Das türkische Volk hat sich in einer demokratischen und freien Wahl für eine politische Er-neuerung und möglicherweise für einen Neubeginn entschieden.
Alle fünf bisher im Parlament vertretenen Parteien werden nicht mehr in der Nationalversammlung der Republik Türkei vertreten sein. Nach 17 Jahren wird erstmalig eine Partei ohne Koalition das Land regieren können. Die Sozialdemokraten sind die alleinige Opposition im Parlament. Die Türkische Gemeinde in Deutschland tritt uneingeschränkt für den EU-Beitritt der Türkei ein. Für uns ist Europa ein globales Modell einer offenen und multikulturellen Gesellschaft. Europa überwindet dadurch Kulturgrenzen. Die Türkei ist das einzige Land mit einem laizistischen Staat und einer islamischen Mehrheitsbevölkerung, die das westliche Lebens- und Zivilisationsmodell favorisiert. Trotz der gegenwärtigen Defizite, die der Türkei vorgehalten werden, ist zu beachten, dass die westlichen Werte in der Türkei verfassungsmäßig verankert sind und auch gesellschaftlich aus-reichende und zunehmende Anwendung finden. Kein anderer EU-Kandidat unter-nimmt derartig große Bemühungen wie die Türkei, die eigene Kulturgrenze zu über-winden, um ein Teil Europas zu sein. Der AKP-Vorsitzende Tayyip Erdoğan hat sich sofort nach Verkündung des Wahler-gebnisses unmissverständlich für die konsequente Fortführung der Bemühungen um einen EU-Beitritt geäußert. Die TGD begrüßt dies und geht davon aus, dass dieser Weg auch von der AKP-Regierung uneingeschränkt fortgeführt wird. Der Wahlerfolg und die eindeutige EU-Orientierung der AKP widerlegt das Argu-ment, dass nur die Eliten der Türkei die EU-Mitgliedschaft favorisieren. Die AKP tritt deshalb uneingeschränkt für den EU-Beitritt der Türkei ein, weil die übergroße Mehr-heit der türkischen Gesellschaft sich mit Europa verbunden fühlt. Wer sich wegen eines demokratischen Wahlerfolges der AKP gegen eine konkrete EU-Beitrittsperspektive der Türkei ausspricht, zeigt dem friedlichen Zusammenleben is-lamischer und westlicher Gesellschaften die rote Karte. Die Türkei will weiterhin als laizistischer Staat einem säkularen Europa beitreten. Die Wahl-entscheidung des Volkes ist eine neue Chance, mit neuen Personen und Koalitionen den Weg für eine Neuordnung der politischen Landschaft innerhalb und außerhalb des Parla-ments freizumachen und den Weg in die EU fortzuführen. Die vor einem Jahr gegründete ‚Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung‘ Erdoğans ver-dient trotz aller Skepsis und Zurückhaltung eine faire Chance, um zeigen zu können, in wie-weit sie ihre Versprechen wahr machen will und kann, nämlich
•die Türkei aus der Wirtschaftskrise zu führen,
•soziale Gerechtigkeit für das Volk zu ermöglichen,
•die volle EU-Mitgliedschaft des Landes konsequent zu verfolgen und dabei
•an dem von der Verfassung vorgegebenen Weg der Türkei zu einem ‚demokrati-schen, sozialen und laizistischen Rechtsstaat‘ unbeirrt festzuhalten.
Von der Bundesregierung und den Repräsentanten der EU erwarten die Deutschlandtürken, die neue Regierung der Türkei in einem konstruktiven Dialog zu weiteren Reformen zu er-mutigen und dadurch in die Strukturen der EU einzubinden. Der überzeugendste Schritt hierzu wäre, auf dem Gipfeltreffen am 13. Dezember dieses Jahres der Türkei ohne weitere Verzögerung eine klare EU-Perspektive und einen Termin für den Beginn von Beitrittsver-handlungen zu geben.
Prof. Dr. Hakkı Keskin