Mythos und Realität des tol. Berlin – FES

Berlin: Fremde Heimat - vertraute Fremde ?
Mythos und Realität des toleranten Berlins- Eine historische Einführung am Beispiel der Hugenotten und Juden-

Die aktuelle Diskussion zwischen dem stellvertretenden Vorsitzenden der FDP, Möl-lemann, und den Jüdischen Gemeinden in Deutschland, ausgelöst durch Mölle-manns Äußerung, der Vizepräsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Mi-chel Friedman, sei für den Antisemitismus in Deutschland mitverantwortlich, hat zu Recht zu massiven Protesten vor allem bei den Jüdischen Gemeinden geführt. Viel-leicht ungewollt hat Herr Möllemann mit seiner Aussage Parallelen zu der jahrhundertelangen Diskriminierung der Juden in Deutschland, wie diese Analyse zeigt, wach werden lassen.

Zu diesem Thema hielt ich vor einem Jahr bei der Friedrich Ebert Stiftung Berlin ei-nen Vortrag. Bei der historischen Analyse des Lebens der Hugenotten und Juden in Preußen, die sich über einen Zeitraum von mehr als 300 Jahren erstreckte, habe ich feststellen können, dass die Entstehung des Nationalsozialismus in Deutschland auf einer langen historischen Tradition basiert.

Am Beispiel der Behandlung von zwei Minderheiten in Deutschland, den Hugenotten und den Juden, kann beobachtet werden, welche Folgen die lang anhaltende Diskri-minierung und Abschottung einer Minderheit haben kann. Aus dieser kurzen Analyse können auch Folgerungen für die gegenwärtige und zukünftige Migrationspolitikt Deutschlands gezogen werden.

Beispiel ‚Hugenotten‘

Die rund 20.000 Hugenotten wurden vom Großen Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg-Preußen mit dem am 8.November 1685 veröffentlichten Edikt von Potsdam, also vor genau 316 Jahren, eingeladen, nach Preußen zu kommen. Nach dem Verbot ihres protestantischen Glaubens calvinistischer Prägung in Frankreich, standen die Hugenotten vor der Alternative, entweder zum Katholizismus zu konver-tieren oder Kerkerstrafen in Kauf zu nehmen (Spaich, H., Fremde in Deutschland, Weinheim und Basel1981, S.94 ff.).

Daher flohen 200.000 französische Flüchtlinge in die protestantischen Nachbarländer Schweiz, die Niederlande, England und Bran-denburg-Preußen.

Das Edikt von Potsdam beinhaltete die Aufnahme-, Niederlassungsbedingungen und -orte, die beruflichen Möglichkeiten, das Recht der Religionsausübung bis hin zu den Fragen der Rechtsprechung für die Hugenotten (Das Edikt von Potsdam, Die Aus-länderbeauftragte des Senats von Berlin, Berlin 1985, S. 8.ff). Das durch den Dreißigjährigen Krieg stark zerstörte und entvölkerte Brandenburg-Preußen hatte großes Interesse an einer Zuwanderung.

So wurden gern protestanti-schen Glaubensflüchtlinge auch aus anderen Ländern aufgenommen, besonders willkommen waren die fachlich und beruflich gut ausgebildeten Hugenotten. Deshalb wurden ihnen in dem Edikt von Potsdam besondere Vergünstigungen und Privilegien gewährt, die sie sogar besser als die einheimische Bevölkerung stellten.

Ein Sonder-recht räumte ihnen die Möglichkeit ein, bei internen Streitigkeiten einen Schiedsrich-ter aus den eigenen Reihen zu wählen, bei Konflikten mit Deutschen sollte ein von Deutschen und Franzosen zusammengesetztes Gremium schlichten. In Religionsan-gelegenheiten erhielten die Hugenotten eine religiöse Selbstverwaltung. Auch ihre Gemeindeangelegenheiten, sie wohnten unter sich, konnten die Hugenotten selbst verwalten.

Da die Adligen unter den Hugenotten dem deutschen Adel gleichgestellt waren, hat-ten sie Zugang zu den höchsten Ämtern am Hofe und beim Militär. Die Hugenotten waren in vielen Berufen und Branchen tätig, vor allem aber im Be-reich der Textil- und Bekleidungsarbeiten. Sie gründeten zahlreiche Manufakturen und führten 46 neue Berufe nach Preußen-Brandenburg ein (ebda, S.16 ff).

Die vielfältigen Leistungen und Beiträge der französischen Flüchtlinge wurden vom Freiherrn von Pöllnitz mit folgenden Worten gelobt: ‚Wir haben ihnen unsere Ma-nufakturen zu danken und sie gaben uns die erste Idee vom Handel, den wir nicht kannten. Berlin verdankt ihnen seine Polizei, einen Teil seiner gepflaster-ten Straßen und seine Wochenmärkte. … sie haben diese Stadt zu einer der schönsten Städte Europas gemacht. Durch sie kam der Geschmack an Küns-ten und Wissenschaften zu uns. Sie milderten unsere rauhen Sitten, sie setzten uns in den Stand, uns mit den aufgeklärtesten Nationen zu vergleichen…‘ (eb-da, S.3).f

Die französischen Flüchtlinge stießen bei der deutschen Bevölkerung, insbesondere bei den Handwerkern, eher auf Ablehnung, da sie als Konkurrenten betrachtet wur-den. ‚An beinahe allen Orten, wo Hugenotten lebten‘, so der Historiker Herbert Spaich, ‚galt die Devise ‚den Franzosen das Handwerk zu legen“ (ebda,S.102). Auch die aus der südfranzösischen Heimat mitgebrachten Sitten und Gebräuche und die lebhafte und temperamentvolle Lebensweise der Hugenotten, nicht zuletzt ihre dunkle Hautfarbe, wurde von den Einheimischen als unangenehm empfunden.

In den Gemeinden der Hugenotten hat es neben den Kirchen ein eigenes Kranken-haus, soziale Einrichtungen und Schulen, darunter sogar ein Gymnasium im Bezirk Tiergarten gegeben, die von der Französischen Kirche verwaltet wurden.

Obwohl Französisch im gehobenen Bürgertum und am preußischen Hof aber auch in anderen europäischen Staaten die bevorzugte Fremdsprache war, konnten sich die Nachfahren der Hugenotten knapp einhundert Jahre nach der Immigration nur noch schwer auf Französisch verständigen. 1780 wurde daher der kirchliche Schulunter-richt auf deutsch umgestellt. Nach langer Diskussion innerhalb der Gemeinde der Hugenotten konnten die Gottesdienste ab 1820 aus Verständigungsgründen nur noch in deutsche Sprache erfolgen. Erst 1808/1809 hob Preußen schließlich die Sonderrechte und Privilegien für Huge-notten auf.

Die Hugenotten haben sich nach und nach gänzlich assimiliert oder sie wurden as-similiert. Nur noch die Namen erinnern an den Ursprung dieser Minderheit. Auf die aktuelle Diskussion über fehlende Deutschkenntnisse vor allem der ersten Einwanderergeneration bezogen, können wir am Beispiel der Hugenotten diejenigen beruhigen, die ethnische oder auch sprachlich-kulturelle Territorien, also Gettos, der Minderheiten befürchten. Der Assimilationsdruck reicht in unserer Zeit so weit, dass die meisten Kinder oder Enkel der Immigranten bereits in dritter Generation erhebli-che Probleme haben, sich in der eigenen Muttersprache zu verständigen. Meist kommunizieren sich untereinander in deutscher Sprache.

Im Vergleich mit der Bundesrepublik Deutschland erwies sich die Politik der Monar-chen von Brandenburg-Preußen gegenüber den französisch-protestantischen Flüchtlingen als viel konsequenter, großzügiger und toleranter – wie problematisch ein Vergleich wegen der unterschiedlichen Gegebenheiten auch sein mag. Die Be-weggründe zur ‚Einladung‘ der Hugenotten und zur Anwerbung der sogenannten ‚Gastarbeiter‘ scheinen jedoch ähnlich zu sein: Auch die Bundesrepublik Deutsch-land und Berlin-West brauchten nach dem zweiten Weltkrieg Arbeitskräfte, um das zerstörte und an jungen Menschen dezimierte Land wieder aufzubauen. Auf keinen Fall darf jedoch die großzügige humanitäre Seite der Aufnahme der Hu-genotten als unmittelbar verfolgte Flüchtlinge unterschätzt werden. Die französischen Flüchtlinge fanden eine neue Heimat, in der sie ohne Diskriminierung lebten. Ihre eigene kulturelle Idendität haben sie jedoch nicht bis heute bewahren können. Auf die aktuelle Ausländerpolitik komme ich noch zurück.

II. Beispiel ‚Juden‘

In den Urkunden Berlins werden die Juden erstmalig im 13.Jahrhundert erwähnt. Unter dem Großen Kurfürst Friedrich Wilhelm, der die protestantischen Flüchtlin-gen aus Frankreich und den Niederlanden ohne Einschränkungen in Brandenburg-Preußen aufnahm, ja ihnen sogar besondere Privilegien gewährte, galten die glei-chen Bestimmungen für jüdische Einwanderer nicht.

Als 1671, also vor 330 Jahren, zunächst 50 jüdische Familien nach Berlin einwandern wollten, mußten sie ein be-stimmtes Vermögen für ihre Aufnahme nachweisen (Geschichte des Jüdischen Vol-kes, Informationen zur politischen Bildung, Bonn 1991, S.27). Als sogenannte ‚Schutzjuden‘ durften sie zunächst auf 20 Jahre beschränkt zur ‚Förderung des Handels‘ nur im Bereich Warenhandel tätig sein. Erst weitere 20 Jahre später durften die Juden auch in Manufakturen und im Handwerken tätig sein.

Im Unterschied zu anderen Bevölkerungsgruppen mussten die aufgenommenen Ju-den höhere Steuern zahlen. Friedrich Wilhelm I (1713-1740) verschärfte die Aufnahmebedingungen für jüdische Einwanderer: sie mussten ein Vermögen von 10.000 Talern nachweisen. Mit einem ‚Judengesetz‘ von 1730 mit dem Ziel, die Bevölkerungszuwachs unter den Juden zu begrenzen, bekamen nur die erstgeborenen Kinder der wenigen Schutzjuden ein Niederlassungsrecht. Für Zweitgeborene konnte eine Niederlassungsbewilligung ge-gen eine hohe Summe erkauft werden. ‚Alle anderen mussten unverheiratet, das heißt kinderlos bleiben oder auswandern.‘ (Gidal, N.T., Die Juden in Deutschland, Gütersloh 1988, S.115). 1730 wurde die Zahl der jüdischen Familien mit Wohnsitz in Berlin auf 100 begrenzt. Auch die handwerkliche Tätigkeit für Juden wurde stark eingeschränkt.

Friedrich II verfügte 1750 mit seinem Reglement für die Judenschaft ihre Teilung in sechs Klassen. Die rechtliche Lage der Juden hing damit unmittelbar von ihrer öko-nomischen Lage ab, je reicher um so mehr Rechte und je ärmer um so weniger Rechte. Die erworbenen Rechte mußten mit viel Geld erkauft werden.

Der jüdischer Historiker Gidal bewertet die Lage der Juden in Brandenburg-Preußen Mitte des 18. Jahrhunderts so: ‚Die große Anzahl der heimatlosen Betteljuden war rechtlos, wurde verfolgt und immer wieder aus dem Land getrieben. Kein Jude durfte übrigens auf dem flachen Land wohnen, Landwirtschaft oder ein Handwerk betrei-ben.‘ (Ebda.,S.116).

Die Ausweisung der sogenannten ’nicht Schutzjuden‘ aus Berlin wurde verfügt, um die Zunahme der Juden zu verhindern. Die Schutzjuden behielten das Recht, im Handel sowie im Manufaktur- und Gewerbebereich Tätigkeiten nachzugehen.

Erst 1791 erhielt die erste jüdische Familie den preußischen Staatsbürgerbrief, also 126 Jahre nach der Aufnahme der Juden in Preußen (Geschichte des Jüdischen Volkes, ebda., S.28).

Der größte Teil der Juden befand sich außerhalb der Gesellschaft und damit des staatlichen Schützes. Für die rechtliche Gleichstellung wurde erwartet, ja gefordert, dass die Juden ihre Religion zugunsten des Christentums aufgaben (Ebda.). Die Auffassung des Staates über die Gewährung von Bürgerrechten an Juden gegen Ende des 18.Jahrhunderts zeigt gewisse bemerkenswerte Parallelen zu der heutigen Diskussion über die Verleihung der Staatsbürgerschaft. Damals verlangte man die Aufgabe der Jüdischen Religion und Annahme des Christentums, um als loyaler Staatsbürger gelten zu können.

Heute verlangt man mit der gleichen Begründung die Aufgabe der bisherigen Statsbürgerschaft, um seine Loyalität gegenüber dem Staat zu belegen. In den folgenden Sätzen des Philosophen Johann Gottlieb Fichte kommt die dama-lige Staatsphilosophie gegenüber den Juden deutlich zum Ausdruck. ‚Wenn man den Juden tatsächliche Bürgerrechte geben wolle, dann gebe es kein anderes Mittel als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee ist. Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein anderes Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern (!) und sie alle dorthin zu schicken.‘ So Fichte wörtlich.

Die anti-jüdische Haltung, beladen mit Vorurteilen, ist bereits damals so weit verbrei-tet, dass Christian Wilhelm Dohm, ein preußischer Staatsrat und Archivar, sich 1781 in seiner Denkschrift die größte Mühe gibt, die Leser davon zu überzeugen, dass die Juden normale Menschen sind, auch sie den Staat lieben können, in dem sie leben und ihr Eigentum erwerben.

In seiner Denkschrift wird auch die Diskriminierung der Juden mehr als deutlich: ‚Diesem Unglücklichen also, der kein Vaterland hat, dessen Tätigkeit allenthalben beschränkt ist, der nirgends seine Talente frei äußern kann, an dessen Tugend nicht geglaubt wird, für den es fast keine Ehre gibt; – ihm bleibt kein anderer Weg des ver-günstigten Daseins, zu genießen, sich zu näheren, als der Handel. Aber auch dieser ist durch die vielen Einschränkungen und Abgaben erschwert (…) oder sie werden gezwungen, ihr Geld, das sie selbst nicht benutzen können, an andere zu verleihen.‘ (Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, Berlin und Stettin 1781,S.7 ff, z.n. ebda.). Der in Berlin lebende bekannte jüdische Philosoph und Seidenfabrikant Moses Men-delssohn beschreibt in seinem Brief von 1780 die Lage der Juden mit folgenden Wor-ten: ‚Allhier in diesem sogenannten duldsamen Lande lebe ich gleichwohl so einge-engt, durch wahre Intoleranz so von allen Seiten beschränkt, dass ich meinen Kin-dern zu Liebe mich den ganzen Tag in einer Seidenfabrik, so wie sie sich in einem Kloster, einsperren muss. Ich ergehe mich zuweilen des Abends mit meiner Frau und meinen Kindern. Papa! fragt die Unschuld, was ruft uns jener Bursch dort nach? Wa-rum werfen sie mit Steinen hinter uns her? Was haben wir ihnen getan ? – Ja lieber Papa! spricht ein anderes, sie verfolgen uns immer in den Straßen, und schimpfen: Juden! Juden! Ist denn dieses so ein Schimpfwort bei den Leuten, ein Jude zu sein? (…) Menschen! Menschen! wohin habt ihr es endlich kommen lassen?‘ (Ebda, S. 29) Mendelssohn versuchte den Christen das Leben und den Glauben der Juden be-kannt zu machen und kämpfte für die Emanzipation und rechtliche Gleichstellung der Juden. Viele andere Juden setzten diesen Kampf fort. Erst die Französische Revolution von 1789, vor allem aber der Vormarsch der fran-zösischen Revolutinosarmee nach Osten, machte in den folgenden Jahrzehnten auch in den Nachbarländer Österreich und Deutschland den Weg schrittweise frei für die Gleichbehandlung der jüdischen Bevölkerung.

‚Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit mussten zum ersten Mal in der Geschichte auch auf die Juden angewandt werden, sollten diese Begriffe nicht ihren Sinn verlie-ren. Aber nicht die Dekrete der Pariser Nationalversammlung, nicht das Verständnis christlicher Aufklärer, sondern die Besatzung durch die Truppen Napoleons brachte den Juden in den deutschen Staaten bürgerliche Gleichstellung‘, so Gidal (a.a.O., S.133).

1812 wurde durch ein ‚Toleranzedikt‘ den preußischen Juden durch Gewährung der Staatsbürgerschaft die formale Gleichstellung zugestanden. Somit waren die Ju-den in Preußen Staatsbürger. Öffentliche oder militärische Ämter durften sie auch danach nicht bekleiden (Kessler, J., Von Aizenberg bis Zaidelman, Die Ausländerbe-auftragte des Senats von Berlin (Hg.), Berlin 1997, S.11). Die in Folge der 1848er Revolution erfolgte Verfassungsänderung verkündete für alle Religionsbekenntnisse die volle Gleichberechtigung, verschiedene Einschränkungen für die Juden blieben aber faktisch erhalten. Es wurden sogar zahlreiche Versuche unternommen, um die staatsbürgerliche Gleichstellung der Juden rückgängig zu ma-chen.

Die jüdischen Intellektuellen und die jüdische Bevölkerung kämpfte für das Ziel, nicht mehr als ‚Juden in Deutschland‘, sondern als ‚deutsche Juden‘ anerkannt zu werden. Die rechtlichen Verbesserungen von 1812 und 1848 waren allerdings von kurzer Dauer. Erst durch die Gesetze von 1869/71 kamen die deutschen Juden ihrem Ziel nach bürgerlicher Gleichstellung näher. Vom Justiz-, Militär- und Schuldienst blieben die Juden aber – von Ausnahmen abgesehen – ausgeschlossen.

Eine zunehmend stärker werdende judenfeindliche Bewegung trat mit religiösem, politischem oder rassistisch gefärbtem Antisemitismus gegen das ‚Streben der Ju-den nach bürgerlicher Gleichstellung und gesellschaftlicher Anerkennung‘ an. Die Diskussion über die Frage der Juden bekommt schon im 19. Jahrhundert eine viel gefährlichere Richtung. Die antijüdische Position benutzte das Gespenst der ‚Verjudung Deutschlands‘. Die Völkisch-Nationalen propagierten, dass die Juden ein gefährlicher ‚Fremdkörper‘ im Deutschen Volk seien (Gidal, ebda., S. 254).

Während in früheren Äußerungen deutscher Kreise eher der Wusch nach Assimilati-on der Juden zum Ausdruck kam, wurden die Juden nun mehr als Gefahr für Deutschland propagiert. Die judenfeindlichen Ausschreitungen waren nicht mehr, wie es hieß ’spontane Aktionen der kochenden Volksseele‘ (Geschichte des Jüdi-schen Volkes, ebda., S.31), sondern das Ergebnis politischer Auseinandersetzun-gen. Für die konservativen Kräfte war eine Koexistenz von christlichen und jüdischen Deutschen nicht denkbar. Die Liberalen beteiligten sich zwar nicht an der Hetz-kampagne gegen die jüdische Bevölkerung, forderten die Juden aber auf, auf ihre Kultur und religiösen Satzungen zu verzichten, da diese im Widerspruch zu dem ‚Zeitgeist‘, stünden (ebda.).

Bei unserer Diskussion wäre ernsthaft zu hinterfragen, ob und inwieweit gewisse Ähnlichkeiten der Ereignisse von Hoyerswerder, Rostock, Mölln, Solingen oder Lü-beck sowie deren Uhrsachen mit diesen historischen Erfahrungen vergleichbar sind? Höchst bedenklich und gefährlich war die Tatsache, dass die judenfeindliche Haltung in Deutschland von großen Teilen des neuen Bürgertums mitgetragen wurde. Die Folgen der industriellen Revolution, die auch gesellschaftspolitische und soziale Umwälzungen zur Folge hatte, sollte mit Hilfe von Sündenböcken gemildert werden. Die Juden wurden verantwortlich gemacht für den sozialen Abstieg und die Deklas-sierung des Kleinbürgertums und der entwurzelten Bauern in Folge der industriellen Massenproduktion. ‚Die soziale Frage des 19. Jahrhunderts bekam eine antijü-dische Note‘ (ebda.). Hofprediger Adolf Stoecker gründete 1879 die antisemitische Christlich Soziale Arbeiterpartei.

Heinrich von Treitschke, ein einflußreicher Geschichtsprofessor und Abgeordneter in Berlin, ‚der Initiator des politisch-völkischen Antisemitismus der Gebildeten Klassen‘ (Gidal, ebda, S.254) bringt die aufgeputschte Stimmung gegen die jüdische Bevölke-rung im 19. Jahrhundert in nur vier Worten präzise zum Ausdruck: ‚die Juden sind unser Unglück‘. (Geschichte des Jüdischen Volkes, ebda., S.31). In seinen Veröf-fentlichungen bezeichnete er “den Juden‘ als Träger der von ihm gehassten demo-kratischen Idee und als Redelsführer der Sozialdemokratie, dieser ‚bestialischen Pöbelbewegung‘, die das gottgewollte deutsch-christliche Konzept von ‚Herren und Untertanen‘ störe‘. (Gidal, ebda, S.254). Diese Gedanken fanden breite Resonanz unter vielen Beamten, Richtern, Akademikern, Offizieren, also den Trägern des künf-tigen Deutschlands. ‚Nur die sozialdemokratischen Arbeiter, … waren von der Ju-denhetze wenig beeindruckt.‘ (Ebda,S.255).

In vielen veröffentlichten Karikaturen wurden die Juden als ‚krummbeinige, höcker-nasige, häßliche‘ Menschen abgebildet, die mit unsauberen Mitteln (‚wie man schon seinem Gesicht ansieht‘) nach dem Geld jagt und unschuldigen blonden Mädchen auflauert.‘ Der Begriff ‚Jude‘ wurde in der öffentlichen Darstellung als etwas Verach-tenswertes projiziert. (Ebda., S.256).

Der Jude wurde stets als negative Erscheinung porträtiert, neben dem ‚aufrechten, edlen germanischen Deutschen, der sich gegen die Schliche und Ränke des Juden zur Wehr setzen muss und sich im Geschäftsleben nur von hohen Idealen leiten lässt.‘ (Ebda.). Vorurteile können sicherlich viele Fiktionen haben. Zumeist helfen sie ‚der Legitima-tion und Rechtfertigung von Herrschaftsausübung. (…) Vorurteile dienen der Stabili-sierung von Herrschaftsverhältnissen durch Bereitstellung von ‚Sündenböcken‘ und Mythenbildung.‘ (Vorurteile – Steriotype – Feindbilder, Informationen zur politischen Bildung, Bonn 2001, S. 4) Sie stabilisieren dabei den Status quo der Machtverteilung zwischen Majoritäten und Minoritäten.

Vor dem Ersten Weltkrieg hatte Berlin 27 Synagogen, 45 Religionsschulen und einen ‚Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens‘. In den 20er Jahren lebte mehr als eine halbe Millionen Juden in Deutschland, davon 172 000 in Berlin, rund 4,3% der Berliner Bevölkerung (ebda). Trotz der oben erläuterte massive Einschränkungen oder vielleicht auch gerade des-halb, haben die deutschen Juden für Handel, Industrie, für das geistig-kulturelle Le-ben, für Wissenschaft, Kunst und Literatur Deutschland unschätzbare Leistungen erbracht.

In den Jahren 1905 bis 1931 erhielten insgesamt elf deutsch Juden den Nobelpreis, davon vier Chemiker, drei Mediziner, drei Physiker und ein Schriftsteller. (Geschichte des Jüdischen Volkes, a.a.O., S.33). Folgende Sätze von Walter Rathenau, Sohn und Nachfolger des Gründers der AEG, von 21.Januar 1922 bis zu seiner Ermordung durch einem Antisemiten am 24.Juni 1922 Reichsaußenminister, beschreiben die Situation und Empfindungen der deut-schen Juden am besten: ‚In den Jugendjahren jedes deutschen Juden gibt es einen schmerzlichen Augenblick, an den er sich zeitlebens erinnert: Wenn ihm zum ersten Mal voll bewusst wird, dass er als Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist, und dass keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage befreien kann.‘ (Gidal, a.a.O., S.326 ff.)

In einem Brief schrieb er später an Gertrud Wilhelmine von Hindenburg, die Schwä-gerin des Generalfeldmarschalls: ‚… wenn auch ich und meine Vorfahren nach bes-ten Kräften unserem Lande gedient haben, so bin ich, wie Ihnen bekannt sein dürfte, als Jude Bürger zweiter Klasse. Ich könnte nicht politischer Beamter werden, nicht einmal in Friedenszeiten Leutnant.‘ (Ebda.) Die preußische Judenpolitik bezeichnete er als ‚die schwerste Kränkung einer Bevölkerungsgruppe, unzweckmäßig und unsittlich.‘ (Ebda.) Viele Jahre später, als er Reichsaußenminister wurde, war an den Häusermauern Berlins 1922 zu lesen: ‚Knallt ab den Walter Rathenau / Die gottverfluchte Ju-densau‘ (ebda.).

III. Die Lehren aus dieser Erfahrung

Diese kurze Analyse über die Politik des brandenburgisch-preßischen Staates und Berlins gegenüber Hugenotten und Juden und die Lebensbedingungen dieser religi-ösen Minderheiten zeigt meines Erachtens folgendes Bild:-Die Staatspolitik hat zwischen protestantischen und jüdischen Migranten ganz stark unterschieden: In der gleichen Zeit und von der gleichen Staatsführung wurden die französischen Flüchtlinge weitestgehend als gleichberechtigte Bürger aufgenommen, ja sogar mit privilegierter Stellung gegenüber der einheimischen Bevölkerung ausgestattet. Sie wurden binnen 100-120 Jahren assimiliert und wa-ren als eine ethnisch-kulturelle Minderheit nicht mehr relevant, bzw. fielen nicht mehr auf.

  • Die jüdischen Einwanderer wurden dagegen von Anfang an diskriminiert. Sie wurden in den Jahren 1671 bis 1871, also zwei Jahrhunderte lang, von der bür-gerlichen Gleichstellung faktisch ausgeschlossen. Sehr große Teile der deut-schen Bevölkerung machte sich diese diskriminierende Staatspolitik zu eigen, so dass eine Aufnahme der jüdischen Bevölkerung in die deutsche Gesellschaft nicht stattfand. Im Gegenteil: Für die Krisen, für das Versagen der Politik und für die tiefen gesellschaftspolitischen Erschütterungen in Folge der industriellen Re-volution wurden sie stets zu Sündenböcken gemacht.
  • Diese Diskriminierung, Absonderung und Abschottung der jüdischen Bevölke-rung hat mit Sicherheit dazu geführt, dass eine tatsächliche Integration oder auch Assimilation dieser Bevölkerungsgruppe und ein Zusammenwachsen der deut-schen und jüdischen Bevölkerung im Vergleich zu den Hugenotten nicht hat statt-finden können. Die Diskriminierung und Abgrenzung der Juden durch die deut-sche Politik und Gesellschaft hat dazu geführt, dass Juden sich in Deutschland stets als Außenseiter fühlen mussten, die, getrennt von der übrigen Gesellschaft, als Menschen zweiter Klasse in ganz realen oder eben geistigen Ghettos verbringen mussten
  • Aus dieser historischen Erfahrung können und müssen wir für die Politik der Bundesrepublik Deutschland im Bezug auf die kulturellen Minderheiten von heu-te die notwendigen Lehren und Konsequenzen ziehen.
  • Meine Damen und Herren,

bei der Vorbereitung dieses Referats ist mir Eines ganz klar geworden: Nazideutsch-land und der rassistisch- faschistisch gefärbte Antisemitismus eines Hitler dürfen auf keinen Fall auf das Phänomen einen psychisch Kranken, in Organisationsfragen ta-lentierten, eines geschickten Demagogen Adolf Hitler und seiner Partei reduziert wer-den. Der Nährboden für eine erfolgreiche antisemitische Agitation, begünstigt und ermög-licht von der Politik, war vielmehr durch die Vorgaben der vorangegangenen Jahr-hunderten in der Bevölkerung und in der Gesellschaft bestens bereitet.

Wer die Nazidiktatur und Barbarei mit Hitler und NSDAP erklärt, verdreht bewusst die deutsche Geschichte, verharmlost die barbarischen Taten Nazideutschlands und hat offensichtlich gar nichts dazugelernt, es sei denn er oder sie ist uninformiert geblie-ben. Keines von beiden ist entschuldbar. Ich möchte an dieser Stelle mit Nachdruck unterstreichen: Hitler-Deutschland ist ein völlig konsequentes Ergebnis der judenfeindlichen Politik vor allem des 18., beson-ders aber des 19. Jahrhunderts.

IV. Die Ausländerpolitik der Bundesrepublik Deutschland

In einer sehr gerafften Form möchte ich an Hand dieser historischen Analyse, eine Bewertung der Ausländerpolitik der Bundesrepublik Deutschland vornehmen. Berlin praktiziert seine Ausländerpolitik gemäß den allgemeinen Rahmenbedingungen des Ausländerrechts und der Ausländerpolitik des Bundes. Bei der praktischen Anwen-dung der Rechtsvorschriften kann zwar das tolerante oder harte Gesicht Berlins er-kannbar werden. Maßgeblich sind jedoch hierbei die allgemeinen Rahmenbedingun-gen der Ausländerpolitik.

1) Die Ausländerpolitik des Bundes und Berlins hat sich seit 40 Jahren fast aus-schließlich nach den Modalitäten der Arbeitsmarktpolitik orientiert. Die Arbeits-rechtlche Bestimmung ’nach dem Bedarf des deutschen Arbeitsmarktes (Art. 16 des Arbeitsförderungsgesetzes) stellt die Grundphilosophie dar.

2) Erst dank gerichtlicher Entscheidungen zu Gunsten einer Verfestigung des Auf-enthaltsstatus wurde diese harte Linie gelockert. Das EU-Recht differenziert hierbei ganz deutlich zwischen EU-Staatsbürgern und Nicht-EU-Staatlern.

3) Die bis heute anhaltende Diskussion darüber, ob Deutschland ein Einwande-rungsland sei oder nicht und die seit 40 Jahren verwendeten Begriffe ‚Gastarbei-ter‘, inzwischen ‚Ausländer‘ sind Instrumente einer bewußt gewählten Strategien der Absonderung und Abschottungspolitik gegenüber 7,3 Millionen Migranten und ihren Familienangehörigen.

4) Ziel ist und bleibt es, den Nicht-EU-Ausländern gleiche Rechte zu verweigern, sie für alle Fälle mit eingeschränkten Rechten in Deutschland leben zu lassen.

5) Die Verweigerung des kommunalen Wahlrechts im Rahmen der Grundgesetzän-derung auch für die Nicht-EU-Staatsbürger und vor allem die Verhinderung einer Staatsbürgerschaftsreform, die den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft für größere Teile der Migranten und ihrer Familienangehörigen hätte ermöglichen können, sind feste Bestandteile dieser Philosophie. Nämlich: Millionen von soge-nannten Ausländer auch nach 30-40 Jahren, auch in zweiter, dritter und den fol-genden Generationen als Ausländer, also mit minderen Rechten ausgestattet, hier leben zu lassen.

6) Das Ziel ist eindeutig: die sogenannten Ausländer auf Dauer als Menschen zwei-ter Klasse hier zu behalten. Dass eine Integration mit einem Ausländerstatus, al-so ohne den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft nicht möglich ist, müsste jedem vernünftigen Menschen klar sein.

7) Eine ganz ähnliche Politik, nämlich die der Verweigerung der Bürgerrechten für die Juden in Deutschland in mehr als zwei Jahrhunderten, wird heute bei den Nicht-EU-Ausländern praktiziert.

8) Die sogenannten Ausländer, längst kulturelle Minderheiten, werden, ähnlich wie bei den Juden, immer wieder als Sündenböcke benutzt. Dies ist gerade dann gut möglich, wenn diese Millionen von Menschen als Ausländer nicht zum Wahlvolk gehören und somit keine politische Rechte haben.

9) Dieses nicht gewähren von Bürgerrechten, also die Verweigerung der Aufnahme in die Gesellschaft, lässt die Diskriminierung bestehen, verhindert die Integration, begünstigt und ermutigt Ausländerfeindlichkeit und Rassismus, ähnlich wie dies bei den Juden auch bis Ende des 19. Jahrhunderts der Fall war.

Wie sollte denn eine moderne, zeitgemäße und tolerante Migrations- und Integrati-onspolitik aussehen? Wir haben der ‚Unabhängigen Kommission Zuwanderung‘ un-ter Frau Süßmuth und der Öffentlichkeit unsere Vorschläge am 26. – 27.April 2001 detailliert bekannt gemacht. Diese möchte ich Ihnen aus Zeitgründen hier schriftlich vorlegen.

Wie lautet nun die Antwort auf die Frage: Ist der Mythos eines Toleranten Ber-lins auch Realität?

Tolerant sein setzt voraus:

  • Verhinderung jeglicher Art der Diskriminierung,
  • Ermöglichung der Gleichbehandlung der Minderheiten,
  • Vorurteilsfreie Begegnung und Gewährung anderer religiöser und sonstiger politischer Überzeugungen,
  • Gewährung und Bejahung des Andersseins als Selbstverständlichkeit und Normalität des demokratisch-rechtsstaatlichen und humanen Daseins.
  • Berlin und Deutschland haben noch einen weiten Weg vor sich bis zur Ver-wirklichung dieser toleranten und humanen Gesellschaft.
  • Die historischen Lehren aus der Geschichte der deutschen Juden kann für die Migrations- und Integrationspolitik Deutschlands von größte Bedeutung sein.