Versöhnung auf Befehl?

in: Süddeutsche Zeitung

Immer heftiger wird in Europa darüber gestritten, ob die Türkei die Massaker an den Armeniern im Ersten Weltkrieg anerkennen muss. In dieser Frage Druck auf Ankara auszuüben, hilft jedoch nicht – die Türken müssen selbst die Bereitschaft entwickeln, sich mit den Taten zu befassen. Ein Gastbeitrag von Faruk Sen


Muss die Türkei anerkennen, dass im Ersten Weltkrieg durch die osmanische Armee zwischen 600.000 und 1,3 Millionen Armenier massakriert wurden? Diese Frage wird in Europa immer intensiver diskutiert – allerdings über die Köpfe derjenigen hinweg, die dabei beschuldigt werden.

Der vor drei Monaten in Istanbul ermordete armenisch-türkische Schriftsteller Hrant Dink hatte dies klar erkannt. Er versuchte gerade darauf hinzuwirken, dass sich die Türkei aus eigenem Antrieb und aus eigener Überzeugung mit dem Vorwurf auseinandersetzen sollte, Völkermord an den Armeniern begangen zu haben.

Den Druck, der aus Armenien und auch aus der armenischen Diaspora auf die Türkei seit langem ausgeübt wird, lehnte Dink ab. Eine Schuld anzuerkennen – derlei kann nicht oktroyiert werden; diese Einsicht muss in einer Gesellschaft selbst wachsen.

Und eine ehrliche Auseinandersetzung mit der türkisch-osmanischen Geschichte kann schon deshalb nicht aus dem Ausland veranlasst werden, weil sie Teil einer viel größeren Aufgabe ist: Es ist ja ohnehin an der Zeit für die Türken, endlich eine Form von Nationalgefühl zu etablieren, das einem Vielvölkerstaat angemessen ist.

Die Türkei ist Erbin des Osmanischen Reiches, das insgesamt 72 ethnisch-religiöse Gruppen umfasste. Sie muss sich mit den positiven wie den negativen Aspekten dieses Reiches, mit seinen zivilisatorischen Leistungen wie mit seiner historischen Schuld auseinandersetzen. Dazu gehört auch die Versöhnung mit den Armeniern – jenen, die in der Türkei leben, jenen in anderen Ländern und auch mit dem Staat Armenien selbst sowie dessen Bürgern.

Die Ereignisse des Jahres 1915 sind in der Türkei noch längst nicht verarbeitet. Zweifellos hat sich das Klima in der Türkei in den vergangenen Jahren bereits verändert. Die Massaker an den Armeniern sind längst kein Tabu mehr, auch nicht für die Regierung in Ankara.

Wohl aber wird bestritten, dass diese Massaker den Charakter eines Völkermordes hatten. Es wäre zu einfach, den Grund dafür in blindem Nationalismus zu sehen. Für viele Türken ist der Begriff des Völkermords, des Genozids, untrennbar mit dem Holocaust verbunden.


Massaker an Muslimen

Bei den Massakern an den Armeniern herrschten historisch vollkommen andere Voraussetzungen, sie geschahen nicht, weil die Armenier von den Türken so betrachtet worden wären wie die Juden von den Nationalsozialisten.

Mit Hitler aber will niemand verglichen werden. Es herrschten im Osmanischen Reich damals bürgerkriegsähnliche Zustände. Nicht nur Armenier, sondern auch Hunderttausende Türken kamen ums Leben. Viele der heute lebenden Türken haben die Opfer der armenischen Massaker an Muslimen im Ersten Weltkrieg nicht vergessen.

Die Art und Weise, in der die Debatte um die Anerkennung der Massaker als Völkermord geführt wird, missachtet die eigentlichen Interessen sowohl der Türkei als auch Armeniens an einer pragmatischen Versöhnung. Der aus der Türkei stammende Bundestagsabgeordnete Hakki Keskin (Die Linke) bestritt im vergangenen Dezember den Genozid-Charakter der Verbrechen an den Armeniern.

Er löste damit eine Diskussion aus, die rasch hochproblematische Züge bekam, unabhängig davon, wie man zu seiner Aussage steht. Die armenische Gemeinde in Deutschland verlangte, Keskin aus der Linksfraktion zu entfernen. Danach wurde auch in den deutschen Medien latent der Eindruck vermittelt, Keskin befinde sich, wenn nicht außerhalb des deutschen Grundkonsenses, so doch zumindest jenseits dessen, was für einen öffentlichen Funktionsträger in Deutschland hinnehmbar sei.

Wenn aber der Zweck eines Diskurses weniger in Erkenntnis als vielmehr in Ausgrenzung besteht, drängt sich doch der Verdacht auf, dass es dabei weniger um Gerechtigkeit für die Opfer geht. Liegt die Vermutung wirklich fern, dass es sich hier auch um eine politische Auseinandersetzung handelt, bei der die Opfer lediglich dazu benutzt werden, die Türkei unterschwellig zu diskreditieren? So kann auch ein bald hundert Jahre zurückliegendes Ereignis nützlich sein, einen EU-Beitritt der Türkei zu verhindern.

Zu einer türkisch-armenischen Versöhnung gehören auch Schritte Armeniens. Noch immer hat Armenien den heutigen Grenzverlauf mit der Türkei völkerrechtlich nicht anerkannt.

Vor einer eventuellen Anerkennung eines Völkermordes an den Armeniern durch die Türkei könnte die armenische Regierung klarstellen, dass sie anschließend nicht gedenkt, Ansprüche zu stellen: dass sie weder Gebiete noch Schadenersatz reklamieren will. Unter solchen Voraussetzungen würden die Ereignisse von 1915 in der türkischen Öffentlichkeit nochmals ganz anders diskutiert.

Auf der anderen Seite muss die Türkei ohne Vorbedingungen ihre Grenze zu Armenien für den Personenverkehr öffnen. Es reicht nicht, dass es inzwischen Flugverbindungen aus Armenien nach Istanbul gibt. An der armenisch-türkischen Grenze in Ostanatolien und am nordöstlichen Rand des Schwarzen Meers müssen endlich persönliche Begegnungen möglich werden.

Nur so können die beiden Völker ihre gegenseitigen Vorurteile abbauen. Die Lösung des Konflikts um die von Armeniern bewohnte aserbaidschanische Region Berg-Karabach darf für einen solchen türkischen Schritt nicht länger die Vorbedingung sein.

Der Streit, zu welchem Staat Berg-Karabach gehören soll, schwelt seit dem Ende der Sowjetunion zwischen Armenien und Aserbaidschan; die Türkei hat sich dabei auf die aserbaidschanische Seite geschlagen. Aber hierbei geht es ausschließlich um eine Angelegenheit zwischen Aserbaidschan und Armenien, in der es keinerlei genuin türkische Interessen gibt. Entsprechend sollte die Türkei sich auch verhalten.

In den USA, sowie in Frankreich und in Deutschland haben viele Türken und auch viele Armenier eine neue Heimat gefunden. Diese Länder könnten einen besonderen Beitrag zur Verständigung beider Völker leisten. Sie sollten Foren für Dialog und Austausch organisieren. Derzeit leben mehr als fünf Millionen Armenier außerhalb Armeniens (das nur drei Millionen Einwohner hat).

Rund 6,5 Millionen Türken leben außerhalb der Türkei (im Mutterland selbst: 75 Millionen). Schon dadurch verfügen sie über einen gewissen Abstand zu ihren Heimatländern, den Diskussionen und Emotionen dort. Sie sind geradezu prädestiniert, für Versöhnung einzutreten. Sie sollten in ihren Aufnahmeländern nicht länger Stellvertreterkriege über die Bewertung der Geschichte führen.

Faruk Sen ist Direktor des Zentrums für Türkeistudien an der Universität Duisburg-Essen.