Eine grundlegende Frage beschäftigt mich ständig. Es ist die Frage: Wie sehe ich Deutschland?
Ich lebe nunmehr seit mehr als 40 Jahren in diesem Land, habe die schönsten Jahre meiner Jugend und meines bisherigen Lebens hier verbracht und übe als Hochschulprofessor und Bundestagsabgeordneter zweifelsohne höchst angesehene Tätigkeiten aus. Bin ich ganz spontan in der Lage, Deutschland von Herzen als meine Heimat, als ‚mein‘ Land zu betrachten und mich mit ihm voll zu identifizieren? Falls nicht, warum eigentlich nicht? Was sind die Gründe hierfür? Ich weiß, dass diese Frage nicht nur mir, sondern auch vielen anderen Menschen mit Migrationshintergrund durch den Kopf geht. Sie beschäftigt unzählige Menschen – unbeschadet ihres Bildungshintergrundes, ihres Berufes und ihrer gesellschaftlichen Stellung – genau so brennend wie mich.
Dieses meines Erachtens elementare Thema möchte ich gern im Folgenden erörtern.
Meine Antwort auf diese Frage ist das Produkt meiner Lebenserfahrung in und mit diesem Land. Sie zu verstehen und nachzuvollziehen ist ohne einen kurzen Abriss meiner Biografie nicht möglich.
Es war Weihnachten 1964, als ich nach meinem Abitur in der Türkei nach Deutschland kam, um Politikwissenschaften zu studieren. In Hamburg erlernte ich die deutsche Sprache und erlangte im Studienkolleg der Universität Hamburg die Hochulreife. An der Freien Universität in Berlin studierte ich die Fächer Politik- und Wirtschaftswissenschaften, in denen ich auch promovierte. Studium und Promotion ermöglichte mir ein Leistungsstipendium der Freien Universität Berlin. Anschließend kehrte ich in die Türkei zurück. Ich war in der Planungsbehörde unter Ministerpräsidenten Ecevit tätig. Ich wollte in der Türkei arbeiten und dazu beitragen, dass die Türkei sich rasch entwickelt und dass ihre politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung westeuropäischen Normen standhält.
Im Jahr 1980 kehrte ich aus politischen Gründen wieder nach Deutschland zurück. Bis 1982 arbeitete ich als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege Berlin und war Berater des Innensenators. Von September 1982 bis Oktober 2005 lehrte ich als Professor für Politikwissenschaften und Migrationspolitik im Fachbereich Sozialpädagogik an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. Als erster türkeistämmiger Abgeordneter war ich von 1973 bis 1977 Mitglied der Hamburger Bürgerschaft. Seit Oktober 2005 bin ich Mitglied des Deutschen Bundestages.
In den Jahren 1968 bis 1971 war ich Vorsitzender der Türkischen Studentenföderation in Deutschland (ATÖF). Von 1972 bis 1977 arbeitete ich Berlin und deutschlandweit in den Progressiven Volksvereinen der Türkei (HDF) mit. In den Jahren 1985 bis 1998 war ich Vorsitzender der Türkischen Gemeinde Hamburg und Umgebung (damals ‚Bündnis Türkischer Einwanderer Hamburg‘). 1995 war ich Mitbegründer der Türkischen Gemeinde in Deutschland, deren Vorsitzender ich auch bis zum Jahr 2005 war. Nach meinem Einzug in den Bundestag wurde ich zu deren Ehrenvorsitzenden ernannt.
Wie aus meinem Lebenslauf hervorgeht, bin ich seit 40 Jahren sowohl außer- als auch innerparlamentarisch politisch aktiv. Ich habe als Hochschullehrer 25 Jahre lang einen der angesehensten Berufe in Deutschland ausgeübt. Ich habe also Positionen und Aufgaben übernommen, die nur selten einem gebürtigen Deutschen offen stehen, geschweige denn einem Menschen mit Migrationshintergrund. Was meine berufliche und politische Karriere anbelangt, habe ich also keineswegs Anlass zur Klage.
Aber auch darüber hinaus verdanke ich Deutschland sehr viel. Meine Studienjahre, insbesondere 1968 und die darauf folgenden Jahre, die von der Studentenbewegung geprägt waren, kann ich als die schönste Phase meines Lebens bezeichnen. Ich hatte hunderte deutsche Freunde und Kommilitonen, zu manchen von ihnen habe ich bis heute Kontakt. Gerade in diesen Jahren habe ich nie Diskriminierung oder Ausgrenzung erlebt oder gespürt. Ich habe mich nie anders als meine deutschen Freunde wahrgenommen, und ich kann mich an keinen Zwischenfall erinnern, der mir dazu Anlass hätte bieten können. In den Berliner Studentenheimen, in denen ich wohnte, habe ich unter den deutschen Studenten und den Kommilitonen aus aller Welt nicht die geringste Diskriminierung wahrgenommen – weder gegenüber meiner Person, noch anderen ausländischen Studenten gegenüber.
Während meiner aktiven politischen Tätigkeit als Vorsitzender der Türkischen Studentenföderation in Deutschland habe ich stets Unterstützung und Solidarität erhalten. Als mir aufgrund dieser Tätigkeit 1970 meine türkische Staatsbürgerschaft aberkannt wurde, unterstützten mich hunderte Institutionen und Persönlichkeiten, zu denen auch Ex-Bundespräsident Gustav Heinemann, Günter Grass und Jean-Paul Sartre gehörten, und ermöglichten mir so, dass ich in Deutschland weiterstudieren konnte.
Noch existenzieller als das war jedoch, dass ich 1985 auf der Todesliste der terroristischen Organisation PKK stand. Die für Personenschutz zuständige deutsche Behörde setzte mich davon in Kenntnis und beschützte mich ein ganzes Jahr lang. Ohne diesen Schutz hätte ich wo möglich ein Opfer des Terrorismus werden können.
Wie deutlich ersichtlich ist, schulde ich Deutschland in erster Linie große Dankbarkeit. So positive Lebenserfahrungen kann man nicht einfach ignorieren oder gar vergessen. Meine Identifikationsprobleme mit diesem Land sind also sicher nicht das Resultat von persönlicher Enttäuschung.
Und dennoch stelle ich mir immer noch die Frage, die mich in meiner Identität sogar selbst in Frage stellt: Wie sehe ich Deutschland? Sehe ich mich in Deutschland als Deutscher? Ist Deutschland nun meine neue Heimat? Welche Gefühle und Empfindungen hege ich spontan gegenüber der deutschen Gesellschaft? Konnte Deutschland, wo ich – abgesehen von meinen Türkeiaufenthalten – seit über 40 Jahren lebe und mehr als zwei Drittel meines Lebens verbracht habe, mir im wahrsten Sinne eine Heimat werden?
Ich bin bereits seit 15 Jahren deutscher Staatsangehöriger, und ich stelle mir diese Frage immer noch. Im Grunde genommen müsste die spontane Antwort auf diese Frage lauten: Natürlich! Ich bin deutscher Staatsbürger! Mehr sogar, ich bin Deutscher! Dieses Land ist meine Heimat. Ich habe mich mit Deutschland und der deutschen Gesellschaft gänzlich identifiziert. Ich sage ‚müsste‘. Denn offensichtlich habe ich Schwierigkeiten, diese Frage spontan so zu beantworten.
Warum nur? Tue ich damit Deutschland nicht unrecht? Gar mir selbst unrecht? Wie kann es sein, dass ich trotz eines solch erfüllten Lebens immer noch Vorbehalte habe? Ist dies mein individuelles Problem oder ist diese nicht enden wollende Suche nach einer eindeutigen Antwort das Schicksal aller Menschen mit Migrationshintergrund?
Ist dieser Standpunkt auf meine emotionale Bindung zur Türkei, auf die Beziehung zu meinen dort lebenden Verwandten und auf die dort erlebten Jahre der Kindheit und frühen Jugend zurückzuführen? Lässt mich bzw. uns Migranten diese Unentschlossenheit, wie man es im Deutschen zu sagen pflegt, ‚zwei Seelen in der Brust‘ haben?
Wir Menschen mit Migrationshintergrund haben in der Tat zwei Identitäten. Zusätzlich zu der Identität des Herkunftslandes haben wir uns in Deutschland eine neue Identität angeeignet. Selbst diejenigen, die sich an die mitgebrachten ethnischen, religiösen, ethischen und gesellschaftliche Werte und an eine traditionelle Lebensweise klammern, übernehmen im Laufe der Jahre – vielleicht sogar ungewollt und unterbewusst – viele Werte und Lebensweisen der deutschen Gesellschaft. Wenn überhaupt, kann die ursprüngliche Identität meist nur in der ersten oder allenfalls in der zweiten Generation bestimmend sein. Bei den darauf folgenden Generationen tritt gewöhnlich die deutsche Identität in den Vordergrund, während die von den Eltern oder Großeltern übernommene Identität sekundär wird. Für Menschen mit Einwanderungsgeschichte ist das Leben mit zwei Kulturen ein reicher Schatz, der ihnen die Lebensweisen und Werte beider Länder schenkt. Mit zwei Identitäten zu leben ist meines Erachtens deshalb kein Hindernis, sich der neuen Heimat, Deutschland verbunden zu fühlen.
Wo also liegen dann die Gründe? Vielleicht sind kulturelle Minderheiten aufgrund ihrer meist schwierigen Situation in der Gesellschaft allgemein sehr empfindlich und stets auf der Hut. Ich bin der Auffassung, dies dürfte auch für andere kulturelle Minderheiten in anderen Ländern gelten. Vielleicht nehmen wir Menschen mit Migrationshintergrund manche negative Erfahrungen, die wir in den jeweiligen Einwanderungsländern machen, von Zeit zu Zeit auch zu intensiv, zu persönlich und zu emotional wahr. Vielleicht müssen wir in dieser Hinsicht auch an uns arbeiten.
Aber dessen unbeschadet beeinflussen mich als Mensch, der stets in mitten der gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen gestanden hat, die negativen Lebensumstände der Menschen mit Ein-wanderungsgeschichte besonders stark. Ich bemühe mich seit über zwanzig Jahren darum, dass Migranten in Deutschland im Allgemeinen und speziell die Deutsch-Türken, in allen Ebenen dieser Gesellschaft als deutsche Bürger mit gleichen Rechten und gleichen Chancen leben können, dass sie nicht diskriminiert oder verächtlich behandelt werden. Ich wünsche mir, dass die deutsche Politik und die deutsche Gesellschaft diese Menschen einbinden, die seit Jahrzehnten hier leben und die für den Wohlstand Deutschlands einen enormen Beitrag geleistet haben. Ich wünsche mir, dass sie ihnen zurufen: ‚Ja, ihr seid in dieser Gesellschaft willkommen, und als Staatsbürger könnt ihr hier gleichberechtigt leben‘. Dass die deutsche Gesellschaft diesen Menschen die Toren öffnet und sie nicht vor der Tür warten lässt, sie nicht ausgrenzt, im Gegenteil, sie in die Gemeinschaft aufnimmt. Dafür kämpfe ich.
Während die skandinavischen Länder bereits in den 80-er Jahren den dort lebenden Migranten das kommunale Wahlrecht gewährten, wird in Deutschland selbst dieses Recht, das zwar keine große politische Entscheidungsgewalt, jedoch einen hohen Symbolcharakter hat, den Migranten bis heute verwehrt. Der Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft wurde durch das neue Einbürgerungsgesetz, mit Ausnahme für die nach 2000 hier Geborenen, zusätzlich erschwert. Das neue Gesetz wurde so konzipiert, dass insbesondere die Türken, die einen sehr hohen Anteil der Migrantenbevölkerung ausmachen, die erleichterten Ausnahmeregelungen nicht in Anspruch nehmen können.
Benachteiligungen im Bildungswesen und auf dem Arbeitsmarkt erscheren seit Jahrzehnten erheblich die n gesellschaftlichen Teilnahmebedingungen der Einwandererbevölkerung. Diskriminierung, Verachtung und Feindlichkeit bis hin zu rassistischen Anschlägen auf Migranten und Türken halten vor allem seit 1980 an. In Hoyerswerda, in Rostock, in Mölln, in Solingen und bei unzähligen weiteren Übergriffen mit rassistischen Motiven haben mehr als hundert Menschen ihr Leben verloren. Der einzige Grund für diese brutalen rassistischen Morde sowie für die Verachtungen und Belästigungen, die Migranten fast täglich erleben müssen, ist die Tatsache, dass sie eine andere Hautfarbe, eine andere Ethnie haben, anderer Nationalität sind oder aus einem anderen Land stammen. Mich als politisch tätigen Menschen berührt es zutiefst und macht es wütend, dass manche politische Parteien und deren Spitzenpolitiker seit Jahren bei Wahlen die Migranten für ihre populistischen Zwecke instrumentalisieren. Da Migranten meist keine politische Rechte haben, sind sie diesen Demagogien ohnmächtig und wehrlos ausgeliefert.
Dieses seit Jahrzehnten andauerende politische und gesellschaftliche Klima gegenüber Migranten und Türken bedrückt mich so sehr, dass es mir sogar schwer fällt, meine Gefühle in Worte zu fassen. Es reicht mir nicht, dass ich persönlich in dieser Gesellschaft akzeptiert und erfolgreich bin. Ich kämpfe seit Jahrzehnten für soziale Gerechtigkeit, für eine humane Gesellschaft und für die Chancengleichheit von Migranten. Deshalb betrüben mich die Probleme der Millionen von Menschen, die nicht so privilegiert sind wie ich, zutiefst. Es ist der Umgang der deutschen Gesellschaft mit den Migranten und insbesondere Deutsch-Türken, der mich davon abhält, mich mit Deutschland ohne Vorbehalt zu identifizieren. Würde die Migrantenbevölkerung als Teil dieser Gesellschaft betrachtet, mit gleichen Rechten und gleichen Chancen, dann wäre es mir sicher möglich, Deutschland vorbehaltlos als meine Heimat zu betrachten.
Ob es mein eigener Migrationshintergrund ist, der mich dazu bringt, mich instinktiv mit den ungerecht behandelten Migranten und insbesondere den Deutsch-Türken zu solidarisieren? Vielleicht ist es auch unabhängig davon mein tiefes Engagement für soziale Gerechtigkeit. Es scheint mir umso schwerer zu fallen, Deutschland ohne nachzudenken als meine Heimat zu betrachten, je mehr die deutschen Politiker und vielleicht auch die deutsche Gesellschaft die Türen verschlossen halten für diejenigen, die in diesem Land ihre Heimat sehen wollen.
Zumindest fühle ich so, solange ich mich in Deutschland befinde. Sobald ich mich aber im Ausland oder sogar in der Türkei aufhalte, bin ich ein leidenschaftlicher Fürsprecher dieses Landes und widerspreche etwaigen Kritiken und Beanstandungen, erst recht, wenn sie übertrieben oder nicht gerechtfertigt sind. Genau dann verteidige ich mit Herzblut Deutschland als meine Heimat.
Das ist mein Dilemma. Deutschland ist uneingeschränkt meine Heimat, wenn ich in der Fremde bin, aber ich fühle mich nicht vollständig zuhause, wenn ich mich in Deutschland aufhalte. Aber möglicherweise ist meine kritische Haltung zu Deutschland aber auch Ausdruck einer echten patriotischen Einstellung, Ausdruck dafür, dass ich dieses Land in einer bestmöglichen Lage sehen will.
Ich liebe dieses wirklich schöne Land tatsächlich, insbesondere Hamburg und Berlin, wo ich mein ganzes Leben in Deutschland verbracht habe. Für mich ist Hamburg die schönste Stadt Deutschlands, und Berlin ist eine Weltmetropole, in der es sich auf das Angenehmste leben lässt. Ich betrachte es als einen großen Glücksfall für mich, dass ich in diesen beiden Städten mehr als 40 Jahre meines Lebens verbringen konnte. (mir fehlt die Geborgenheit und die Wärme in Deutschland, wo ich mich wirklich zuhause fühlen könnte.)