslawiens zu beobachten war.

Anfang Dezember 2007 bereiste ich im Rahmen einer Delegationsreise der Bundestagsfraktion Die LINKE. die Republik Serbien und das nach Eigenstaatlichkeit strebende Kosovo. Unser Ziel war es, die aktuelle Lage im Zusammenhang mit den Unabhängigkeitsbestrebungen Kosovos vor Ort einzuschätzen und unsere Bundestagsfraktion hierüber zu unterrichten.

In Belgrad und in Pristina wurden wir von sachkundigen Experten und politischen Vertretern empfangen, die uns über das gescheiterte jugoslawische Staatsmodell ausführlich informierten. Kosovo bildete dabei das letzte Glied in einer langen verhängnisvollen Kette, an deren Ende Bürgerkrieg, Vertreibung, Massenelend und Staatszerfall standen.

Verantwortliche der serbischen Regierung und des serbischen Parlaments erklärten, dass die Loslösung Sloweniens, Kroatiens, Bosnien-Herzegowinas und Mazedoniens durchaus auf der Grundlage der Verfassung Jugoslawiens erfolgten. Sie unterstrichen, dass in diesen Fällen das Recht auf Austritt im Rahmen der föderativen Struktur der Bundesrepublik Jugoslawien ausdrücklich verankert gewesen sei. Im Fall Kosovos bestand dieses Recht auf Austritt aus dem gemeinsamen Bundesstaat allerdings nicht, da das Kosovo lediglich ein autonomes Gebiet innerhalb Serbiens darstellte.

Besonders bemerkenswert waren deshalb die Ausführungen von Edita Tahiri, die in der Ära Rugova als „Außenministerin“ Kosovos fungierte. Sie betonte im Gegensatz zur allgemein gültigen Völkerrechtsnorm, dass das Kosovo genau so wie Kroatien und Slowenien ein föderativer Bestandteil des ehemaligen Jugoslawiens gewesen wäre und trotz seiner untergeordneten Stellung als autonomes Gebiet gesetzlich das Recht besessen habe, den jugoslawischen Titularstaat zu verlassen. Tahiri untermauerte ihre Sicht durch eine Reihe von historischen Argumenten, die gleichzeitig auch auf Ethnizität beruhten.

Zwangsläufiger Staatszerfall

Den fünf Ländern, die durch Austritt aus der ehemaligen Bundesrepublik Jugoslawien oder durch Kriegsführung ihre Unabhängigkeit erlangten, ist es tatsächlich gelungen, sich auf der Grundlage ihrer in der Verfassung des Bundesstaates verankerten Rechte als eigene Staaten zu konstituieren.

Die Eindrücke, die ich in Belgrad und im Kosovo sammeln konnte, waren für mich außerordentlich bedeutsam. Sie lieferten empirische Belege dafür, in welche Katastrophe eine föderale Staatsstruktur führt, wenn sie auf einer ethnisch motivierten Grenzziehung beruht. Wenn es zur Übertragung einer solchen Variante auf die Türkei käme, wie dies manche zur Lösung des Kurdenproblems fordern, würden sicher ganz ähnliche Ergebnisse eintreten.

Das unitaristische Staatswesen, auf dem sich neben zahlreichen anderen Ländern auch die Türkei gründet, will gerade keine künstlichen Grenzen zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen errichten. Dies wäre angesichts der auf dem Territorium der heutigen Republik Türkei stets vorhandenen, „bunt gemischten“ Bevölkerung vollkommen abenteuerlich und liefe darauf hinaus, Menschen entlang ethnischer Zugehörigkeiten voneinander zu separieren. Das Ergebnis wäre klar: Sowohl die „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ als auch die „Bundesrepublik Jugoslawien“ zerfielen auf Grund ihrer ethnisierenden, föderativen Strukturen, die eine enorme zentrifugale Wirkung besaßen. Der ausschlaggebende Faktor für ihren Zerfall war ein auf Ethnizität beruhendes Verständnis von politischer Selbstbestimmung, das im Fall geschwächter Strukturen des Zentralstaates gewaltsame Sezessionsbestrebungen begünstigte.

Nicht-ethnischer Föderalismus als einzige demokratische Alternative

Demgegenüber können unitaristische Staatssysteme, die auf einem republikanischen Staatsbürgerverständnis basieren, die Entstehung zur Sezession tendierender Nationalitätenkonflikte leichter vermeiden.

Die „Bundesrepublik Deutschland“, die sich bekanntlich in der Kontinuität ihrer historisch gewachsenen Tradition für ein föderales System entschied, ist ein besonders aussagekräftiges Beispiel dafür. Der markanteste Unterschied gegenüber den zuvor erwähnten Ländern besteht darin, dass die bestehende föderative Struktur Deutschlands selbst nicht auf ethnischen Elementen basiert (wenngleich das Staatsbürgerverständnis in Deutschland bis heute stark von der Vorstellung ethnischer Homogenität geprägt ist). Mit anderen Worten: Bayern, Hessen oder andere Bundesländer, die letztlich alle „deutsch“ sind, würden kaum den Austritt aus dem Staatsgefüge anstreben.

In Belgien aber, wo sich immerhin die Zentrale der Europäischen Union befindet, steht der aus drei Regionen bestehende Staat an der Schwelle des Zerfalls, weil die ethnische Komponente in jüngster Zeit stärker in den Vordergrund rückte. Die Flamen versuchen, Schritt für Schritt sich von den Wallonen zu separieren und einen auf ihrer Ethnizität beruhenden, eigenen Staat zu gründen.

Die Streitigkeiten führten dazu, dass erst nach sechs Monate währenden Kontroversen eine fragile Regierungskoalition gebildet werden konnte. Die Flamen bezwecken auf Umwegen ihre vollständige Unabhängigkeit, indem sie einen „konföderalen Staat“ fordern.

In der Türkei hat nunmehr auch die PKK wohl endlich erkannt, dass unter den gegebenen Umständen die Gründung eines separaten kurdischen Staates mit den Mitteln des Terrors keine Chance hat. In letzter Zeit fordert die PKK, inklusive Abdullah Öcalans, keinen eigenständigen Kurdenstaat mehr, sondern „ein Staatsgebilde im Form einer Föderation von Türken und Kurden.“ Die PKK fordert, dass diese auf einer losen und jederzeit auflösbaren Konföderation von Türken und Kurden beruhende Staatsauffassung in die neue Verfassung aufgenommen werden müsste. Damit wird letztlich bezweckt, sich dieselbe verfassungsrechtliche Grundlage zu geben, die schon zum Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens führte. Auch kurdische und türkische Kreise, die der PKK nahe stehen, unterstützen bisweilen diese Forderung. Das Ziel, das mit diesem Vorschlag verfolgt wird, ist offensichtlich: der Verweis auf die türkischen und kurdischen Ethnien als eigenständige Bestandteile eines Föderativstaates „Türkei“, soll, sobald die konkreten Voraussetzungen dafür geschaffen worden sind, die Legalisierung des Austritts begründen. Dieses Ziel ist völlig klar und unmissverständlich.

Ein ethnisch separierter Föderativstaat hat in der Türkei keine Chance

Allerdings ist die Lage in der Türkei völlig anders als in der Sowjetunion und in Jugoslawien. Die unitaristische Staatsstruktur der Türkei, die unter türkischen Staatsbürgern rechtlich sowie in der praktischen Anwendung keine Unterscheidung nach der jeweiligen ethnischen Herkunft vornimmt, erweist sich als starkes Bindeglied zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen und verhindert eine ethnische Separierung. In der Türkei ist somit das Problem nicht die verfassungsrechtliche Stellung der kurdischen Bevölkerung, sondern die noch nicht gewährleistete, volle Gleichberechtigung in Bezug auf die Ausübung der kulturellen Rechte.

Bedingt durch die Binnenmigration ließ sich das kurdische Volk überall in der Türkei nieder und durch Millionen von Eheschließungen sind Türken, Kurden und andere Bevölkerungsgruppen eng miteinander verbunden. Heutzutage lebt mehr als die Hälfte der türkischen Staatsbürger kurdischer Herkunft außerhalb ihres einstigen, historischen Siedlungsgebiets, vor allem in der Westtürkei und in der Ägäis-Region.

Aus diesem Grunde sind alle längerfristigen Bestrebungen, das kurdische Volk zu separieren, zur Erfolglosigkeit verurteilt. Darin liegt auch der tiefere Grund, weshalb der schon 24 Jahre währende PKK-Terror sich nicht zu einem generellen Konflikt zwischen Türken und Kurden ausgeweitet hat. Ihr friedliches und nachbarschaftliches Zusammenleben ist trotz aller bestehenden Probleme eine demokratische Leistung, auf die die Türkei stolz sein kann.

Die Lösung der Kurdenfrage liegt in der unitaristischen Struktur

Die Türkei hat dennoch unbestritten ein Kurdenproblem. Die kulturelle Identität des kurdischen Volkes muss ohne Wenn und Aber anerkannt werden, ohne dass dabei Abstriche an der unitaristischen Staatsstruktur gemacht werden dürfen. Aus meiner Sicht spricht nicht das Geringste dagegen, dass in den Schulen Kurdisch als Muttersprache neben Türkisch als Staats- und Schulsprache gelehrt wird.

Sicherlich wäre die Voraussetzung dafür, dass in den jeweiligen Klassen genügend Schüler vorhanden sind, die Kurdisch als Muttersprache lernen wollen und Personal ausgebildet wird, welches diesen Unterricht erteilen kann. Zu diesem Zweck könnten in den Universitäten eigene Fachbereiche für kurdische Sprache und kurdische Literatur gegründet werden. Außerdem sind für die Pflege der kulturellen Identität der Kurdinnen und Kurden spezielle Rundfunk- und Fernsehsendungen in kurdischer Sprache sowie kurdischsprachige Printmedien erforderlich.

Die schnellstmögliche Verringerung des sozioökonomischen Entwicklungsgefälles zwischen den östlichen und westlichen Gebieten durch noch energischere Investitionsprogramme und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit insbesondere im Osten und Südosten der Türkei sind weitere, wirkungsvolle Maßnahmen gegen den menschenverachtenden PKK-Terror. Eine gewisse politische Dezentralisierung, die die Entscheidungsbefugnisse der Kommunen erweitert und ihre Verwaltungsarbeit verbessert, wäre zusätzlich sinnvoll.

Die Anerkennung und Durchsetzung der kulturellen Rechte des kurdischen Volkes und die nachholenden, sozioökonomischen Entwicklungsinvestitionen würden dem PKK-Terror den Boden entziehen und die demokratische Zivilgesellschaft in der Türkei spürbar stärken.

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