Rede Von Prof.Dr. Hakkı Keskin, Bundesvorsitzender der türkischen Gemeinde in Deutschland Auf der Protestdemonstration in Hamburg - gegen die Visum- und Aufenthaltserlaubnispflicht für Kinder unter 16 Jahren
Meine Damen und Herren ,
Viele Zehntausende unserer Kinder sind heute bundesweit ihren Schulen fern-geblieben. Wir wissen, daß ein Schulboykott nur in äußert zwingenden Situati-onen angewendet werden sollte.
Auch viele Zehntausende türkische Eltern und ihre Kinder nehmen in diesen Stunden in Berlin, Frankfurt, Essen, Hamburg, Kiel, Hannover und in vielen anderen Städten an den Protestdemonstrationen teil. Solche bundesweiten Proteste werden von Türken erstmalig organisiert. Auch viele deutsche und andere Einwanderer solidarisieren sich mit ihren türkischen Nachbarn.
Seit dem 15. Januar ist im Eilverfahren eine Verordnung von Bundesinnenmi-nister Kanther in Kraft getreten. Sie sieht vor, daß die Kinder unter 16 Jahren aus der Türkei, Tunesien, Marokko und manchen Staaten des ehemaligen Ju-goslawien bei der Einreise nach Deutschland zu ihren Eltern ein Visum brau-chen. Darüber hinaus brauchen Kinder unter 16 Jahren, die größtenteils in Deutschland geborenen sind, eine Aufenthaltserlaubnis.
Wir verurteilen diese Maßnahme ganz entschieden und lehnen sie kate-gorisch ab!
Diese Maßnahme, die in den türkischen Medien zu Recht ‚Baby-Visum‘ ge-nannt wird, ist
- integrationsfeindlich
- kinder- und familienfeindlich
- diskriminierend
Dies wurde auch vom Europäischen Parlament so beurteilt, als es zu recht von der Bundesregierung die Rücknahme dieser Verordnung verlangte. Die Verordnung trifft nicht die eigentliche Zielgruppe sondern völlig unschuldi-ge und unbeteiligte Menschen.
Sie schießt mit Kanonen auf Spatzen. Sie wurde als Nacht und Nebelaktion durchgeführt: Weder die Regierungen der betroffenen Anwerbestaaten noch die politischen Organisationen der Ein-wandererbevölkerung wurden konsultiert oder nach ihrer Meinung gefragt. Da-her ist diese Maßnahme auch völlig undemokratisch
Diese Eilverordnung ist integrationsfeindlich, weil die gebürtigen Hambur-ger, Berliner, Frankfurter, Kieler, Essener, kurz gebürtige Bundesrepublikaner gewollt abgeschottet und abgesondert werden. Ihnen wird von ihrer Geburt an mit dieser Aufenthaltserlaubnispflicht ihr Ausländersein amtlich bescheinigt. Sie werden gleich erfahren müssen, daß sie in ihrem Geburtsland, in ihrer ei-gentlichen Heimat fremde und Ausländer sind und andere, mindere Rechte besitzen als ihre deutschen Schulfreunde. Das ist zwar auch bislang rein recht-lich so gewesen, aber mit den faktischen Problemen des ‚Ausländerseins‘ waren sie nur selten konfrontiert. Dies erfuhren sie erst mit 16 Jahren, wenn sie zur Ausländerbehörde gehen und sich eine Aufenthaltserlaubnis holen mußten.
Diese Verordnung ist familien- und kinderfeidlich, weil sie das Zusammen-leben und das ungehinderte Zusammenkommen der Eltern und ihrer Kinder maßgeblich erschweren wird, wenn sie in Kraft bleiben sollte. Zehntausende Kinder, die nach Ansicht ihrer Eltern im Herkunftsland zur Schule gehen sollten und daher bei Verwandten in der Türkei leben, werden es nach Einführung der Visumpflicht sehr schwer haben, ihre Eltern zu besuchen, geschweige denn zu ihren zu ziehen. Das Grundrecht: ‚Ehe und Familie stehen unter dem be-sonderen Schutze der staatlichen Ordnung‘ wird für diese Familien massiv beeinträchtigt sein, wenn nicht gar zur Farce werden. Den Kindern, deren El-tern öffentliche Mittel zu ihrem Lebensunterhalt in Anspruch nehmen oder ge-mäß dem Ausländergesetz keinen ausreichenden Wohnraum zur Verfügung haben, wird der Nachzug zu ihren Eltern und die Erteilung der Aufenthaltser-laubnis verweigert werden. Dies gilt auch für die hier in Hamburg und in Deutschland bei ihren Eltern lebenden Kinder.
Mit dieser Maßnahme sollte laut Kanther die ‚mißbräuchliche Einreise un-begleiteter Kinder und Jugendlicher unter 16 Jahren‘ verhindert werden, von Kindern also, die häufig als Drogendealer nach Deutschland kommen. Wir sind für alle rechtsstaatlichen Maßnahmen zur Verhinderung der miß-bräuchlichen Einreise und zur Unterbindung von Drogendelikten. Gerade die Nichtdeutschen leiden am meisten unter der sehr oft verallgemeinernden Be-richterstattung über Straftaten bei Ausländern.
Ich frage Sie, meine Damen und Herren, was haben aber die mehr als 600.000 Kinder, die größtenteils seit ihrer Geburt mit ihren Eltern in Deutschland leben, mit dieser mißbräuchlichen Einreise zu tun?
Und was haben auch die Kinder in den Herkunftsländern, deren Eltern recht-mäßig in Deutschland leben, damit zu tun, wenn diese zu ihren Eltern kommen wollen?
Das Ziel dieser Verordnung, meine Damen und Herren , ist mit Sicherheit ein weitreichendes. Diese Bundesregierung will offensichtlich nicht die Integration der hier lebenden Türken in die deutsche Gesellschaft sondern vielmehr deren Absonderung und Abschottung, deren Segregation also.
Für die Integration müßten vielmehr Maßnahmen folgen, die die rechtliche, politische und soziale Gleichstellung und Gleichbehandlung der hier dauerhaft lebenden Menschen zum Ziele haben.
Erleichterte Einbürgerung, und das bedeutet weg vom völkischen Blut- und Abstammungsprinzip, hin zum Territorialprinzip. Zumindest aber Akzeptierung auch des Territorialprinzips. Damit wären alle in Deutschland geborenen Kin-der, um die es bei dieser Verordnung hauptsächlich geht, automatisch deut-sche Staatsbürger, wie in fast allen westlichen Nachbarstaaten.
Einen Rechtsanspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft nach beispiels-weise achtjährigem rechtmäßigem Aufenthalt in Deutschland, und zwar ohne die erzwungene Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit.
Die Anerkennung von doppelten Staatsbürgerschften also.
Die Verabschiedung eines Antidiskriminierungsgesetzes zur rechtlichen Gleichbehandlung. Hinter dieser Verordnung steht darüber hinaus die Absicht, die Sozialhilfeemp-fänger unter den Nichtdeutschen mit raffinierteren, gleichwohl rechtswidrigen Mitteln aus Deutschland zu verdrängen, weil sie selbst nach jahrzehntelangem Aufenthalt und jahrzehntelanger Arbeit in Deutschland wegen Sozialhilfebezug nicht mehr abschiebbar sind. Auch durch die Verhinderung des Kindernach-zugs soll der stark belastete Arbeitsmarkt durch Verhinderung der Familienzu-sammenführung mittels Visumpflicht entlastet werden. Hierdurch wird versucht, ein Grundrecht zu eliminieren.
Zugleich werden die Ausländer mit diesen Maßnahmen zu Sündenböcken für das Versagen der Politik der Bundesregierung, der zunehmende Arbeitslosig-keit, der Verarmung und der zunehmenden Verunsicherung bei Teilen der Be-völkerung gemacht.
Dafür sollen die Schwächsten, die keine politischen Rechte haben und nicht zum Wahlvolk gehören, in den Augen viele Bürger verantwortlich gemacht werden.
Herr Bundesinnenminister Kanther, Sie haben es in der Tat geschafft, die 2,2 Mio. ‚Deutschland-Türken‘, aber auch die anderen Einwanderer zu empören und zu verärgern. Sie haben es geschafft den Inländern ohne deutschen Paß zu demonstrieren, daß sie Frem-de und Ausländer sind.
Sie werden es aber nicht schaffen, Mitten in Europa in einem demokratischen Rechtsstaat ihre politischen Vorstellungen nach Lust und Laune zu Lasten an-derer Menschen durchzusetzen.
Es ist beschämend gerade 1997 im ‚Europäischen Jahr gegen Rassismus‘ diese diskriminierende, in ihrer Grundintention und ihrem Gehalt auch rassisti-sche Maßnahme zu ergreifen.
In diesem pluralistischen und demokratischen Rechtsstaat gibt es Medien, Parteien und viele Menschen, die diese Willkürmaßnahme entschieden ableh-nen.
Am 14. März wird im Bundesrat über diese Verordnung entschieden. Verwei-gert der Bundesrat ihr die Zustimmung, so wird es sie nicht mehr geben, da es sich um eine zustimmungspflichtige Verordnung handelt.
Die SPD, die ja seit Jahren für eine bessere Integration und für einen gesicher-ten Rechtstatus, für erleichterte Einbürgerung der hier dauerhaft lebenden Ein-wanderer eintritt, muß jetzt ihre Glaubwürdigkeit unter Beweis stellen. Sie hat bekanntlich im Bundesrat die Mehrheit. Sie kann nicht mehr glaubhaft be-hauten, sie wolle zwar, habe aber nicht die entsprechende Mehrheit, eine sol-che Verordnung zu verhindern.
Die türkische Bevölkerung Deutschlands, aber auch die Einwandererbevölke-rung insgesamt erwartet von der SPD eine klare Ablehnung dieser Eilverord-nung am 14 März. Die Glaubwürdigkeit der SPD wird irreparabel Schaden nehmen, wenn diese Verordnung dauerhaft Bestand erlangen sollte. Bündnis 90 / Die Grünen lehnen diese Maßnahme entschieden ab. Dafür gilt ihnen unser Dank.
Wir haben unsere bundesweiten Protestaktionen unter großem Zeitdruck durchführen müssen. An einem Wochenende wären unserem Demonstrati-onsaufruf sicher auch weit mehr berufstätige Menschen gefolgt.
Diese Kundgebung hier in Hamburg wurde von der ‚Türkischen Gemeinde in Deutschland‘ und dem ‚Bündnis Türkischer Einwanderer‘ gemeinsam mit dem ‚Koordinationsverband Türkischer Vereine in Hamburg und Schleswig-Holstein‘ sowie mit Vereinen von ‚DIDIP‘ und vielen anderen organisiert. Ich danke allen für ihr Engagement.
Ich danke den Medien, die unsere Aktionen mit Interesse begleitet und uns somit unterstützt haben.
Ich danke Ihnen allen, daß Sie so zahlreich an dieser Kundgebung teilgenom-men haben.