Recklinghausen

Ein junger Franzose fragte mich, ob die deutsche Arbeiterschaft mit unseren Forde-rungen nach gleichen Rechten und gleicher Behandlung solidarisch sei.

Sehr geehrter Herr Innenminister Otto Schily,

sehr geehrte Frau Glaubrecht,

meine Damen und Herren, liebe Freunde! ,

Für die Möglichkeit, über dieses Thema zu diesem sehr wichtigen Zeitpunkt zu Ih-nen sprechen zu dürfen, möchte ich Ihnen danken.

Heute Vormittag, am 12. Dezember 1998 besuchte uns, das heißt die Türkische Gemeinde in Deutschland, eine deutsch-französische Studiengruppe, um sich über unsere Arbeit und über Migrationsfragen zu informieren.

Ein junger Franzose fragte mich, ob die deutsche Arbeiterschaft mit unseren Forde-rungen nach gleichen Rechten und gleicher Behandlung solidarisch sei. Ich konnte ihm erzählen, daß die Gewerkschaften uns in diesem Bemühen unterstützten. Als jüngstes Beispiel nannte ich diese Veranstaltung, auf der ich zu Ihnen spreche.

Heute leben in Deutschland ca. 7,4 Mio. Nichtdeutsche, das sind mehr als 8.9% der Gesamtbevölkerung. Der ganz überwiegende Teil dieser sogenannten ‚Ausländer‘ wurde im Rahmen bilateraler Verträge mit den jeweiligen Herkunftsländern als Ar-beitskräfte angeworben. Diese Anwerbung begann vor 44 Jahren in Italien, vor nunmehr 38 Jahren wurden entsprechende Verträge mit der Türkei abgeschlossen.

Keiner von uns hätte seinerzeit geahnt, daß die damals angeworbenen Türken und anderen Emigranten sich mehrheitlich dauerhaft in Deutschland niederlassen wür-den. Wer von uns kann heute noch den Begriff ‚Gastarbeiter‘ als Definition des be-fristeten, vorübergehenden Aufenthaltes ohne Hemmungen benutzen? Teile der ers-ten Generation haben heute das Rentenalter erreicht und werden – laut Untersu-chungen – mit großer Wahrscheinlichkeit ihren Lebensabend auch in Deutschland, wo ihre Kinder und Enkel leben, verbringen. Diese Menschen haben, das wird von keinem bestritten, sehr hart, fleißig und mobil gearbeitet und damit zu dem raschen Wohlstand in Deutschland nach dem Krieg maßgeblich beigetragen.

Ein Großteil der Kinder der ersten Generation sind in Deutschland geboren oder als Kleinkinder Familien gefolgt und hier aufgewachsen. Die Enkel der ersten Generati-on kennen die Türkei nur noch vom Urlaub, sprechen sehr gut Deutsch, oft mit regi-onalem Akzent, sind mehr deutsch sozialisiert als türkisch. Wären diese Menschen der zweiten und dritten Generation in Frankreich, Großbritannien, den USA, oder Kanada geboren, so besäßen sie fast alle die Staatsangehörigkeit dieser Länder. Sie wären Staatsbürger und verfügten über gleiche Rechte wie die Einheimischen. In Deutschland sind sie aber – nach wie vor – Ausländer. Sie müssen zur Ausländer-behörde, um eine Aufenthaltserlaubnis; zum Arbeitsamt, um eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. Sie können wie auch ihre Eltern und Großeltern weder wählen, noch gewählt werden; sie sind eben ‚Ausländer‘. Sie besitzen mindere Rechte, sie sind einem Ausländergesetz als Sonderrecht unterstellt.

Sie sind in die deutsche Gesellschaft wegen dieses diskriminierenden Rechtsstatus bis heute nicht aufgenommen worden. Sie müssen noch immer vor der Tür dieser Gesellschaft warten, obwohl sie alle Pflichten eines Staatsbürgers erfüllen müssen, so auch den Solidaritätszuschlag leisten.

Die Angehörigen der zweiten und dritten Generation können und wollen zurecht die-se Art der Behandlung als Menschen ‚zweiter Klasse‘, diese staatspolitisch verfolg-te Diskriminierung und Absonderung nicht akzeptieren, sie sind oft verbittert. Dies zählt nicht zu der so oft beschworenen Integration in die deutsche Gesellschaft; im Gegenteil, dies führt zur Segregation, zur Ghettobildung. Auch die Konzentration der Migranten in manchen Stadtteilen ist die Folge einer verfehlten Wohnungs- und Aus-länderpolitik. Dieser Zustand ist nicht nur für die zweite und dritte Generation inak-zeptabel, inhuman und mit dem Geboten der Demokratie und der Menschenrechte unvereinbar, es gefährdet mittel- und langfristig auch den sozialen Frieden in Deutschland.

Es ist alarmierend, wenn die Immigranten und deren Kinder und Enkel sich hier in ihrer neuen Heimat nach vier Jahrzehnten immer noch nicht Zuhause fühlen dürfen.

Die türkische Bevölkerung Deutschlands, aber auch die anderen Immigranten, die hier wohnen und arbeiten, werden es nicht mehr lange hinnehmen, dauerhaft mit minderen Rechten ausgestattet, hier zu leben. Hierfür gibt es nach der Entschei-dung des Bundesverfassungsgerichtes, wonach die Einführung des kommunalen Wahlrechtes hier in Hamburg und Schleswig-Holstein mit der Begründung abgelehnt worden war, daß nur deutsche Staatsbürger wählen dürften, nur noch einen einzi-gen Weg, nämlich eine radikale Reform des Staatsangehörigkeitsrechts.

Die in Deutschland geborenen Kinder, hier rechtmäßig aufwachsende oder hier rechtmäßig lebende Einwanderer müssen automatisch die deutsche Staatsbürger-schaft erhalten. Alle Nichtdeutschen, die seit acht Jahren rechtmäßig hier leben, müssen einen Rechtsstatus, einen Rechtsanspruch auf den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft haben und zwar ohne die erzwungene Aufgabe ihrer bisherigen Staatsbürgerschaft.

Das Haupthindernis bei dem Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft ist die feh-lende Tolerierung der Doppelstaatsbürgerschaft. Rechtliche Gleichstellung ist die Grundvoraussetzung der von allen demokratischen Parteien gewollten Integrations-politik. Deshalb muß die erleichterte Einbürgerung nicht am Ende des Integrationsprozesses stehen, wie dies der ehemalige Innenminister Kanter stets behaupte-te, sie ist vielmehr die Voraussetzung jeder Integrationspolitik, die diesen Namen verdient. Die türkische Bevölkerung und die übrigen Einwanderer können es nicht verstehen und akzeptieren, wenn ihnen die Berufe im öffentlichen Dienst, insbesondere in der mittleren und gehobenen Stufe versperrt bleiben, selbst wenn sie die gleichen Quali-fikationen besitzen.

Die nichtdeutsche Bevölkerung kann es nicht akzeptieren, wenn sie von der Arbeits-losigkeit doppelt so hoch betroffen ist wie der deutsche Kollege; von der erwerbslo-sen, nichtdeutschen Jugend unter 20 Jahren 86% keinen Berufsabschluß haben; weit über 20% dieser Jugendlichen ohne Schulabschluß die Schule verlassen.

Die türkische Gemeinde in Deutschland bekennt sich voll, ich unterstreiche das noch einmal, voll zu Deutschland und will eine Integration, aber auch die Pflege und Weiterentwicklung ihrer kulturellen Identität. Kulturelle Vielfalt ist keine Bedrohung, sie sollte vielmehr als Bereicherung verstanden werden. Deshalb wollen wir, daß die Enkel mit ihren Großeltern und Eltern auch in ihrer Muttersprache kommunizieren können. Deshalb sollte es in allen Schulen, in denen eine bestimmte Anzahl Kinder aus der Türkei oder einem anderen Anwerbeland kommt, möglich sein, Türkisch, Portugiesisch oder welche Sprache auch immer als Muttersprache zu erlernen. Dies ist an manchen Schulen auch bereits der Fall.

Die Einwandererbevölkerung will – ohne alltäglich mit ausländerfeindlichen Parolen, mit Erniedrigungen und Beschimpfungen, ja sogar mit physischen An griffen rech-nen zu müssen in Würde, Lebenssicherheit und Frieden in Deutschland leben. Wir haben leider immer wieder feststellen müssen, daß die persönliche Sicherheit vor allem der türkischen Bevölkerung – aber auch ihr Eigentum – vom Staat bislang nicht genügend geschützt worden ist.

Die Täter vieler hunderte Anschläge gegen türkische Einrichtungen wurden, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bis heute leider kaum gefaßt. Deshalb wollen wir ein Bündel von Maßnahmen ergriffen sehen, die vom Schulbereich bis in die Me-dienlandschaft greifen, damit Rassismus, Ausländerhaß und Antisemitismus in Deutschland keinen Nährboden mehr finden können.

Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die freie Entfaltung der Persönlich-keit und das Recht auf körperliche Unversehrtheit, diese unantastbaren Grundrechte gelten für alle und müssen auch für die Migranten und ihre Kinder in Deutschland voll zur Geltung kommen.

Wir verlangen nicht mehr, aber auch nicht weniger: wir verlangen gleiche Rechte und gleiche Behandlung bei gleichen Pflichten.

An dieser Stelle möchte ich mir erlauben, den Bundesinnenminister direkt anzuspre-chen und in seine Richtung einige Bemerkungen zu dem Entwurf zur Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts zu machen. Zunächst will ich betonen, – und ich denke, ich spreche da für die überwiegende Mehrheit aller Einwanderer – daß wir uns sehr über die zügige Umsetzung dieses Reformvorhabens gefreut haben. Insbesondere für mich ist dies eine große Genugtuung, setze ich mich doch seit nunmehr 20 Jah-ren persönlich für diese Änderung ein.

Doch leider ist die Freude nicht ganz ungetrübt, denn an dem, was wir an Einzelhei-ten über den Entwurf bis heute erfahren konnten, gibt es einiges zu kritisieren:

  • Das bislang vorherrschende Abstammungsprinzip ‚ius sanguinis‘ wird zwar um das Prinzip des Geburtsortes ‚ius soli‘ ergänzt, warum aber gilt es erst ab der drit-ten Einwanderergeneration? Ich denke, es sollte allen, auch rückwirkend, zugute kommen, die mit einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis hier im Lande leben.
  • Öffnen Sie, lieber Herr Schily, allen hier dauerhaft lebenden Menschen die Tür in die deutsche Gesellschaft!
  • Beenden Sie das Ausländerdasein dadurch, daß alle, die es wollen und die Grund-voraussetzungen erfüllen, deutsche Staatsbürger werden dürfen.
  • Einfache Deutschkenntnisse, also die Möglichkeit, sich verständlich zu machen, sollten dafür ausreichen.
  • Weder unverschuldete Arbeitslosigkeit, also auch nicht der Bezug von Arbeitslo-sen- oder Sozialhilfe, noch eine kleine Rente, die den Bezug von Sozialhilfe erfor-derlich macht, dürfen Hinderungsgründe darstellen.
  • Den Unionsparteien würde ich empfehlen, Ihre ‚Ausländer‘- und Migrationspolitik gründlichst zu überdenken und zu überarbeiten. Dies bedeutet:

  • Positionen, die die Eingewanderten und ihre Nachkommen in Deutschland auf Dauer als ‚Ausländer‘ mit minderen Rechten leben lassen wollen, sind längst über-holt und widersprechen der real vollzogenen gesellschaftlichen Entwicklung.
  • Eine – wie ich hoffe auch von den Unionsparteien gewünschte – Integration der kulturellen Minderheiten in die deutsche Gesellschaft wird es ohne rechtliche, politi-sche und soziale Gleichstellung nicht geben.

An dieser Stelle muß ich einer weit verbreiteten Auffassung widersprechen. Es wird oft behauptet, die deutsche Bevölkerung wolle die doppelte Staatsbürgerschaft mehrheitlich nicht; dazu gebe es zahlreiche Meinungsumfragen.

Ich bezweifele die Seriosität dieser Erhebungen. Es ist, das wissen wir alle, bei einer Befragung sehr entscheidend für die Antwort, wie die Frage formuliert ist.

Im August/September 1994 führte INFAS eine repräsentative Befragung durch. Die damals gestellte Frage war nach meinem Dafürhalten korrekt formuliert, sie lautete: ‚Wie stehen Sie zum Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft von Türken, die lange Jahre hier bei uns leben bzw. hier geboren wurden und weiter hier bleiben wollen?‘

Hier ist der Sachverhalt neutral und richtig formuliert. Man konnte zwischen vier möglichen Antworten wählen:

Sie sollten deutsche werden 28%

Sie sollten die doppelte Staatsbürgerschaft erwerben können 43%

Sie sollten Türken bleiben 24%

keine Angaben 5%

71 Prozent der Befragten sind also hier für die Verleihung der deutschen Staats-bürgerschaft an Türken, darunter 43 % sogar für den Doppelpaß. Würde man heute mit der gleichen Fragestellung diese Erhebung wiederholen, würden wir möglicher-weise eine noch eindeutigere Antwort erhalten.

Am 3. Dezember 1998 wurde bei einem regionalen Hamburger Fernsehsender, bei der Sendung ‚Schalthoff live‘ das Pro und Contra einer doppelten Staatsangehö-rigkeit diskutiert. Die Hörer wurden gebeten, sich per Telefon dafür oder dagegen auszusprechen.

Für eine doppelte Staatsangehörigkeit waren 52%

Dagegen 48%

Wir sehen, von einer mehrheitlichen Ablehnung der doppelten Staatsbürgerschaft kann bei sachlicher Fragestellung keine Rede sein. Lieber Herr Minister, es ist hohe Zeit, nunmehr eine Periode des Zusammenwach-sens der hier dauerhaft lebenden Menschen nichtdeutscher Herkunft mit der deut-schen Bevölkerung zu beginnen:

  • Sagen Sie diesen Menschen, daß sie ein fester Bestandteil Deutschlands sind,
  • sagen Sie Ihnen, daß sie das Recht haben, sich hier in ihrer neuen Heimat zu hau-se zu fühlen,
  • sagen Sie Ihnen, daß auch sie einen großen Beitrag zum Wohlstand Deutschlands geleistet haben,
  • sagen Sie Ihnen, daß sie in Deutschland willkommen sind!
  • Dies erwarten nach 16 Jahren restriktiver Ausländerpolitik die kulturellen Minderhei-ten dieses Landes von der neuen Bundesregierung.