Deutschland hat sich im Bereich Integration der Eingewanderten Immigranten beachtlich weiterentwickelt

Prof. Dr. Hakkı Keskin                                                                                  5.1.2022

Politikwissenschaftler, Ehem. Abgeordneter des Bundestages und des Europarates, Ehrenvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland

Deutschland hat sich im Bereich Integration der Eingewanderten Immigranten beachtlich weiterentwickelt

Seit 1981 gehöre ich zu den Kritikern von Politikverständnissen der Regierenden in Deutschland im Bereich Integration, Gleichberechtigung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Noch bis vor wenigen Jahren wurde vor allem von den konservativen Politikerinnen und Politiker negiert, dass es sich in Deutschland durch Eingewanderten eine kulturelle Vielfalt entwickelt hat.  Vor allem die Unionsparteien lehnten in ihrer großen Mehrheit die Multikulturalität Deutschlands entschieden ab. Und dies, obwohl gut jede vierte Person im Laufe der Jahrzehnte einen Migrationshintergrund der Bevölkerung Deutschlands erreichte. Im Jahr 2020 hatten 21,9 Millionen der insgesamt 81,9 Millionen Einwohner in Deutschland einen Migrationshintergrund (Zugewanderte und ihre Nachkommen) – das entspricht einem Anteil von 26,7 Prozent an der Gesamtbevölkerung.1)

Noch bis vor einigen Jahren sahen wir im Fernsehen kaum Gesichte und Namen aus dem Bereich der Immigrierten Bevölkerung oder Ihr Nachkommen. Dies hat sich vor allem in den letzten Jahren im positiven beachtlich gewandelt. In fast allen Fernsehanstalten sind bereits Sprecherinnen und Sprecher, Programgestalterinnen und Gestalter aus dem Bereich der Eingewanderten oder ihre in Deutschland geborenen Nachkommen zu sehen. Und zwar aus vielen verschiedenen Ländern und auch in verschiedenen Hautfarben. Sie machen ihre Arbeit mit perfekten Deutschkenntnissen ohne Akzent hervorragend. Sie belegen die kulturelle Vielfalt und sind eine Bereicherung für Deutschland.

Viel früher haben sich Zehntausende Unternehmerinnen und Unternehmer überall in Deutschland erfolgreich etabliert. Die Zahl der Selbständigen mit Migrationshintergrund hat sich seit 2005 um ein Drittel erhöht – auf fast 800 000. Rund 2,3 Millionen Beschäftigte arbeiten inzwischen in Firmen von Menschen mit Einwanderergeschichte.2)

1993 war ich der zweite Landtagsabgeordnete in der Bürgerschaft von Hamburg und in Deutschland mit türkischer und ausländischer Herkunft. Dieses Ereignis fand damals deutschland- und weltweit eine große Beachtung, so dass selbst japanische und kanadische Fernsehanstalten mich hierzu interviewten. Auch in diesem politischen Bereich hat sich Deutschland im schnellen Tempo weiterentwickelt.

Von 736 Abgeordneten im neuen Bundestag haben 83 Abgeordnete einen Migrationshintergrund. Somit hat sich der Anteil der Abgeordneten mit Migrationshintergrund von 8,2 Prozent in der Bundestagswahl von 2017 auf 11,3 Prozent erhöht. Den höchsten Anteil mit 28,2 Prozent an Abgeordneten sind bei den Linken, 17 Prozent bei der SPD, 14,9 Prozent bei den Grünen, 8,7 Prozent bei der AfD, 5,4 Prozent bei der FDP und lediglich 4,6 Prozent bei der CD/CSU Fraktion.3) Cem Özdemir ist der erste Bundesminister und Aydan Özoğuz die erste Vizepräsidentin den deutschen Bundestages mit Migrationshintergrund.

In den Landtagen und bei den Stadtratsmitgliedern betrug der Anteil der Politikerinnen und Politiker mit Migrationshintergrund 2015 lediglich 4,5 Prozent. In Nordrhein-Westfalen haben nur drei Prozent der Abgeordneten einen Migrationshintergrund, im jüngst gewählten Landtag von Rheinland-Pfalz liegt der Anteil bei zwei Prozent, in Baden-Württemberg immerhin bei knapp zehn Prozent.

Auch im wissenschtlichen und künstlerischen Bereich haben zahlreiche weltweit anerkannte Persönlichkeiten auch einen Migrationshintergrund. Das aktuelle Beispiel hierzu ist die Entdecker des Medikaments Corona-Impfstoffes von dem Ehepaar Prof. Dr. Uğur Şahin und Dr. Özlem Türeci. Beide Mainzer Wissenschtler arbeiten seit Jahren über Krebsforschung und wollen das Krebs-Medikament bis 2022 entwickeln. Kemal Şahin, Sohn eines typischen „Gastarbeiters“ bei den Kölner Ford-Werken, kam als Vierjähriger nach Deutschland. Türecis Vater zog als Arzt nach Niedersachsen.

Die Eingewanderten sind eine Bereicherung für Deutschland

Die von vielen Jahrzehnte Eingewanderten der ersten und deren folgenden meist in Deutschland geborenen oder hier aufgewachsenen Generationen, sind längst ein fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft geworden. Deutschland ist längst Ihre neue Heimat oder auch gebürtige Heimat geworden.

Der Prozess bis zu dieser Erkenntnis dauerte insbesondere für konservative, aber auch für manche Politikerinnen und Politiker aus anderen politischen Parteien in Deutschland rund ein halbes Jahrhundert.

Wir sollten die sehr angenehm klingendes Wort „Gastarbeiter“ nicht vergessen. Dieser Begriff beinhaltete die politische Ziel Gabe; Gäste sind nur für kurze Aufenthalt oder eben befristet in Deutschland zu betrachten. Wenn sie nicht mehr gebraucht werden sollten, müssten sie auch das Land eben verlassen. So haben in wirtschaftliche Rezessionsjahre 1966-1969 und bei der Weltwirtschaftskrise von 1074-1975 viele Hunderttausende der sogenannten „Gastarbeiter“ Deutschland verlassen müssen.

Vergessen dürfen wir auch nicht der dauern verwendete Slogan von konservativen Politikerinnen und Politiker im Zusammenhang von Integrationspolitik: „Deutschland ist kein Einwanderungsland“.  Als wir zu Recht mahnten und betonten, dass Deutschland längst unumkehrbar ein Einwanderungsland und eine „Multi kulturelle Gesellschaft“ geworden ist und dies eine Bereicherung für Deutschland bedeutet, hatten wir dagegen heftige Widerstand von vielen Politikerinnen und Politiker.

Heute sprechen kaum mehr Politikerinnen und Politiker oder auch die Bevölkerung von Gastarbeitern. Selbst der Begriff Deutschland ist kein Einwanderungsland“ wird Angesicht der faktisch vollzogenen Entwicklung, von ernst zu nehmenden Menschen und Politikerinnen und Politiker kaum mehr verwendet.

Bundespräsident Steinmeier wird in der Tageschau am18.9.2021 mit seiner Feststellung zitiert: „Deutschland sei ein Land mit Migrationshintergrund, habe sich erst zu spät als Einwanderungsland begriffen.“

Anlässlich „60 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommens“ sagte Steinmeier: „In diesen Tagen jährt sich die Unterzeichnung des Anwerbeabkommens der Bundesrepublik Deutschland mit der Türkei zum sechzigsten Mal. Anfangs nur ein Stück Papier, eine Verabredung zweier Regierungen, die das Leben von Millionen Menschen, Türken und Deutschen, ja das Gesicht unseres Landes verändern sollte. Die Menschen, die damals kamen, diese sogenannten Gastarbeiter: Sie, ihre Kinder, Enkel und Großenkel sind heute Deutschland. Ein Deutschland ohne sie ist schlicht nicht mehr vorstellbar. Einwanderer und ihre Kinder und Enkel arbeiten heute in Fabriken genauso wie in Forschungseinrichtungen. Sie sind Künstlerinnen und Musiker, Unternehmerinnen und Impfstoffentwickler, Richterinnen und Staatsanwälte, Abgeordnete, Staatssekretärinnen oder Minister. (…) Jene Menschen, mit denen all das begann, jene Menschen, die vor sechzig Jahren nach Deutschland kamen, sie kamen, weil wir sie eingeladen haben. Weil wir sie brauchten. Ihnen verdankt dieses Land sehr viel. (…) Nicht nur das deutsche Wirtschaftswunder, nein – die Entwicklung dieser deutschen Gesellschaft war und ist maßgeblich mitgetragen von Italienern, von Griechen, von Spaniern und Türken.“ 4)

Auch die Rede der Ehem. Bundeskanzlerin Frau Merkel am 20. Februar 2020 zu den rassistischen Morden in Hanau mit den Worten:“ Rassismus ist ein Gift. Der Hass ist ein Gift. Dieses Gift existiert in unserer Gesellschaft, und es ist schuld an schon viel zu vielen Verbrechen – von den Untaten des NSU über den Mord an Walter Lübcke bis zu den Morden von Halle.“ 5) hat mich sehr beeindruckt. Wenn auch erst nach so vielen rassistischen und fremdenfeindlichen Ereignissen in Deutschland, ist diese klare Botschaft zu begrüßen.

Zu dieser Wahrnehmung haben viele Wissenschaftler und die Immigranten-organisationen einen ganz entscheidenden Beitrag geleistet. Mit hunderten wissenschaftlichen Publikationen und Stellungnahmen in den Medien haben hunderte, meist deutsche Wissenschaftler zu dieser Neuerkenntnis beigetragen. Denen gelten mein Dank und Anerkennung.

Entstehung der Türkische Gemeinde in Hamburg und in Deutschland

Den grundlegenden Beitrag zu dieser neuen Erkenntnis und politischen Wandeln haben sicherlich auch die Immigranten-Organisationen mit ihren Jahrzehnten kontinuierlichen Arbeit maßgeblich geleistet.

Bereits 1981 hatten wir unter dem Namen „Initiativkreis Gleichberechtigung Integration“ (IGI), nach einjähriger Arbeit von rund 30 Personen aus verschieden Tätigkeitsfeldern über zukünftige Entwicklung der Migrationspolitik in Deutschland konkrete Vorschläge in einer Broschüre veröffentlichet und in einer Pressekonferenz der Öffentlichkeit vorgelegt. Unsere zentralen Forderungen lauteten bereits vor 40 Jahren: Nach fünfjährigem rechtslastigem Aufenthalt in Deutschland und in Berlin-West sollten die Eingewanderten uneingeschränktes Arbeits- und Aufenthaltsrecht, das Recht auf politische Beteiligung auf kommunale Ebene und das Recht auf freie Gewerbeausübung erhalten. Der Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft sollte grundlegen erleichtert werde.

Als Reaktion gegen die Ermordung von Ramazan Avcı durch Neonazis in Hamburg am Weihnachtsabend 1985, haben wir mit Beteiligung von fast allen türkischen Vereinen in Hamburg das „Bündnis Türkischer Einwanderer“ am 4. März 1986, mit dem heutigen Namen „Die Türkische Gemeinde in Hamburg“ gegründet. Diesem Beispiel Hamburgs, nämlich pluralistische, überparteiliche Landeorganisationen zu gründen, folgten in anderen Bundesländern die Gründung ähnliche Landes-Organisationen. Zehn Jahre später war es dann eine dringliche Aufgabe, auch einen bundesweit agierenden Dachverband der Deutschlandtürken zu gründen. Der Entstehung der „Türkischen Gemeinde in Deutschland“ am 2.Dezember 1995 in Hamburg, haben die deutschen und türkischen Medien und die Öffentlichkeit große Beachtung geschenkt.

Als Interessenvertretung der Deutschlandtürken umfasst die TGD bundesweit rund 220 Mitgliedsvereine. Die beharrliche und kontinuierliche Arbeit seit 1981, mit hunderten Presseerklärungen, Veröffentlichungen, Stellungnahmen in den deutschen und türkischen Medien, dutzenden Gesprächen mit Vertreterinnen und Vertretern der politischen Parteien, Kirchen und Gewerkschaften zahlrechen Protestaktionen und Demonstrationen haben mit Sicherheit entschieden dazu beigetragen, dass sich die politische Haltung auch der konservativen Kreise in Deutschland Schritt für Schritt geändert hat.

1)Statistisches Bundesamt: Mikrozensus – Bevölkerung mit Migrationshintergrund, 1.11,2021.
2) Süddeutsche Zeitung, 15.Januar 2021

3) Mediendienst Integration, 29.9.2021.

4) Rede des Bundespräsidenten, 60 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen, 10.9.2021.

5) Archiv-Mediathek, Rede Bundeskanzlerin Merkel am 20.2.2020.