Rede von Hakkı Keskin auf der Kundgebung in Kiel anlässlich des Jahrestages der Reichsprogromnacht
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Die Reichsprogromnacht vom 9. November 1938
Wir sind heute zusammen gekommen, um der Opfer der Progromnacht vom 9. November 1938 zu gedenken. Heute vor 63 Jahren wurden von den Nationalsozialisten Synagogen in Brand gesetzt, jüdische Geschäfte geplündert und deutsche Juden ermordet.
Diese Nacht wird als eine der dunkelsten und schändlichsten Tage der deutschen Geschichte immer unvergesslich bleiben, ja dieser Tag darf nie vergessen werden!
Dieses Ereignis markiert den für alle sichtbaren Beginn einer der grau-samsten und barbarischen Vernichtungskampagnen gegen die jüdische Bevölkerung Deutschlands. Die damit einhergehende organisierte Aus-rottung der Juden, ausschließlich aus rassistisch-ideologischen Gründen ist welthistorisch einmalig.
Eine Analyse der Geschichte der Juden in Deutschland macht aber in aller Klarheit deutlich, dass diese Entwicklung, die Entstehung des Has-ses gegen die Juden in Deutschland, kein einmaliger ‚Unfall‘ ist.
Sie ist vielmehr durch eine über Jahrhunderte andauernde Absonderung und Diskriminierung der Juden in Deutschland und ihre Behandlung als Menschen zweiter Klasse zu erklären. Der Nährboden für den Haß war durch die politische und gesellschaftliche Absonderung gegeben.
Die jüdische Bevölkerung beispielsweise in Preußen wurde in den Jah-ren 1671 bis 1871, also zwei Jahrhunderte lang, von der bürgerlichen Gleichstellung ausgeschlossen. Sehr große Teile der deutschen Bevöl-kerung machten sich diese diskriminierende Staatspolitik zu eigen. Eine richtige Aufnahme der jüdischen Bevölkerung in die deutsche Gesell-schaft konnte nicht stattfinden.
Im Gegenteil: Für die Krisen, für das Versagen der Politik und für die tie-fen gesellschaftlichen Erschütterungen in Folge der industriellen Revolu-tion wurde sie stets zu Sündenböcken gemacht.
‚Die soziale Frage des 19. Jahrhunderts bekam eine antijüdische Note.‘
Geschichte wird mit dem Ziel gelernt, um daraus für Gegenwart und Zu-kunft zu lernen und die notwendigen Lehren zu ziehen.
Vor dem Hintergrund dieser geschichtlichen Fakten darf es in Deutsch-land nicht geduldet und schon gar nicht mit ‚Meinungsfreiheit‘ oder ‚Gesetzeslage‘ entschuldigt werden,
- wenn immer noch Neonazis durch die Städte marschieren und offen ih-re rassistischen, antisemitischen und faschistischen Parolen brüllen,
- wenn immer noch neonazistische Publikationen und Parteien ungehin-dert ihre rassistische, antisemitische und ausländerfeindliche Propagan-da verbreiten,
- mehr noch, wenn die Neonazis fast alltäglich Jagt auf Nichtdeutsche Menschen organisieren, sie beschimpfen, beleidigen, angreifen, verlet-zen, ja gegebenenfalls auch töten,
- wenn bestimmte Städte oder Stadtteile von Neonazis zu befreiten Ge-bieten erklärt werden.
Hier ist der Gesetzgeber und die Justiz aufgerufen, den demokratischen Rechtsstaat und dessen Freiheiten von seinen Gegnern nicht mißbrau-chen zu lassen.
Die Verbreitung von Rassismus und Faschismus ist keine Meinungsfrei-heit, sie sind nicht Elemente einer echten Demokratie, sondern Verbre-chen gegen die Demokratie, mit dem Ziel, sie letztendlich zu beseitigen.
- Seit Jahren verlangen wir daher ein neues Rechtsvertständnis und kon-krete rechtliche und politische Maßnahmen gegen diese Kräfte.
- Seit Jahren verlangen wir auch ein Antidiskriminierungsgesetz, ähnlich wie in vielen Nachbarländern Deutschlands, um gegen jede Art von Dis-kriminierung und ungleicher Behandlung der hier lebenden Nichtdeut-schen entschieden und konsequent vorgehen zu können.
- Seit Jahren verlangen wir die rechtliche, politische und soziale Gleich-stellung der in Deutschland seit Jahrzehnten lebenden Menschen, die immer noch als sogenannte Ausländer einem Sonderstatus mit minderen Rechten unterliegen.
- Seit Jahren betonen wir, dass dies ohne den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft nicht möglich und es daher die zentrale Aufgabe des Staates ist, die Barrieren hierfür zu beseitigen.
- Seit Jahren versuchen wir den politisch verantwortlichen klar zu ma-chen, dass es mit dem Gebot eines demokratischen Rechtsstaates nicht zu vereinbaren ist, wenn ein Drittel der Frankfurter, ein Viertel der Münchener, ein Fünftel der Kölner zwar alle staatsbürgerlichen Pflichten erfüllen, die Bürgerrechte aber seit nunmehr 40 Jahren und auch in der dritten Generation immer noch nicht besitzen.
Es ist die Aufgabe der Politik, meine Damen und Herren, dieses deut-sche Problem zu lösen.
- Von der Geschichte zu lernen heißt eben auch, die Absonderung und Abschottung der hier dauerhaft lebenden Nichtdeutschen zu beenden,
- die rechtliche und faktische Aufnahme dieser Menschen in die deutsche Gesellschaft zu realisieren,
- den rechten Parteien, den Demagogen und Rassisten den Nährboden zu entziehen, und vor allem nicht die Einwandererbevölkerung, die keine politische Rechte hat, gerade auch vor Wahlen zu Sündenböcken zu machen.
Hakkı Keskin