Hakki Keskin: Deutschland als neue Heimat. Eine Bilanz der Integrationspolitik

Rezension von Prof.Dr. Hartmut M.Griese In: socialnet, www.socialnet.de/rezensionen/3072.php

‚Der wahre Freund spricht die bittere Wahrheit aus‘ (Türkisches Sprichwort)

Autor und Zielsetzung

Der Autor ist nicht irgendwer, nicht einer der vielen Migrations- und/ oder Integrationsforscher, die in den letzten Jahren in diese Publikationslücke gestoßen sind. Nein, Hakki Keskin ist eine exponierte, schillernde, umstrittene und auch widersprüchliche Person: er ist Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde ein Deutschland; er ist Professor für politische Wissenschaften an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg – er ist also sowohl Wissenschaftler als auch Politiker (vgl. dazu Max Weber: ‚Wissenschaft als Beruf‘ und ‚Politik als Beruf‘); er ist in der Türkei geboren und hat in den bewegten 60er Jahren über ein Stipendium an der FU (!) in Berlin studiert und war dort Vorsitzender der ‚Türkischen Studentenföderation in Deutschland‘ – in dieser Funktion hatte er etliche Konflikte mit der türkischen Regierung bis hin zur zweimaligen Ausbürgerung auszutragen; Keskin ist deutscher Staatsbürger und war als Mitglied der SPD ‚deutscher Abgeordneter in der Hamburgischen Bürgerschaft‘ – im Sommer 2005 ist er nach 30 Jahren Parteimitgliedschaft aus der SPD ausgetreten. Keskin will eine ‚Bilanz der Integrationspolitik‘ ziehen – er tut dies bewusst aus der Perspektive des/der Betroffenen und versucht, die eigene Sichtweise mit objektiven Bewertungen zu verknüpfen. Dieser methodische Balanceakt, dieser Spagat zwischen (wissenschaftlicher) Analyse und (persönlicher betroffener) Bewertung durchzieht das ganze Buch. Keskin sieht ‚Deutschland als seine neue Heimat‘ sowie Berlin (Studium, Promotion) und Hamburg (Wohnort seit 1982) als seine ‚Heimatstädte‘. Dennoch hat er mehrfach die Erfahrung gemacht, als ‚deutscher Staatsbürger‘, als ‚deutscher Abgeordneter … vor allem aber als Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland‘ nicht akzeptiert zu werden – was an seiner ‚Herkunft‘ Türkei festgemacht wurde (S. 11). Ziel Keskins ist es, sich als betroffener und politisch engagierter Wissenschaftler ‚mit der sogenannten ‚Ausländerpolitik‘ Deutschlands und mit dem Leben als Türke und Deutschtürke in Deutschland, mit den Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei, sowie mit dem Stand des Verhältnisses der EU zur Türkei konstruktiv und kritisch auseinander(zu)setzen‘ (S. 12). Aufbau und Inhalt

Keskin will aufzeigen, dass die politische ‚Gestaltung des gleichberechtigten Zusammenlebens der deutschen Bevölkerung mit den in Deutschland lebenden Eingewanderten‘ nach wie vor ein ungelöstes Problem ist bzw. dass die ‚Integrationspolitik‘ letztlich durch eine ‚Vogel-Strauß-Politik‘ (Negierung der Einwanderung, Typisierung als ‚Ausländer‘, Ghettoisierungstendenzen in den Großstädten usw.) gescheitert ist. Kurzum: Es fehlt an einer ‚Gesamtkonzeption der Neugestaltung der Integrations- und Einwanderungspolitik‘. Die Folgen davon sind: ‚Probleme im Schul- und Wohnungsbereich, hohe Kriminalität, hohe Arbeitslosigkeit, Ghettobildung und nicht zuletzt Ausländerfeindlichkeit, Rassismus und die damit einhergehende Gewalt‘ (S. 14).

  • Keskin beschreibt im 1. Kapitel ‚Das Leben vor der Tür der deutschen Gesellschaft‘ den Alltag der ‚Menschen ‚zweiter Klasse“ und nennt dies die ‚europäische Form der Apartheid‘ (S. 18).
  • Die jahrelangen vergeblichen Bemühungen um eine zeitgemäße Regelung des Staatsbürgerschaftsrechts bezeichnet der Autor als ‚Die unendliche Geschichte einer gescheiterten Reform‘ (Kap. 2). Sehr ausführlich werden die parteibezogenen und sich wandelnden Argumente pro und contra Einbürgerung und doppelte Staatsbürgerschaft referiert und mit empirischen Daten garniert … und es werden Postulate im Sinne von ‚Wir fordern‘ formuliert (z.B. S. 55).
  • Alsdann setzt sich Keskin mit dem Konzept der ‚multikulturellen Gesellschaft‘ (Kap. 3: ‚Viele Kulturen – eine Zukunft: Perspektiven eines toleranten Miteinanders in Deutschland‘) auseinander und diskutiert ‚Integration‘ als politisches und pädagogisches Konzept. Sozialwissenschaftlich-theoretische Grundsatzdebatten (Integration, Identität, Assimilation, Heimat, Toleranz, Mulikulturalität etc.) sind nicht die Stärken des Autors. Er gelangt zu der Erkenntnis, dass ‚wir neue Begrifflichkeiten brauchen‘ und schlägt dafür die (nicht unbedingt neuen) Termini ‚Deutschland-Türke‘ und ‚kulturelle Minderheiten‘ vor (S. 78).
  • Zwischenbemerkung: Äußerst ärgerlich sind die vielen Tippfehler, vor allem, was die Namen von zitierten Autoren betrifft. Auch der Rezensent ist davon mehrfach betroffen (Grise statt Griese; oder Hurelmann statt Hurrelmann, z.B. S. 70, 79, 80 und im Literaturverzeichnis!). Die Spitze dieser Fehlleistungen bildet sicher das ‚Busch‘ statt Bush (S. 87, S. 213, 214). Theoretisch erfährt der Leser nichts Neues. Obwohl Keskin differenzieren will, verbleibt er in der Kulturdiskussion bei pauschalen Aussagen wie ‚die deutsche Kultur‘, ‚kulturelle Minderheit‘, die ‚Kultur der Nichtdeutschen‘ usw.

  • Auch die Abhandlungen über ‚Interkulturelle Erziehung als Konzept der Bildungspolitik‘ (Kap. 4) bleiben theoretisch unergiebig und bringen in keiner Weise die mittlerweile mehrfach vorgebrachte Kritik an diesem Konzept oder sinnvolle Weiterentwicklungen zur Sprache (vgl. exemplarisch Grieese 2002, Datta 2005). Das theoretisch entscheidende Moment (aus meiner Sicht: die Unmöglichkeit), ‚Integration‘ (als ‚dazu gehören‘, ‚heimisch werden‘) mit ‚Bewahrung der kulturellen Identität‘ zu vermitteln, wird nicht problematisiert, nur postuliert. Die Erfahrungen der Einwanderungsländer, neuer theoretischer und empirischer Studien zeigen, dass man dann wohl von einem differenzierten und flexiblen Integrations- und Identitätsbegriff ausgehen müsste – z.B. im Sinne von ‚partieller Integration‘ nach Bereichen (Alltag, Beruf, Politik etc.), ‚hybride Identitäten‘ (‚third culture kids‘) oder ‚kognitive und emotionale Identität‘ (‚wir denken deutsch und fühlen türkisch‘ oder ‚ich bin teutschin und dürkin‘).
  • Wenn Keskin den sozialisationstheoretisch-pädagogischen Bereich (Kap. 3 und 4) wieder verlässt, kommen seine Stärken als engagierter Politikwissenschaftler und Betroffener besser zur Geltung (Kap. 5: ‚Rassismus, Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus in Deutschland‘). Im weiteren (Kap. 6f) liefert der Autor etliche interessante historische und ökonomische Daten und Fakten zur Gruppe der Einwanderer und deren unverzichtbaren Beitrag zum Funktionieren der deutschen Gesellschaft – die Tippfehler werden aber nicht weniger. Gegen Ende des Buches werden die politischen und vor allem moralischen Appelle lauter und eindringlicher (‚es müsste‘, ‚es sollte‘). Dies ist durchaus nachvollziehbar und macht den Autor sicher sympathisch, aber das Spannungsverhältnis von Politik und Moral bzw. von Wissenschaft und Politik wird davon nicht berührt.
  • Weiter (Kap. 8) geht es um die ‚Deutschlandtürken als das vermeintliche Problem‘, die ‚deutsch-türkischen Beziehungen‘, die ‚Kurdenfrage‘ und die türkische Geschichte. Ausgeklammert werden die ‚Zypernfrage‘ sowie der ‚Genozid an den Armeniern‘, warum ? Keskin geht es doch um die aktuellen ‚Belastungen‘ und Probleme im bilateralen oder EU-Kontext sowie um Traumata der Türkei (z.B. der Vertrag von Sèvres 1920). Hier bleibt Keskin ‚(National-)Türke‘ und verlässt die (selbst-)kritische wissenschaftliche Perspektive des betroffenen europäischen (!) Deutschtürken, die Perspektive, die ich ansonsten in dem Buch schätzen gelernt habe.
  • Das abschließende Thema ‚Die Europäische Union und die Türkei‘ (Kap. 9) kann eben nicht durch Ausklammerung (Verdrängung?) der Zypernfrage und des Genozids an den Armeniern offen diskutiert werden. Beide Themen fehlen so auch bei Keskins Auflistung von Argumenten gegen eine EU-Mitgliedschaft (S. 245). Auch die Frage der ‚Gleichberechtigung von Mann und Frau‘ in der Türkei bzw. in türkischen Familien in Deutschland wird nur in Bezug auf die Verfassung und Gesetze, nicht hinsichtlich des Alltags und der (Verfassungs-) Wirklichkeit diskutiert. ‚Die Türkei ist ein Männerparadies‘, so bringt dies ein türkischer Freund auf den Punkt.

Weiter fällt auf, dass Keskin Autoren, die er schätzt und die in etwa seine Meinung vertreten, in der Regel als ‚renommiert‘ oder ‚bekannt‘ tituliert, während andere Autoren nicht mit diesen Attributen geschmückt werden (z.B. S. 257). Der Spagat zwischen Wissenschaft und Politik bzw. Deskription/Analyse und Postulaten neigt sich gegen Ende des Werkes immer mehr in Richtung einer normativ-moralischen Einschätzung und Bewertung der angesprochenen Themen. Auch wenn ich als politischer Mensch die Forderungen und Positionen von Keskin teile (seine Position in Sachen Zypern und Armenien kenne ich nicht), sind diese wissenschaftlich nicht unproblematisch, weil der Autor den notwendigen Perspektivenwechsel meidet. Fazit

Die Stärke des Buches, die Sichtweise der Betroffenen, der Deutschtürken, mit wissenschaftlichen Argumenten, historischen und ökonomischen Daten und Fakten zu untermauern sowie die Kopplung von Politik und Wissenschaft, von Analyse und Postulat, wird dann zum Bumerang, wenn Scheuklappen angelegt werden (Zypern, Armenien) und die Sichtweise anderer Betroffener nicht reflektiert werden, so dass nicht nach ‚links‘ und ‚rechts‘ geschaut wird. Das leidenschaftliche Plädoyer für eine EU-Aufnahme der Türkei und für eine Vision der ‚Säkularisierung des Islam‘ klingt sympathisch und nachvollziehbar – verlässt allerdings den Boden der Wissenschaftlichkeit. Dies ist aber bei diesem Thema kein Makel.

Literatur Datta, Asit (Hrsg.): Transkulturalität und Identität. Bildungsprozesse zwischen Exklusion und Inklusion. Frankfurt 2005. Griese, Hartmut M.: Kritik der ‚Interkulturellen Pädagogik‘. Essays gegen Kulturalismus, Ethnisierung, Entpolitisierung und einen latenten Rassismus. Münster 2002.

Rezensent Prof. Dr. Hartmut M. Griese Universität Hannover Fachbereich Erziehungswissenschaften