Europäische Nachbarschaftspolitik zur Förderung von Frieden und Stabilität im Südkaukasus nutzen

Antrag der Abgeordneten Dr. Hakki Keskin, Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Lothar Bisky, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, Heike Hänsel, Inge Höger, Dr. Barbara Höll, Michael Leutert, Dr. Norman Paech, Bodo Ramelow, Paul Schäfer (Köln), Alexander Ulrich und der Fraktion DIE LINKE.

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Südkaukasusregion hat den Transformationsprozess nach dem Ende der UdSSR bis heute nicht bewältigt. Die drei unabhängigen südkaukasischen Republiken Georgien, Armenien und Aserbaidschan leiden in unterschiedlichem Ausmaß unter innenpolitischer Instabilität, Kor-ruption, wirtschaftlicher Not, Flüchtlingselend, tiefen Nationalitätengegensätzen und zwi-schenstaatlichen Konflikten. Auf ökonomischem Gebiet erzielen Aserbaidschan und Georgien mit der Förderung, Durchleitung und dem Verkauf von Erdöl und Erdgas große Gewinne. Armenien bemüht sich, als Wissenschaftsstandort an Profil zu gewinnen. Bislang profitieren lediglich ausländische Großkonzerne und die jeweiligen Eliten von der Wirtschaftsentwick-lung, während die Lebensbedingungen der Bevölkerungsmehrheit oftmals durch Arbeitslo-sigkeit und Armut geprägt sind. Die große soziale Kluft erhöht die politische Instabilität, die durch die geostrategische Einflussnahme Russlands, der USA und der Europäischen Union (EU) maßgeblich beeinflusst wird. Die Forderungen der EU nach wirtschaftlichem Umbau im neoliberalen Sinn haben in allen drei südkaukasischen Republiken die bestehende soziale Spaltung weiter vertieft.

Derzeit stoßen im Kaukasus zwei gegensätzliche Achsen machtpolitischer und wirtschaftli-cher Interessen aufeinander. Während sich Armenien in einer Nord-Süd-Achse an Russland und den Iran anlehnt, haben sich Georgien und Aserbaidschan den globalen strategischen An-sprüchen der USA untergeordnet, sind eine intensive Wirtschaftskooperation mit der Türkei eingegangen und Teil einer West-Ost-Achse. Die Entwicklung und Festigkeit der beiden Ach-sen ist allerdings nicht vorbestimmt, da ihre Bildung pragmatischen Einflüssen unterliegt. Der Südkaukasus ist als wichtige Transitregion für kaspische und zentralasiatische Erdöl- und Erdgaslieferungen vor allem für die USA, aber in wachsendem Maße auch für die EU von strategischem Interesse. Die USA betreiben seit dem Zerfall der Sowjetunion eine offensive Zurückdrängung des russischen Einflusses in der Region, um die Kontrolle über die Rohstoff-ressourcen und Transportrouten zu erlangen. Die zunehmende Einmischung der USA destabi-lisiert die Südgrenze Russlands und erhöht die Gefahr, dass der Südkaukasusraum zum Aus-tragungsfeld einer geopolitischen Konfrontation zwischen beiden Großmächten wird.

Die EU ist in den letzten Jahren verstärkt als Akteurin in der Südkaukasusregion aufgetreten. Seit dem Jahr 2004 sind die drei Südkaukasusrepubliken im Rahmen von Aktionsplänen in die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) eingebunden. Durch die falsche Grundausrich-tung der ENP trägt die EU zu einer Zuspitzung der Interessenauseinandersetzungen in der Region bei. Die ENP zielt vorrangig darauf ab, die binneneuropäische Freihandelszone auf den Südkaukasusraum auszudehnen. Die von der EU faktisch erzwungene Öffnung der natio-nalen Märkte hat die soziale Lage der Bevölkerung in Armenien, Aserbaidschan und Geor-gien jedoch nicht zum Besseren gewendet, sondern spürbar verschlechtert. In Georgien lebt inzwischen über die Hälfte der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Der von der EU konditionierte Standortwettbewerb verhindert den Aufbau armutsfester Sozialstandards. Die Südkaukasusregion läuft somit Gefahr, auf die geostrategische Rolle einer reinen Nachschub-basis für fossile Energieressourcen zugunsten Europas reduziert zu werden.

Die Ausrichtung der ENP ist daher grundlegend zu verändern. Die Aufgabe einer veränderten Nachbarschaftspolitik muss darin bestehen, die eigenständige Entwicklung und den Ausbau sozialer Standards in den Südkaukasusstaaten nachhaltig zu unterstützen. Dies bedeutet: Nicht mehr Liberalisierung, sondern mehr gesellschaftliches Eigentum und mehr demokratische Kontrolle über die Verwendung der Ressourcen und Gewinne sind notwendig.

Die EU muss den Südkaukasusstaaten Exporterleichterungen für ihre überwiegend agrari-schen Produkte gewähren und gezielte entwicklungspolitische Maßnahmen vereinbaren. Dazu gehört der Aufbau bzw. die Wiederinstandsetzung einer Agrarprodukte verarbeitenden Indust-rie und einer diversifizierten Konsum- und Investitionsgüterindustrie. Als unmittelbar angren-zender Nachbarschaftsraum der erweiterten Europäischen Union könnten die Staaten der Südkaukasusregion eine wichtige Brückenfunktion für den politischen Dialog und die inter-kontinentale Zusammenarbeit wahrnehmen, wenn die Region nicht mehr der fremdbestimm-ten Einflussnahme durch äußere Großmächte unterworfen ist.

Die im EU-Reformvertrag von Lissabon 2007 bestätigte Militarisierung der EU-Außenbeziehungen steht im Widerspruch zu dem Ziel, Frieden und Stabilität in anderen Re-gionen zu fördern. Eine Ausdehnung des NATO-Einflusses in die Südkaukasusstaaten berührt daher auch unterhalb einer formellen Beitrittsschwelle die legitimen Sicherheitsinteressen Russlands. Die Errichtung von US-amerikanischen Militärbasen oder NATO-Stützpunkten in einzelnen Südkaukasusstaaten würde die prekäre Stabilitätslage in der Region zusätzlich ver-schärfen. Die Förderung von Frieden und Stabilität in der Südkaukasusregion verlangt eine umfassende Abrüstung auf allen Seiten, die humanitäre und zivilpolitische Lösung der Regio-nalkonflikte sowie nachhaltige Entwicklungschancen in den Südkaukasusstaaten.

Die aus der machtpolitischen Konfrontation zwischen Russland und den USA/der EU resul-tierende, regionale Blockbildung erschwert die friedliche Beilegung der Nationalitätenkon-flikte. Anfang der 90er Jahre haben gewaltsame Staatsgründungsbestrebungen entlang ethni-scher Grenzen im Südkaukasus zu Hunderttausenden Kriegsflüchtlingen und Binnenvertrie-benen geführt. Im von Georgien abtrünnigen Abchasien wird die Rückkehr von über 300 000 Georgierinnen und Georgier in ihre abchasischen Heimatorte verhindert. Die anhaltende Be-setzung von ca. 20 Prozent des Staatsgebiets der Republik Aserbaidschan durch die Nachbar-republik Armenien und die separatistischen Truppen der international nicht anerkannten ‚Re-publik Berg-Karabach‘ hat über eine Million aserbaidschanischer Zivilistinnen und Zivilisten zu Flüchtlingen und Binnenvertriebenen im eigenen Land gemacht. Aserbaidschan hat seither erhebliche Anstrengungen unternommen, um Hunderttausende Binnenflüchtlinge in festen Wohnunterkünften unterzubringen. Diese Anstrengungen müssen intensiviert werden, um auch den übrigen, unter miserablen Bedingungen in primitiven Zeltlagern lebenden Flüchtlin-gen, eine Perspektive zu geben. Das Recht aller aserbaidschanischen Flüchtlinge auf Rück-kehr in ihre Herkunftsregionen muss davon unberührt bleiben. Armenien musste ebenfalls unter enormen Schwierigkeiten über 350 000 Kriegsflüchtlinge aufnehmen. Die massive Ab-wanderung gut ausgebildeter Fachkräfte erschwert den Wiederaufbau des noch immer unter den Spätfolgen des verheerenden Erdbebens von 1988 leidenden Landes zusätzlich.

Die Lösung der ‚eingefrorenen‘ Konflikte verlangt von allen Beteiligten die Achtung der in-ternational anerkannten Staatsgrenzen. Nur gewaltfreie Lösungen unter Einbeziehung aller Konfliktparteien und ihrer legitimen, völkerrechtlich begründeten Interessen kann zu einem dauerhaften und gerechten Frieden führen. Hierfür müssen die Vermittlungsanstrengungen intensiviert und unter dem Dach der OSZE vereint werden. Eine unilaterale Anerkennung der bestehenden territorialen Sezessionsgebilde würde dagegen gefährliche Präzedenzfälle für weitere ethnisch-separatistische Bestrebungen, insbesondere im angrenzenden Nordkaukasus und weiteren Regionen Russlands, im Irak, auf dem Balkan und anderswo, schaffen.

Trotz der deklarierten Schwerpunktsetzung hat die Bundesregierung gerade während ihrer EU-Ratspräsidentschaft nur unzureichend auf die Förderung von Frieden und Stabilität im Südkaukasus hingewirkt.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf:

I. Zur Förderung von Frieden und Stabilität im Südkaukasus auf eine grundlegende Verände-rung der EU-Nachbarschaftspolitik hinzuwirken und Maßnahmen zum Rüstungsabbau und zur Entmilitarisierung zu unterstützen:

1. sich auf EU-Ebene dafür einzusetzen, die ENP dahingehend zu verändern, dass die EU-Entwicklungsprogramme nicht von einer Adaptierung des neoliberalen Wirtschaftsmodells abhängig gemacht werden und nicht die Souveränitätsrechte der Empfängerländer hinsichtlich der freien Wahl der Wirtschafts- und Eigentumsordnung einschränken, um den Aufbau eines öffentlichen Sektors im Bereich der Daseinsvorsorge nicht auszuschließen; Prioritäten einer veränderten Nachbarschaftspolitik im Südkaukasus müssen sein: Armutsbekämpfung, sozialer Ausgleich, fairer Handel, Stärkung der demokratische Entwicklung und der sozialen Demo-kratie sowie der demokratischen Mitspracherechte in der Wirtschaft;

2. sich auf EU-Ebene dafür einzusetzen, dass der EU-Binnenmarkt auch stärker für andere Exportprodukte als Erdöl und Erdgas -d. h. vor allem für agrarische und industrielle Produkte- aus dieser Region geöffnet wird;

3. dazu beizutragen, die regionale Blockbildung schrittweise aufzulösen und die Vernetzung aller Staaten der Region zu einem gemeinsamen südkaukasischen Wirtschaftsraum mit gleichberechtigten Partnern zu fördern; die bisher eher bescheidene deutsche Kaukasus-Initiative in diesem Sinne weiterzuentwickeln;

4. sich auf EU-Ebene für eine bedarfsgerechte Anpassung der im Nationalen Richtprogramm 2007 bis 2010 zur Armutsbekämpfung in Georgien vorgesehenen EU-Finanzmittel einzuset-zen;

5. den weiteren Export von Rüstungsgütern der Ausfuhrliste Teil 1 A und von Kriegswaffen der Kriegswaffenliste B in die Südkaukasusstaaten nicht zu genehmigen und die Entsendung von EU-Truppen abzulehnen; im Rahmen der OSZE eine umfassende Abrüstungsinitiative für die Region zu erarbeiten, die die Vereinbarung einschließt, die eigenen Territorien nicht für Angriffe von Drittmächten auf die Nachbarländer zur Verfügung zu stellen, wie dies die An-rainerstaaten des Kaspischen Meeres jüngst vereinbart haben;

6. sich in den Verhandlungen zur Lösung der Regionalkonflikte im Südkaukasus für das un-eingeschränkte Rückkehrrecht aller Kriegsflüchtlinge und Binnenvertriebenen einzusetzen;

7. sich auf EU-Ebene dafür einzusetzen, dass die Südkaukasusstaaten im Bedarfsfall finan-zielle und personelle Unterstützung bei der medizinischen Langzeitbetreuung kriegstraumati-sierter Flüchtlinge erhalten;

II. Bei den Bemühungen um die Beilegung der ‚frozen conflicts‘ (Abchasien, Südossetien und Berg Karabach) prinzipiell von der Achtung der international anerkannten Staatsgrenzen aus-zugehen:

1. nur gewaltfreie Lösungen unter Einbeziehung aller Konfliktparteien anzustreben,

2. sich bei den Bemühungen um eine Beilegung der Regionalkonflikte in Abchasien und Süd-ossetien für die Erhaltung der vollen territorialen Integrität Georgiens und für die kulturelle und politische Autonomie der abchasischen und südossetischen Minderheiten innerhalb der völkerrechtlich anerkannten Staatsgrenzen Georgiens auszusprechen;

3. die guten Beziehungen Deutschlands zu Tbilissi und Moskau intensiv zu nutzen, um zur Entspannung der georgisch-russischen Beziehungen beizutragen;

4. sich in den Verhandlungen der OSZE Minsk-Gruppe für die Wiederherstellung der vollen territorialen Integrität der Republik Aserbaidschan und für die kulturelle und politische Auto-nomie der armenischen Minderheit innerhalb der völkerrechtlich anerkannten Staatsgrenzen Aserbaidschans auszusprechen, als alternative Verhandlungsoption einvernehmliche, gegen-seitige Gebietsaustausche (Goble-Plan) nicht auszuschließen; zur Verbesserung der Vermitt-lungschancen im Berg-Karabach-Konflikt aktiv in der OSZE Minsk-Gruppe mitzuarbeiten;

5. sich mit Nachdruck für die vollständige Erfüllung der Resolutionen des UN-Sicherheitsrats Nr. 822, 853, 874 und 884 aus dem Jahr 1993 durch Armenien und Aserbaidschan einzuset-zen;

III. Eine Politik der kleinen Schritte und menschlichen Erleichterungen zur Konfliktlösung zu nutzen und mit dazu beizutragen, die gestörten zwischenstaatlichen Beziehungen zu verbes-sern:

1. die abgetrennten Gebiete für Besuche der ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohner zu öffnen und familiäre Kontakte nicht zu behindern;

2. im Rahmen der EU und der OSZE darauf hinzuwirken, dass den Regierungen der Republi-ken Armenien und Aserbaidschan als vertrauensbildende Maßnahme der Vorschlag einer Vereinbarung über den Erhalt historischer armenischer und aserbaidschanischer Kulturgüter und Denkmäler auf dem Territorium des jeweiligen Nachbarn unterbreitet wird;

3. die Einberufung von armenisch-aserbaidschanischen Versöhnungskommissionen vorzu-schlagen, um die gesellschaftliche Verarbeitung des individuell erlebten Konfliktgeschehens zu unterstützen;

4. auf Ebene der deutsch-armenischen Beziehungen den Vorschlag zu unterbreiten, den beim Erdbeben 1988 stark beschädigten und weiterhin erdbebengefährdeten Atomreaktor Metza-mor schnellstmöglich abzuschalten und sich auf EU-Ebene dafür einzusetzen, dass der Repu-blik Armenien die diesbezüglich notwendigen, finanziellen und technologischen Mittel zur Kompensation und Diversifizierung ihrer Stromerzeugungsquellen gewährt werden;

5. die Regierungen der Türkei und Armeniens mit Nachdruck zu ermutigen, ihre Beziehungen zu normalisieren und zu diesem Zweck die symbolisch wichtige Eröffnung eines ersten, regu-lären Grenzübergangs zwischen beiden Ländern vorzuschlagen.

Berlin, den 3. März 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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