Meine Kandidatur als Abgeordneter der SPD für die Bürgerschaft in Hamburg vor vier Jahren fand eine sehr breite Aufmerksamkeit bei den in- und ausländischen Medien und bei der Öffentlichkeit, von japanischen Nachrichtenagenturen bis hin zur 'Financial Times'.
Fast alle überregionalen und erst recht die Hamburger Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk – und Fernsehanstalten befaßten sich in Sonderberichten mit dieser ersten Kandidatur eines Deutsch-Türken für ein Landesparlament in Deutschland.
Eine Frage, die mir zu Beginn meiner Abgeordnetentätigkeit von vielen Journalisten wiederholt gestellt worden war, ist mir immer in frischer Erinnerung geblieben. ‚Glauben Sie nicht, daß die SPD sie als Aushängeschild benutzen will?‘, lautete die-se Frage. Meine aus tiefen Überzeugung gegebene Antwort war: ‚Ich glaube das nicht. Meine Partei will nach den Ereignissen in Mölln und Solingen ein deutliches Signal setzen für eine neue Ausländerpolitik in Deutschland.‘ Bereits Anfang dieses Jahres war für mich klar, nicht mehr für die Bürgerschaft zu kandidieren. Immer wieder bin ich von Journalisten zu meinen Absichten befragt worden.
Zu den Gründen, weshalb ich nicht mehr kandidieren wollte, möchte ich aber erst jetzt Stellung nehmen. Jetzt ist es an der Zeit, nach vierjähriger Erfahrung als erster nicht ‚deutschstämmiger‘ Abgeordneter eine Bilanz zu ziehen. Diesen Zeitpunkt nach den Wahlen habe ich bewußt gewählt, damit mir niemand aus meiner Partei den Vorwurf machen kann, ich hätte mit meiner Kritik an der Politik des Senats, der SPD-Fraktion und an den verkrusteten Machtstrukturen kurz vor den Wahlen der SPD geschadet.
Mit dieser offenen Kritik hoffe ich, nicht nur der SPD, sondern auch der Politik und der politischen Kultur in Hamburg und Deutschland einen dringend notwendigen Dienst zu erweisen. Eine konstruktive Kritik, die aus Gründen falschverstandener ‚Solidarität‘ oder gar ‚Loyalität‘ mit der Partei, und nicht selten auch aus Gründen der eigenen Karriere vermieden wird, führt zunehmend zu einer Lähmung der Parteidynamik, zu einem erheblichen Verlust an Glaubwürdigkeit der Partei und der Politik überhaupt und so-mit zur Politikverdrossenheit bei vielen, darunter besonders bei den jungen Men-schen.
Für einen ‚Vorzeigetürken und -ausländer‘ bin ich der falsche Mann
Bei meiner Vorstellung auf dem Landesvorstand und meiner Kandidatur auf dem außerordentlichen Parteitag der SPD-Hamburg am 27.6.1993 hatte ich unmiß-verständlich zum Ausdruck gebracht, welche Ziele ich mit meiner Tätigkeit als Abge-ordneter verbinde. ‚Die Sozialdemokraten in aller Welt und in Deutschland haben sich in ihrer Geschichte immer für die Benachteiligten in der Gesellschaft stark ge-macht. (…) Gleiche Rechte für alle, soziale Gerechtigkeit und Solidarität, das sind für mich nach wie vor die wesentlichen Ziele der Sozialdemokratie, für die wir unbeirrt eintreten müssen. Ich habe mir fest vorgenommen, für diese Ziele konsequent zu arbeiten, wenn ich gewählt werde. (…).
Wir brauchen ein Konzept für eine Gesellschaft, in der es keine Diskriminierung, kei-ne Ausgrenzung gibt, in der Vorurteile und Ängste Schritt für Schritt abgebaut wer-den, in der Dialog und Toleranz zu unseren Grundmaximen gehören, in der für Ras-sismus, Antisemitismus und Gewalt in den Köpfen unserer Kinder und der jungen Erwachsenen kein Platz sein darf. Menschen unterschiedlicher Kulturen gehören zur Vielfalt unserer schönen Stadt Hamburg. Diese Realität sollten wir als Chance für ein neues Verständnis beim Zusammenleben der Deutschen und der Nichtdeutschen nutzen. Wir sollten eine multikulturelle Gesellschaft und interkulturelle Erziehung als Bereicherung unserer politischen Kultur und als Konzept für mehr Toleranz und ge-gen Rassismus, Antisemitismus und gegen Gewalt entwickeln und mit Inhalten füllen.
Ich möchte versuchen, als eine Art Brücke zwischen den Kulturen und zwischen der Bürgerschaft und den Einwanderern zu fungieren. Ich trete für meine Partei als Bür-gerschaftskandidat gern an, weil ich dies für ein historisches Signal auch über die Grenzen Hamburgs hinaus halte. (…) Für einen Vorzeige-Türken oder -ausländer bin ich der falsche Mann. Ich bin davon überzeugt, daß die SPD mit dieser Kandidatur inhaltlich etwas bewirken will. Für die oben genannten Inhalte werde ich ein ent-schiedener Kämpfer sein.‘
In zahlreichen Interviews mit den Medien habe ich nach meiner Wahl zum Kandidaten für die SPD-Fraktion ebenfalls wiederholt unterstrichen, wie die Politik, die seit Jahren auf den Parteitagen der SPD beschlossen worden ist, zum Wohle der Ausländer umzusetzen wäre.
Die Beschlüsse werden nicht umgesetzt
Als Mitglied des Sozialausschusses und als Vorsitzender des ‚Unterausschusses Ausländerpolitik‘ habe ich gemäß den proklamierten Zielen und den Partei-tagsbschlüssen der SPD ein Gesamtpaket ausgearbeitet und dem Arbeitskreis Soziales vorgelegt. Nach langen Diskussionen, teilweise auch mit den jeweils zuständigen Senatoren, Staatsräten und Amtsleitern im Arbeitskreis Soziales der SPD, ha-ben wir ein Gesamtkonzept verabschiedet. Der Fraktionsvorstand der Partei wollte dieses Paket nicht in die Bürgerschaft eingebracht wissen, sondern lediglich zur Kenntnisnahme an den Senat weiterleiten. Und dies in einer fast bis zur Unkenntlichkeit überarbeiteten Form. Als ich manche Äußerungen zu unserem Paket im Parteivorstand mit anhörte, wurde mir deutlich, wie wenig manche der einflußreichen Mitglieder des Fraktionsvorstandes bereit waren, in der Ausländerpolitik etwas zu be-wegen. Dank massiven Widerstands seitens des Arbeitskreises Soziales konnten wir immerhin durchsetzen, daß dieses Paket als Petitum in der Bürgerschaft beschlossen werden sollte.
Durch Umformulierungen wurde jedoch an vielen Stellen der Senat aufgefordert, lediglich ‚zu prüfen‘ anstatt zu handeln, wie dies vom Arbeitskreis zunächst formuliert und gewollt war. Zuvor hatte ich mich mit Datum vom 14.2.95 in einem Appell an alle Funktionsträger der Partei gewandt und mich in diesem Papier kritisch mit der Politik der SPD wie auch mit den Arbeitsstrukturen in der Fraktion auseinandergesetzt. Am Beispiel der Ausländerpolitik versuchte ich darzulegen, welche Maßnahmen zur Erhaltung der Glaubwürdigkeit der Partei dringend erforderlich wären. Nach entsprechenden Erörterungen und Beschlüssen im Sozialausschuß wurde ein zehn Punkte umfassendes Petitum in der Bürgerschaft beschlossen (Drucksache 15/3448, vom 19.6.1995).
Hierin wird der Senat aufgefordert, weitere konkret genannte Maßnahmen zur Ver-besserung der Situation der ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger in folgen-den Lebensbereichen zu ergreifen oder deren Umsetzung zu prüfen:
1.Arbeit und Berufsausbildung. Unter anderem wir hier der Senat ersucht, das in der Regierungserklärung vom 15. Dezember 1993 angekündigte Antidiskriminie-rungsgesetz in die Bürgerschaft einzubringen und durch geeignete Initiativen auf einen erleichterten Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Ausbildungsplätzen für die hier rechtmäßig lebenden Ausländer hinzuwirken.
2.Schulen. Hier sollte vor allem das Erlernen der Muttersprache gefördert und Schulkonzepte, Lehrmaterialien, Bücher, Lehrdidaktik und -methoden mit dem Ziel einer toleranten, dialogfähigen und interkulturellen Erziehung überarbeitet werden.
3.Bundespolitische Rahmenbedingungen. Hierbei sollte sich der Senat insbe-sondere für eine Erneuerung des Staatsangehörigkeitsrechts sowie für Verbesse-rungen bei der Novellierung des Ausländergesetzes im Bundesrat stark machen.
4.Ausländerbehörde und Ämter. Hierbei sollte unter anderem die Dezentralisie-rung der Ausländerbehörde, d.h. die Verlagerung der Paß- und Aufenthaltser-laubnisfragen an die Bezirks- und Ortsämter für diejenigen Ausländer, die eine Aufenthaltserlaubnis besitzen, geprüft werden. Die Ermessensspielräume sollten zugunsten der Antragsteller genutzt, die Mitarbeiter besser qualifiziert und die Bearbeitung der Einbürgerungsanträge beschleunigt werden.
5.Frauen. Die frauenspezifische Ausländerarbeit, besondere Frauenprojekte sowie insbesondere die berufliche Qualifikation ausländischer Frauen sollte gefördert werden.
6.Fremdenfeindlichkeit. Hier sollte mit Hilfe des angekündigten Antidiskriminie-rungsgesetzes und durch Öffentlichkeitsarbeit in Zusammenarbeit mit dem Aus-länderbeauftragten und den Behörden allen Formen von Diskriminierung, Frem-denfeindlichkeit und Rassismus entgegengewirkt werden.
7.Religion. Hier sollte eine Verbesserung des Religionsunterrichts für nichtchristli-che Religionen geprüft werden, um auch den fundamentalistischen Strömungen den Boden zu entziehen.
8.Wohnen. Den Schwierigkeiten der ausländischen Bevölkerung, auf dem freien Wohnungsmarkt bezahlbaren Wohnraum zu finden, sollten durch sozialen Woh-nungsbau und eine geänderte Vergabepraxis entgegengewirkt werden.
9.Alte Menschen. Es sollten neue Hilfskonzepte für alte Migrantinnen und Migran-ten erarbeitet und entsprechende Maßnahmen ergriffen werden.
10.Leitlinien. Eine ständige Weiterentwicklung der Leitlinien der hamburgischen Ausländerpolitik ‚im Interesse eines gutnachbarschaftlichen Miteinanders und des sozialen Friedens‘ sollte fortgeschrieben und der Bürgerschaft regelmäßig Bericht erstattet werden.
Die Glaubwürdigkeit und die Politik
Die Verabschiedung eines ‚Antidiskriminierungsgesetzes‘ für Hamburg hatte für mich eine sehr große Priorität, da dies für andere Bundesländer und für die Bundes-regierung hätte beispielgebend sein können. Dies stand sowohl in der Kooperations-vereinbarung zwischen der SPD und der Statt-Partei als auch in der Regierungser-klärung. Nach einer Analyse, wie ein derartiges Gesetz in benachbarten Ländern formuliert sei, habe ich den Funktionsträgern des Senats, der Fraktion, der Partei und dem Arbeitskreis Soziales meine Vorstellungen, was ein solches Gesetz bein-halten und welche Bereiche es abdecken sollte, am 7.2.1995 schriftlich vorgelegt. Ein solches Gesetz sollte beinhalten: Abbau gesetzlicher Diskriminierung, Benachteiligungsverbote, Maßnahmen im öffentlichen Dienst und in der privaten Arbeitswelt, Maßnamen im Bereich der Schule, strafrechtliche Sanktionen gegen Diskriminierun-gen sowie die Errichtung einer Beschwerdestelle.
Am 26.6.1996 habe ich meine Vorschläge mit einem Brief an die zuständigen Sena-toren und an den Gruppensprecher der Statt-Partei gesandt und gebeten, nunmehr den Gesetzentwurf in die Bürgerschaft einzubringen, da die Legislaturperiode zu Ende gehe. Am 18. Juli antwortete der Senator der Justiz, daß er sich nicht sicher sei, ‚ob seitens der SPD-Fraktion ein Antidiskriminierungsgesetz gewünscht werde.‘
Daraufhin habe ich am 6.11.1996 an die Abgeordneten der SPD-Fraktion und die Mitglieder des Senats wegen des Antidiskriminierungsgesetzes geschrieben und es zum Thema der aktuellen Stunde der Fraktionssitzung der SPD am 18.11.1996 ge-macht. In dieser Fraktionssitzung habe ich an unsere Kooperationsvereinbarung so-wie die Regierungserklärung bezüglich eines Antidiskriminierungsgesetzes und an unser ‚Zehn-Punkte-Petitum‘ durch die Bürgerschaft erinnert.
Keine der oben genannten Maßnahmen wurde in der vergangenen Legislaturperiode in die Tat umgesetzt. Als Abgeordneter muß ich mich fragen, welche Ziele und Auf-gaben ich mir vorgenommen habe, welche davon realisiert werden konnten, welche nicht und weshalb nicht? Die Wähler werden uns zu Recht fragen, was die SPD ver-sprochen und was sie davon eingelöst hat. Wie soll nun unsere Antwort lauten? Bei dem Vorhaben der Dezentralisierung der Ausländerbehörde wurde gesagt, es fehle das Geld. Bei dem Antidiskriminierungsgesetz lautete die Begründung, daß dies ‚aus grundsätzlichen Erwägungen sowie aufgrund der derzeit fehlenden Umsetzungschancen auf Bundesebene‘ unterbleiben müsse. Weshalb aber, so muß man fragen, kommt der Senat erst dann zu derartigen Erkenntnissen, wenn es an die konkrete Umsetzung geht? Hätte er dies nicht auch bereits während der Kooperationsver-handlungen mit der Statt-Partei erkennen können, ja müssen? Ich habe erläutert, daß unsere Glaubwürdigkeit auf diese Weise Schaden nimmt. Diese Art Politik hat auch mit den Arbeitsstrukturen in der Fraktion zu tun, die ich ebenfalls bei dieser Sitzung zur Sprache brachte. ‚Ich bin mit der Art und Weise, wie wir Politik machen und gestalten, nicht zufrieden. Ich hatte geglaubt, daß unsere Fraktion die Abgeordneten nach ihrem Fach- und Sachwissen mit größeren Kompe-tenzen in die Fraktionsarbeit einbinden würde. Das würde bedeuten, daß unser Fachwissen bei der Gestaltung der Fraktionspolitik Priorität hat und nicht die politi-schen Prioritäten und Vorgaben der Fraktionsspitze die Politik bestimmen. Konkret gesagt: die Arbeitsstrukturen sind hier so angelegt, daß ich beispielsweise die Argumente über ein Antidiskriminierungsgesetz erst gar nicht im Kreise der Frak-tion detailliert erläutern kann. Meine Fachkenntnisse sind hier also gar nicht gefragt. Dies kann ich höchstens im Arbeitskreis tun. Aber die Fraktionsspitze entscheidet sehr oft ohne Berücksichtigung der Sachargumente, weil sie diese gar nicht kennt. Auf diese Weise haben neue Ideen und kreative Impulse keine Chance, von der Mehrheit der Fraktion unterstützt zu werden.‘
In der Fraktionssitzung, in der ich unter anderem diese Kritik äußerte, waren neben den Abgeordneten und der Fraktionsspitze außerdem Senatoren, Staatsräte und Mitarbeiter der Fraktion, also nahezu 100 Personen anwesend. Es gab zwei oder drei ziemlich kurze Wortmeldungen. Ich merkte, daß ich mit diesem Anliegen und in meiner Verbitterung weitestgehend allein stand. Frühzeitig habe ich erkannt, daß die Bereitschaft, in der Ausländerpolitik etwas zu bewegen, beim Senat und bei der Fraktionsspitze sehr gering war und die Arbeits-strukturen in der Fraktion verbunden mit der ehrenamtlichen Tätigkeit als ‚Feierabendparlamentarier‘ für mich sehr unbefriedigend waren. Deshalb begann ich bereits in einem ziemlich frühen Stadium, meine Unzufriedenheit und Kritik zu äußern.
Am 29.1.1994 nahm ich an einem Sondertreffen des sogenannten ‚Övelgönner Kreises‘ teil. In dieser ‚linken‘ Gruppierung der SPD-Fraktion habe ich meine auf ‚wenigen Monaten basierende Erfahrung‘ bewertet. ‚Ich kann eine gewisse – noch nicht genau definierte – Unzufriedenheit, besser vielleicht sogar Enttäuschung und Über-raschung bei mir beobachten. Dies hat mit der Kluft zwischen meinem Anspruch an Politik und den zu beobachtenden Umsetzungsmöglichkeiten zu tun. Ich habe die Befürchtung, wenn wir so weitermachen, werden wir unseren Wahlversprechungen und programmatischen Ankündigungen nicht gerecht werden können. In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine gestern (28.1.94) veröffentlichte Infas-Umfrage für die Januarskala der ARD verweisen, in welcher 85 % der Bevölkerung den Wahl-aussagen der Parteien, ja der Politik insgesamt kein Vertrauen schenken. Ich halte dies für alarmierend. Wenn wir uns nicht als fähig und willens erweisen, das verlore-ne Vertrauen zurückzugewinnen, kann dies bittere Konsequenzen für die SPD und für die Demokratie in Deutschland überhaupt haben.‘ Ich führte aus, was meiner Auffassung nach in der Ausländerpolitik gemacht werden müßte. Die Arbeit und Arbeitsweise des ‚Övelgönner Kreises‘ und des ‚Kellerparlaments‘ des sogenannten ‚rechten‘ Kreises, an denen ich einige Male als Beobachter teilnahm, waren primär personalpolitisch und nicht an Sachfragen orientiert. Auch hierzu habe ich mich wie folgt geäußert. ‚Es findet kaum ein Austausch von Meinun-gen und Diskussionen statt. Es wird mehr oder weniger informiert, berichtet und festgestellt. Konzeptionelle Überlegungen werden nicht angestellt. Auch brauchbare Vorschläge der Opposition werden aus Prinzip abgelehnt. (…) Klare Signale für eine zukunftsgerichtete Politik fehlen. Parteitagsbeschlüsse werden kaum berücksichtigt. Wir sind nicht lebendig, kreativ und flexibel genug‘. Auch die Arbeitsstrukturen der Bürgerschaft habe ich kritisiert. ‚Wir sollten ehrlich sein. Wenn man das Abgeordnetenmandat gewissenhaft ausüben will, ist dies als Feierabendparlamentarier, neben dem Beruf also, nicht zu schaffen. Die Gewaltenteilung existiert kaum: Wir haben als Parlamentarier die Pflicht, die Arbeit des Senats und der Verwaltung gewissenhaft zu kontrollieren. Diese Kontrollfunktion sollte sicherlich solidarisch sein. Aber wir sollten, wie auch die Opposition, eine Kontrollfunktion ausüben. Arbeitskreissitzungen finden oft mit Vertretern des Senats und der Behörden statt, die eine machbare Politik verhindern, indem sie vorweg erklären, was aus finanziellen, personellen oder sonstigen Gründen nicht gehe. So wird es den Parlamentariern, die als Feierabendabgeordnete kaum Zeit finden, sich fundiert in die einzelnen Themen einzuarbeiten, erschwert, kreativ über neue Wege und Möglichkeiten nachzudenken und ihre eigene Positionen zu entwickeln.‘
Als die Hälfte der Legislaturperiode vorüber war und ich zunehmend feststellen mußte, daß weder die SPD-Fraktion noch der Senat zur Umsetzung des oben skizzierten Pakets von Maßnahmen, die der Arbeitskreis Soziales zur Ausländerpolitik be-schlossen hatte, bereit waren, versuchte ich, mit Hilfe der Partei etwas zu erreichen. Ich bat den Landesvorsitzenden der SPD, das Thema Ausländerpolitik ‚auf die Ta-gesordnung‘ zu setzen und mich zu der Sitzung des Landesvorstandes einzuladen. Am 15.5.1994 habe ich dem Landesvoratsnd der Partei eingehend meine kritische Bewertung der Politik von Partei, Fraktion und Senat erörtert. ‚Ich stelle eine große Diskrepanz zwischen dem Parteiprogramm und der Praxis fest. Es wird, soweit ich dies überblicken kann, oft nicht eine an Sachkompetenz orientierte Personalpolitik verfolgt. Für konzeptionelle Überlegungen und Auseinandersetzungen bleibt keine Zeit oder gibt es keine Bereitschaft. Eine zu große Verflechtung des Parlaments; der Regierung sowie der Verwaltung ermöglicht keine effiziente Kontrolle durch die re-gierende Partei. (…) Die SPD ist nicht mehr Hoffnungsträger bei der Lösung der dringenden Probleme, so bei Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot. Die politische Ori-entierung der SPD ist zu starr. So müßten angesichts neuer Realitäten die Grünen als neue Kraft akzeptiert werden. Ohne Koalitionspartner sind heute keine Mehrhei-ten auf Bundes- und Länderebene möglich. Auch inhaltlich sind die Grünen als Be-reicherung und Ergänzung zu akzeptieren, insbesondere bei Umwelt und Ausländer-fragen.‘ Nach diesen Bewertungen führte ich eingehend aus, welche Maßnahmen im Bereich der Ausländerpolitik auch im Interesse der Glaubwürdigkeit der Partei erfor-derlich wären. Es folgte eine offene Aussprache, allerdings ohne irgendwelche ver-bindlichen Aussagen. Als Mitglied des Verfassungsausschusses habe ich mich am 15.9.1995 mit einem Schreiben an die Mitglieder des Arbeitskreises ‚Verfassung‘ der SPD-Bürgerschaftsfraktion mit der Bitte gewandt, sich mit der Einführung eines Minderheiten-schutzes in die Hamburgische Verfassung zu beschäftigen. Ich verwies darauf, daß sich sowohl der Hamburgische Senat als auch die Bundestagsfraktion der SPD im Rahmen der Reform des Grundgesetzes darum bemüht hatten, eben diesen Min-derheitenschutz im Grundgesetz festzuschreiben. Es wäre daher nur eine konse-quente Fortschreibung dieser Politik, wenn man einen entsprechenden Passus in die Hamburgische Verfassung aufnähme. Meinen Bemühungen in dieser Hinsicht im Arbeitskreis Verfassung blieb aber trotz meines Hinweises, daß auch die neuen Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt einen Min-derheitenschutz in ihre Verfassungen aufgenommen hätten, der Erfolg versagt; und dies, obwohl er von der GAL, der Statt-Partei und sogar Teilen der CDU unterstützt worden wäre. Ich habe mich im Laufe der Legislaturperiode zwar nicht sehr oft aber dann in einer grundsätzlichen Art zu verschiedenen Anlässen, so zum sogenannten, ‚Polizeiskandal‘, zu Minderheitenschutz, Abschiebeentscheidungen etc. in der Fraktion zu Wort gemeldet. Für mich als dem einzigen Abgeordneten nichtdeutscher Herkunft war es nicht einfach, immer zu Ausländerfragen als ‚ Anwalt‘ für die Betroffenen ein-zutreten. Ich hatte oft das Gefühl, mein Engagement werde von der eigenen Funkti-on nicht als das eines Fachmanns und des ausländerpolitischen Spreches der Frak-tion bewertet, sondern primär als das eines parteiischen Abgeordneten ausländi-scher Herkunft.
Mit Sicherheit wäre es für mich viel einfacher gewesen, wenn ich mich bei anderen Themen, wie Umwelt, Verkehr etc. engagiert hätte. Es lag aber in der Natur der Sache, mich als einziger Abgeordneter nichtdeutscher Herkunft doch mit ausländerpolitischen Fragen zu befassen. Wie ich erfuhr, hatten meine Vorgän-ger in der Fraktion, die sich als deutsche Abgeordnete in ausländerpolitischen Fragen engagiert hatten, ähnliche Erfahrungen machen müssen, nämlich als Einzel-kämpfer zu fungieren und letztendlich ohne Rückhalt in der Fraktion resignieren zu müssen. Mir ist aus meiner langjährigen außerparlamentarischen politischen Arbeit bekannt, daß die Lösung gesellschaftspolitischer Probleme nur mit langem Atem möglich ist. Doch Aufrichtigkeit, Wille und Entschlossenheit dazu müssen auch in Partei, Fraktion und Senat erkennbar sein. Dies habe ich zunehmend vermißt. Mehr noch: mit man-chen Manövern versuchte die Fraktionsspitze mich selbst dann nicht mehr als Red-ner bei Themen vorzuschlagen, die mich als ausländerpolitischen Sprecher der Fraktion und als Vorsitzenden des ‚Unterausschusses ‚Ausländerpolitik‘ unmittelbar be-trafen. So wurden die entsprechende Themen willkürlich vom Sozialausschuß, zum Innenausschuß verwiesen, damit nur ein Mitglied des Innenausschusses als Redner in Frage kam. Viele Male habe ich gegen meine eigene Überzeugung und gegen das eigene Gewissen wegen des sogenannten Fraktionszwanges abstimmen müssen.
Mein Hinweis auf das Grundgesetz und auf die Hamburgische Verfassung, nach der die Abgeordneten ‚an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen‘ sind, fanden keine große Beachtung. Manche, zum Teil heftige Auseinandersetzung waren unvermeidlich.
Der Parlamentarismus ist dringend reformbedürftig
Eine der größten Errungenschaften der Französischen Revolution von 1789 war die Durchsetzung der Gewaltenteilung als neue staatspolitische Form. Dies sollte nicht nur ein formaler Akt bleiben, vielmehr sollten Regierung und Verwaltung von Parlament und Gerichten in ihrer Arbeit stets kontrolliert werden. Die Legislative wiederum wird darin, in wieweit die von ihr verabschiedeten Gesetze verfassungskonform sind, von der Judikative kontrolliert. Die Medien wiederum fungieren in ihrer Rolle als ‚vierte Gewalt‘ im Sinne der Öffentlichkeit als eine weitere Kontrollinstitution über Legislative, Exekutive und Judikative. Das ist gut so. Als Politikwissenschaftler habe ich in meiner vierjährigen Tätigkeit als Abgeordneter feststellen müssen, daß die wichtigste und praxisnahe Kontrolle, nämlich die Kontrolle von Regierung und Verwaltung durch das Parlament, faktisch nicht stattfindet.
Die regierenden Parteien verfügen in Länderparlamenten und im Bundestag stets über die absolute Mehrheit. Die Oppositionsparteien versuchen, in den Parlamenten als die einzigen Kontrolleinrichtungen zu fungieren. Ihre Kontrollfunktion hat aber ledig-lich einen an die Öffentlichkeit gerichteten Appellcharakter. Bewirken können sie mit ihren Minderheitsvoten weder etwas in den Ausschüssen noch in den Plenarsitzun-gen des Parlaments. Die Regierung und die sie tragende Parlamentsmehrheit setzen sich immer durch.
Selbst In den Ausschüssen, wo über Sachthemen diskutiert und die parlamentari-sche Hauptarbeit geleistet werden sollte, sind die Entscheidungen längst in den Ar-beitskreisen der jeweiligen Ausschüsse der regierenden Parteien gefallen. In diesen Arbeitskreisen sitzen neben den Abgeordneten der Regierungspartei je nach Thema Vertreter der Regierung und der Verwaltung. Es hat bereits traditionellen Charakter, daß an allen Arbeitskreissitzungen automatisch Vertreter des Senats und/oder auch der Verwaltung teilnehmen. Die Abgeordneten werden sehr oft von den Senats- und Verwaltungsvertretern mit den sogenannten machbaren ‚Rahmenbedingungen‘ kon-frontiert, bevor es zu einem Meinungsbildungsprozeß bei den Abgeordneten über Sachthemen gekommen ist. Da Regierungsvertreter über weit mehr Fakten verfügen als Abgeordnete, werden die Entscheidungen der Parlamentarier letztendlich durch Regierung und Verwaltung maßgeblich beeinflußt und bestimmt. Durch diese Vor-griffe wird auch die Kritik an der Regierungs- und Verwaltungsarbeit völlig entkräftet. Die auf diesem Wege von der Regierung maßgeblich beeinflußten Entscheidungen werden in den Arbeitskreisen und somit auch in den Ausschüssen getroffen. Eine Beeinflussung der Abgeordneten der regierenden Parteien durch die oppositionellen Abgeordneten in den Ausschüssen ist nicht mehr möglich. Selbst dann nicht, wenn deren Sachargumente die einzelnen Abgeordneten überzeugen.
Anträge der oppositionellen Parteien werden aus Prinzip abgelehnt, selbst wenn sie völlig den Vorstellungen der Regierungspartei entsprechen. Eine gegenseitige Be-fruchtung und Bereicherung durch Sachargumente, die dann in die Entscheidungen in den Ausschüssen oder auch im Plenum einfließen, ist, wenn überhaupt, eine höchst seltene Ausnahme. Aus diesem Grunde ist die Kontrolle der Regierung und Verwaltung durch die oppositionelle Minderheit in den Parlamenten lediglich ein ver-baler und an die Öffentlichkeit gerichtete Akt, hat also keine konkreten Auswirkungen und Konsequenzen. Deshalb hat die Gewaltenteilung zwischen der Legislative und der Exekutive keine faktische Auswirkung. Nur auf Bundesebene kann die Kontroll-funktion der Opposition ein faktische Bedeutung haben, wenn diese z.B. im Bundes-rat über eine Mehrheit verfügt, wie dies 1969-1982 und seit 1991 der Fall war und ist. Und dies ist auch begrenzt auf die Gesetzesentscheidungen, die die Rechte und In-teressen der Länder berühren und daher einer ausdrücklichen Zustimmung des Bundesrates bedürfen.
Rot-Grüne Koalition für die Erneuerung der Politik in Hamburg
In einem Bundesland wie Hamburg, in dem seit über vier Jahrzehnten eine Partei regiert, werden die wichtigsten Entscheidungsstellen bei den Behörden von Anhän-gern der regierenden Partei belegt. Zu der sehr engen Verflechtung und Verfilzung auf Partei-, Regierungs- und Behördenebene kommt noch die oben erläuterte starke Verflechtung mit der Mehrheitsfraktion im Parlament. Die Personalentscheidungen werden nach meiner Beobachtung nicht nach sachlichen Kompetenzkriterien getrof-fen, sondern nach den Kräfteverhältnissen und Kompensationswünschen der vor-handenen Flügel in Partei und Fraktion. Diese Strukturen erschweren die Regie-rungs- und Verwaltungsarbeit, blockieren neue Impulse und kreative Ideen und ver-stärken die Politikverdrossenheit insbesondere bei den jungen Menschen. Ange-sichts dieser eingefahrene Lage in der Politik in Hamburg kann die Meinung von Alt-bundeskanzler Helmut Schmidt nur mit Nachdruck unterstrichen werden, daß ein Machtwechsel durchaus im Interesse der Stadt Hamburg wäre. Die CDU war bis heute kaum im Stande, zur SPD eine Alternative anzubieten, weil sie für eine weltoffene und liberale Stadt wie Hamburg in vielen Bereichen längst überholte Positionen vertrat. Diese politische Verkrustung der CDU verhindert auch eine Annäherung zu einem Koalitionspartner wie der Grün-Alternativen Liste, die sie für einen Machtwechsel in jedem Fall bräuchte. Eine große Koalition würde keine Erneuerung und keinen neuen Wind in die Politik bringen. Eine große Koalition wür-de höchstens dazu führen, die etablierten Machtverhältnisse, Strukturen, die Machtzentren und Pfründe zwischen CDU und SPD neu zu verteilen, ohne substanzielle politische Veränderungen zu bewirken. Unter diesen Umständen bleibt nur eine Möglichkeit, neue Aspekte, frische und kreative Ideen in die Politik zu mischen, wel-che die alten Strukturen und Machtpositionen in Bewegung bringen würde. Das ist unter den gegebenen politischen Konstellationen nur in einer Rot-Grünen Koalition denkbar. Es wäre daher nicht nur für die Hamburgerinnen und Hamburger gut, sondern auch für die SPD eine große Hilfe, ihre Politik in den Bereichen Ökologie/Ökonomie, Energie, Umwelt, Verkehr und Einwanderer grundlegend zu überden-ken und zu erneuern. Keine Partei, auch nicht die SPD, scheint nach vier Jahrzehnten festgefahrener innerparteilicher und politischer Strukturen aus eigener Kraft und Dynamik heraus den dringend notwendigen Erneuerungsprozeß herbeizuführen zu können. Die Rot-Grüne Koalition ist daher eine Chance nicht nur für Hamburg son-dern auch für den bislang dominierenden Machtfaktor SPD, sich selbstkritisch zu beleuchten und möglicherweise auch zu erneuern.