Verlässlichkeit gefordert

Meinungsartikel im 'Neuen Deutschland'

Im Dezember 2004 wurde von den Staats- und Regierungschefs der EU einstimmig beschlossen, Verhandlungen mit der Türkei mit dem Ziel der Vollmitgliedschaft aufzunehmen.

Trotzdem werden aus einigen EU-Mitgliedstaaten, wie Frankreich und Deutschland, immer wieder Stimmen laut, die eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union grundsätzlich in Frage stellen.

So betonen zahlreiche christdemokratische Politiker in Deutschland, wie auch Bundeskanzlerin Merkel, nach wie vor, dass sie im Falle der Türkei lediglich eine sogenannte privilegierte Partnerschaft für angemessen halten. Frankreich will zum Beitritt der Türkei sogar ein Referendum durchführen. Es wäre das erste Mal, dass Frankreich über die Frage eines EU-Beitritts per Volksabstimmung entscheiden würde. Dies wäre eine weitere Ungleichbehandlung der Türkei, die seit 1963 – und damit länger als jeder andere Beitrittskandidat! – einen schier unendlichen Bewerbungsmarathon durchläuft.

Nachdem wichtige Fortschritte auf verfassungs- und strafrechtlicher Ebene erreicht worden sind, wird nunmehr von Türkei-Skeptikern die Insel Zypern zur Gretchenfrage einer Vollmitgliedschaft gemacht. Die Türkei solle zumindest indirekt die Republik Zypern, also den griechischen Südteil der Insel, anerkennen. Alles andere hätte einen Abbruch der Verhandlungen zur Folge!

Dabei war es die EU, die mit der Aufnahme eines geteilten Zyperns am 1. Mai 2004 einen historischen Fehler machte. Aufgrund des ‚Annan-Plans‘, den auch die EU unterstützte, sollte die Wiedervereinigung Zyperns erfolgen. Zunächst hatten sich Vertreter beider Seiten der Inselbevölkerung für den Plan ausgesprochen. In einem Referendum am 24. April 2004 votierten die griechischen Zyprioten jedoch deutlich gegen die Wiedervereinigung, während sie eine große Mehrheit der türkischen Zyprer befürwortete. Die EU nahm den griechischen Teil der Insel trotzdem auf. Zu einer guten Demokratie gehört auch Verlässlichkeit – und hier müssen sich die Mitgliedstaaten fragen lassen, wie es um ihre Vertragstreue steht. Sollte einer demokratischen und ökonomisch hinreichend soliden Türkei die Vollmitgliedschaft verschlossen bleiben, hätte dies fatale Auswirkungen. Der Großteil der türkischen Bevölkerung wendet sich schon jetzt von der EU ab. Man ist frustriert und sieht im ungerechten Umgang der EU mit der Türkei eine Hinhaltetaktik.

Die EU ist ein zukunftsgerichtetes Modell einer offenen und multikulturellen Gesellschaft. Ihr Verdienst sollte nicht nur darin bestehen, den Wohlstand und den sozialen Frieden ihrer Bevölkerung zu sichern und zu steigern, sondern auch zum Prozess eines engen Dialogs und Austausches mit anderen Religionen und Kulturen und somit zum Frieden weltweit beizutragen. In diesem Sinne ist die EU-Mitgliedschaft der Türkei für dieses ‚Projekt Europa‘ bestens geeignet. Die Türkei, die sich das westliche Lebens- und Zivilisationsmodell zu eigen gemacht hat, will als ein laizistischer Staat mit ihrer überwiegend muslimischen Bevölkerung einem säkularen Europa beitreten.

Den Türkinnen und Türken sollte eine ebenso faire Chance eingeräumt werden wie jedem früheren Beitrittskandidaten, damit die Europäische Union auch nach ihrem 50-jährigen Jubiläum nicht erstarrt.


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