Migration vor 40 Jahren bis heute: zur aktuellen Ent-wicklung beim Staatsbür-gerschaftsrecht
Heute leben in Deutschland ca. 7,4 Mio. Nichtdeutsche, das sind mehr als 8.9% der Gesamtbevölkerung. Der ganz überwie-gende Teil dieser sogenannten ‚Auslän-der‘ wurde im Rahmen bilateraler Verträge mit den jeweiligen Herkunftsländern als Arbeitskräfte angeworben. Diese Anwer-bung begann vor 44 Jahren in Italien, vor nunmehr 38 Jahren wurden entsprechende Verträge mit der Türkei abgeschlossen.
Keiner von uns hätte seinerzeit geahnt, daß die damals angeworbenen Türken und anderen Emigranten sich mehrheitlich dauerhaft in Deutschland niederlassen würden. Wer von uns kann heute noch den Begriff ‚Gastarbeiter‘ als Definition des befristeten, vorübergehenden Aufenthaltes ohne Hemmungen benutzen? Teile der ersten Generation haben heute das Ren-tenalter erreicht und werden – laut Unter-suchungen – mit großer Wahrscheinlichkeit ihren Lebensabend auch in Deutschland, wo ihre Kinder und Enkel leben, verbrin-gen. Diese Menschen haben, das wird von keinem bestritten, sehr hart, fleißig und mobil gearbeitet und damit zu dem ra-schen Wohlstand in Deutschland nach dem Krieg maßgeblich beigetragen.
Ein Großteil der Kinder der ersten Genera-tion sind in Deutschland geboren oder als Kleinkinder Familien gefolgt und hier auf-gewachsen. Die Enkel der ersten Genera-tion kennen die Türkei nur noch vom Ur-laub, sprechen sehr gut Deutsch, oft mit regionalem Akzent, sind mehr deutsch so-zialisiert als türkisch. Wären diese Men-schen der zweiten und dritten Generation in Frankreich, Großbritannien, den USA, oder Kanada geboren, so besäßen sie fast alle die Staatsangehörigkeit dieser Länder. Sie wären Staatsbürger und verfügten über gleiche Rechte wie die Einheimischen. In Deutschland sind sie aber – nach wie vor – Ausländer. Sie müssen zur Ausländerbe-hörde, um eine Aufenthaltserlaubnis; zum Arbeitsamt, um eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. Sie können wie auch ihre El-tern und Großeltern weder wählen, noch gewählt werden; sie sind eben ‚Auslän-der‘. Sie besitzen mindere Rechte, sie sind einem Ausländergesetz als Sonder-recht unterstellt.
Sie sind in die deutsche Gesellschaft we-gen dieses diskriminierenden Rechtsstatus bis heute nicht aufgenommen worden. Sie müssen noch immer vor der Tür dieser Gesellschaft warten, obwohl sie alle Pflich-ten eines Staatsbürgers erfüllen müssen, so auch den Solidaritätszuschlag leisten.
Die Angehörigen der zweiten und dritten Generation können und wollen zurecht diese Art der Behandlung als Menschen ‚zweiter Klasse‘, diese staatspolitisch ver-folgte Diskriminierung und Absonderung nicht akzeptieren, sie sind oft verbittert. Dies zählt nicht zu der so oft beschwore-nen Integration in die deutsche Gesell-schaft; im Gegenteil, dies führt zur Segre-gation, zur Ghettobildung. Auch die Kon-zentration der Migranten in manchen Stadtteilen ist die Folge einer verfehlten Wohnungs- und Ausländerpolitik. Dieser Zustand ist nicht nur für die zweite und drit-te Generation inakzeptabel, inhuman und mit dem Geboten der Demokratie und der Menschenrechte unvereinbar, es gefährdet mittel- und langfristig auch den sozialen Frieden in Deutschland.
Es ist alarmierend, wenn die Immigranten und deren Kinder und Enkel sich hier in ih-rer neuen Heimat nach vier Jahrzehnten immer noch nicht Zuhause fühlen dürfen.
Die türkische Bevölkerung Deutschlands, aber auch die anderen Immigranten, die hier wohnen und arbeiten, werden es nicht mehr lange hinnehmen, dauerhaft mit min-deren Rechten ausgestattet, hier zu leben. Hierfür gibt es nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, wonach die Einführung des kommunalen Wahlrechtes hier in Hamburg und Schleswig-Holstein mit der Begründung abgelehnt worden war, daß nur deutsche Staatsbürger wäh-len dürften, nur noch einen einzigen Weg, nämlich eine radikale Reform des Staats-angehörigkeitsrechts.
Die in Deutschland geborenen Kinder, hier rechtmäßig aufwachsende oder hier rechtmäßig lebende Einwanderer müssen automatisch die deutsche Staatsbürger-schaft erhalten. Alle Nichtdeutschen, die seit acht Jahren rechtmäßig hier leben, müssen einen Rechtsstatus, einen Rechtsanspruch auf den Erwerb der deut-schen Staatsbürgerschaft haben und zwar ohne die erzwungene Aufgabe ihrer bishe-rigen Staatsbürgerschaft.
Das Haupthindernis bei dem Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft ist die feh-lende Tolerierung der Doppelstaatsbürger-schaft. Rechtliche Gleichstellung ist die Grundvoraussetzung der von allen demo-kratischen Parteien gewollten Integrations-politik. Deshalb muß die erleichterte Ein-bürgerung nicht am Ende des Integrationsprozesses stehen, wie dies der ehe-malige Innenminister Kanter stets behaup-tete, sie ist vielmehr die Voraussetzung je-der Integrationspolitik, die diesen Namen verdient. Die türkische Bevölkerung und die übrigen Einwanderer können es nicht verstehen und akzeptieren, wenn ihnen die Berufe im öffentlichen Dienst, insbesondere in der mittleren und gehobenen Stufe versperrt bleiben, selbst wenn sie die gleichen Qualifikationen besitzen.
Die nichtdeutsche Bevölkerung kann es nicht akzeptieren, wenn sie von der Ar-beitslosigkeit doppelt so hoch betroffen ist wie der deutsche Kollege; von der erwerbslosen, nichtdeutschen Jugend unter 20 Jahren 86% keinen Berufsabschluß haben; weit über 20% dieser Jugendlichen ohne Schulabschluß die Schule verlassen.
Die türkische Gemeinde in Deutschland bekennt sich voll, ich unterstreiche das noch einmal, voll zu Deutschland und will eine Integration, aber auch die Pflege und Weiterentwicklung ihrer kulturellen Identi-tät. Kulturelle Vielfalt ist keine Bedrohung, sie sollte vielmehr als Bereicherung ver-standen werden. Deshalb wollen wir, daß die Enkel mit ihren Großeltern und Eltern auch in ihrer Muttersprache kommunizie-ren können. Deshalb sollte es in allen Schulen, in denen eine bestimmte Anzahl Kinder aus der Türkei oder einem anderen Anwerbeland kommt, möglich sein, Tür-kisch, Portugiesisch oder welche Sprache auch immer als Muttersprache zu erlernen. Dies ist an manchen Schulen auch bereits der Fall.
Die Einwandererbevölkerung will – ohne alltäglich mit ausländerfeindlichen Parolen, mit Erniedrigungen und Beschimpfungen, ja sogar mit physischen An griffen rechnen zu müssen in Würde, Lebenssicherheit und Frieden in Deutschland leben.
Wir haben leider immer wieder feststellen müssen, daß die persönliche Sicherheit vor allem der türkischen Bevölkerung – aber auch ihr Eigentum – vom Staat bislang nicht genügend geschützt worden ist.
Die Täter vieler hunderte Anschläge gegen türkische Einrichtungen wurden, von weni-gen Ausnahmen abgesehen, bis heute lei-der kaum gefaßt. Deshalb wollen wir ein Bündel von Maßnahmen ergriffen sehen, die vom Schulbereich bis in die Medien-landschaft greifen, damit Rassismus, Aus-länderhaß und Antisemitismus in Deutsch-land keinen Nährboden mehr finden kön-nen.
Die Unantastbarkeit der Würde des Men-schen, die freie Entfaltung der Persönlich-keit und das Recht auf körperliche Unver-sehrtheit, diese unantastbaren Grundrech-te gelten für alle und müssen auch für die Migranten und ihre Kinder in Deutschland voll zur Geltung kommen.
Wir verlangen nicht mehr, aber auch nicht weniger: wir verlangen gleiche Rechte und gleiche Behandlung bei gleichen Pflichten.
- Positionen, die die Eingewanderten und ihre Nachkommen in Deutschland auf Dauer als ‚Ausländer‘ mit minderen Rechten leben lassen wollen, sind längst überholt und widersprechen der real vollzogenen gesellschaftlichen Entwick-lung.
- Eine – wie ich hoffe auch von den Uni-onsparteien gewünschte – Integration der kulturellen Minderheiten in die deut-sche Gesellschaft wird es ohne rechtli-che, politische und soziale Gleichstel-lung nicht geben.
Die unsachlichen Argumente der Uni-onsparteien gegen eine doppelte Staatsbürgerschaft
In den letzten Wochen gehörte die Diskus-sion über die Reform des Staatsangehö-rigkeitsrechts zu den Hauptthemen in der deutschen Öffentlichkeit, in den Medien wie in der Politik.
Gerade die Türkische Gemeinde und ihrer Gründervereine fordern seit Jahren (und ich persönlich seit rund zwei Jahrzehnten, wenn ich dies an dieser Stelle hinzufügen darf) eine grundlegende Reform des Staatsbürgerschaftsrechts.
Wir haben rechtzeitig erkannt, daß die Eingewanderten kulturellen Minderheiten nur mit dem Erwerb der deutschen Staats-angehörigkeit zu gleichen Rechten in Deutschland kommen können. Auch ande-re berechtigte Forderungen der Einwande-rer und ihrer Nachkommen können erst dann bei den Parteien und Regierungen Gehör finden, wenn sie volle Bürgerrechte besitzen und somit auch über das Wahl-recht verfügen. Deshalb hat diese Reform für uns in den letzten zehn Jahren die höchste Priorität.
Bekanntlich sind in den letzten Wahlperio-den alle Versuche, das Staatsangehörig-keitsrecht zu reformieren, an der starren Ideologisierung des Themas durch die U-nionsparteien gescheitert.
Was nun sind die Argumente der CDU/CSU gegen diese Reform des Staatsangehörigkeitsrechts?
1. Die Einbürgerung müsse, so die CDU/CSU, am Ende der Integration stehen und nicht am Anfang. Daher würde diese Reform die Integration verhindern.
Dafür aber, wann und nach welchen Krite-rien die Menschen, die seit drei oder vier Jahrzehnten in Deutschland leben oder gar hier geboren und aufgewachsen sind, als ‚integrrationsreif‘ anzusehen seien, wer-den keine Kriterien genannt. Die Maßstäbe bleiben also unbekannt.
Die Erfahrungen, die in vielen anderen Ländern inzwischen gemacht wurden, be-legen jedoch, daß die Einbürgerung als ein ganz entscheidendes Instrumentarium für die Integrationspolitik ist. Daher wird die Beibehaltung der bisherigen Staatsbürger-schaft von Belgien, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, Nie-derlanden, Irland, Schweden, Portugal, Schweiz, Spanien, Türkei sowie von den klassischen Einwanderungsländern USA, Kanada und Australien regelmäßig hinge-nommen. Nur Deutschland, Österreich und Luxemburg innerhalb der EU machen die erzwungene Aufgabe der bisherigen Staatsbürgerschaft zur Voraussetzung bei der Einbürgerung. Bei den Aussiedlern und Kindern der binationalen Ehen wird der Doppelpaß auch von Deutschland akzep-tiert.
Wie soll eine Integration, also eine Anglei-chung, ein ‚Zusammenwachsen‘ der kul-turellen Minderheiten mit der deutschen Bevölkerung möglich sein, so lange diese Minderheiten mit einem Sonderrecht, dem Ausländerrecht nämlich, abgesondert, ab-geschottet, rechtlich, sozial und politisch von der Gesellschaft diskriminiert leben muß. Wenn wir heute, vier Jahrzehnte nach der Anwerbung der ersten sogenann-ten ‚Gastarbeiter‘ immer noch Integrati-onsdefizite und Reibungsfelder, die es durchaus gibt, beklagen, so deshalb, weil die deutsche Politik es versäumt hat, diese Menschen als einen fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft zu akzeptieren und zu behandeln.
Als Befürworter wird der Doppelpaß von uns nicht als Ziel, sonder als Mittel des Ziels der rechtlichen, politischen und sozia-len Gleichstellung und somit der Integrati-on angesehen.
Dieses Recht soll selbstverständlich auch den rund eine Millionen Deutschen zugute kommen, die im Ausland spanische, Ita-lienische, griechische, US-amerikanische und türkische Staatsbürgerschaft erwerben wollen, aber zurecht auf die eigene Staatsangehörigkeit nicht verzichte wollen.
2. Man könne nicht zwei Ländern gegen-über loyal sein, deshalb müsse die Entscheidung eindeutig für die deut-sche Staatsbürgerschaft fallen, wenn man sich einbürgern lassen wolle.
Loyalität ist eine Frage der gleichberechtig-ten Aufnahme in die Gesellschaft. Es ist eine Frage, ob man sich einer Gesellschaft zugehörig und in ihr Zuhause fühlen kann, sich als ein Teil des Ganzen betrachtet. Die bisherige Politik hat aber genau dieses versäumt. Bereits der Begriff ‚Ausländer‘ für Menschen, die seit 20, 30 und gar 40 Jahren hier leben, die sogar gebürtiger Hamburger, Berliner oder Hannoveraner sind, ist diskriminierend und provokativ. Dies scheinen die Gegner der erleichterten Einbürgerung nicht begriffen zu haben.
Wahr ist aber auch, daß die Eingewander-ten und ihre Kinder auch Wurzeln im Her-kunftsland haben. Die Sozialisation der ersten Generation fand vollständig dort statt. Diese prägt bis heute die eigene I-dentität nachhaltig. Auch die Eltern und Verwandten, zu denen sie in der Regel immer noch enge Kontakte pflegen, leben dort.
Die Staatsbürgerschaft ist nicht nur ein Stück Papier, sondern ein Teil der Identi-tät.
Wurzeln in zwei Ländern zu haben ist eben für viele Menschen durch die Migration in die Nord und Westeuropäischen Staaten in unserer Zeit zu einer Realität geworden. Wem aber könnte dies schaden? Ich den-ke, eher das Gegenteil ist der Fall. Die Migranten könnten als eine Art menschli-cher Brücke zwischen Deutschland und den Herkunftsländern dienen und dazu beitragen, die Beziehungen zwischen die-sen Ländern nachhaltig zu verbessern.
3. Die deutsche Bevölkerung wolle die doppelte Staatsbürgerschaft mehrheit-lich nicht, sagen die Unionsparteien. Hierzu gebe es Erhebungen.
Ich bezweifele die Seriosität dieser Erhe-bungen. Es ist, das wissen wir alle bei ei-ner Befragung sehr entscheidend für die Antwort, wie die Frage formuliert ist.
Im August/September 1994 führte INFAS eine repräsentative Befragung durch. Die damals gestellte Frage war nach meinem Dafürhalten korrekt formuliert, sie lautete: ‚Wie stehen Sie zum Erwerb der deut-schen Staatsbürgerschaft von Türken, die lange Jahre hier bei uns leben bzw. hier geboren wurden und weiter hier bleiben wollen?‘ Hier ist der Sachverhalt neutral und richtig formuliert. Man konnte zwischen vier mög-lichen Antworten wählen:
Sie sollten deutsche werden 28% Sie sollten die doppelte Staatsbürgerschaft erwerben können 43% Sie sollten Türken bleiben 24% keine Angaben 5%
71 Prozent der Befragten sind also hier für die Verleihung der deutschen Staatsbür-gerschaft an Türken, darunter 43 % sogar für den Doppelpaß. Würde man heute mit der gleichen Fragestellung diese Erhebung wiederholen, würden wir möglicherweise eine noch eindeutigere Antwort erhalten.
Am 3. Dezember 1998 wurde bei einem regionalen Hamburger Fernsehsender, bei der Sendung ‚Schalthoff live‘ das Pro und Kontra einer doppelten Staatsangehörig-keit diskutiert. Die Hörer wurden gebeten, sich per Telefon dafür oder dagegen aus-zusprechen.
Für eine doppelte Staatsangehörigkeit
waren 52% Dagegen 48%
Wir sehen, auch dieses Argument ist nicht ganz korrekt. Abgesehen davon, es ist die Aufgabe der verantwortlichen Politiker, bei der Bevölkerung für eine richtige Entschei-dung zu werben.
4. Die doppelte Staatsbürgerschaft würde die innere Sicherheit Deutschlands ge-fährden, sagt die CDU/CSU.
Bekanntlich gibt es bei der Einbürgerung Kriterien, die als Voraussetzung zur erfül-len sind. Unter anderem die Straflosigkeit. Es wird gesetzlich festgelegt, die straffällig gewordenen und diejenigen, die für die in-nere Sicherheit nachweislich eine Gefahr darstellen, nicht einzubürgern.
5. Die doppelte Staatsbürgerschaft wäre verfassungswidrig.
Namhafte Verfassungsrechtler, darunter auch der konservative Jurist Prof. Heil-bronner, sehen keinerlei verfassungsrecht-liche Bedenken für den Doppelpaß.
Das Bundesverfassungsgericht hatte 1990 in seiner Entscheidung zum Kommunalen Wahlrecht für Ausländer abgelehnt und zugleich den Gesetzgeber aufgefordert, die Einbürgerung zu erleichtern, damit das Wahlrecht eingeführt werden könne.
6. Die doppelte Staatsbürgerschaft würde zur Masseneinwanderung führen
Art. 6 des Grundgesetzes garantiert Ehe und Familie den besonderen Schütz der staatlichen Ordnung. Dieses Recht gilt auch uneingeschränkt für die hier leben-den nichtdeutschen Ehen und Familien. Dementsprechend können heute die in Deutschland lebenden Ausländer ihre Kin-der unter 16 Jahren und ihre Ehepartner auch nach geltendem Recht bereits zu sich holen, wenn sie ihren Lebensunterhalt ga-rantieren und ausreichenden Wohnraum nachweisen können. Diese Voraussetzun-gen sind aber auch im Entwurf der Bun-desregierung festgeschrieben. Insofern ist auch diese Befürchtung unbegründet.
Wir sehen, die Gegenargumente der Uni-onsparteien sind in keiner Weise überzeu-gend und sachgerecht.
Der wahre Grund für ihre ablehnende Hal-tung ist nach meiner Einschätzung ein an-derer. CDU und CSU haben in ihrer 16-jährigen Regierungszeit aufgrund ihrer restriktiven Ausländerpolitik und wegen ih-rer ablehnenden Haltung gegenüber allen berechtigten Forderungen der Einwande-rerbevölkerung bei diesen keinerlei Sym-pathie erwerben können. Zurecht befürch-ten sie daher, von den neuen Staatsbür-gern kaum Stimmen bei Wahlen zu erhal-ten.
Nach dem vorgelegten Gesetzentwurf könnten rund vier Millionen Einwanderer und ihre Kinder die deutsche Staatsange-hörigkeit erwerben. Diese Stimmen werden sicherlich die Wahlergebnisse beeinflus-sen. Diese Angst ist es, weshalb die Uni-onsparteien mit einer Reihe Hilfsargumen-ten ihre wahre Haltung zu verschleiern su-chen und daher eine unangemessen radi-kale Politik verfolgen.
Zugleich versuchen sie mit diesem Kurs, Stimmen der rechtsradikalen Parteien bei den zahlreichen in diesem Jahr anstehen-den Wahlen zu fangen. Dadurch entfernen sich die Unionsparteien aber noch weiter von der Einwandererbevölkerung, was dann auch mittel- und längerfristig negative Konsequenzen für CDU und CSU haben wird. Diese polarisierende Politik zu Lasten der kulturellen Minderheiten ist einer de-mokratischen Volkspartei wie der CDU nicht würdig. Diese kurzsichtige Politik wird, davon bin ich überzeugt, der CDU viel mehr Schaden bringen als erhofften Nutzen. Deshalb appelliere ich an die CDU, ihre Ausländerpolitik ernsthaft zu ü-berdenken.
Es ist längst an der Zeit, das aus dem Jah-re 1913 stammende Einbürgerungsrecht und die Verordnungen der Jahre 1934 und 1942, also aus der Nazi-Zeit, grundlegend zu reformieren.
Die Zielsetzung des vorgelegten Gesetz-entwurfs der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen vom 16.03.1999 lautet: ‚Verbesserung der Integration der dauerhaft in der Bundesrepublik Deutsch-land lebenden Ausländer und ihrer hier geborenen Kinder durch Erleichterung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörig-keit.‘
In der Tat: diese Reform darf in keinem Punkt eine Verschlechterung oder Er-schwernis der Einbürgerungskriterien beinhalten, sondern sie muß erkennbare Erleichterungen mit sich bringen. Vor allem für Millionen Menschen der ersten Auslän-dergeneration bringt der Entwurf in ganz zentralen Punkten Verschlechterung und ungleiche Behandlungen:
1. Nach geltender Praxis reichen einfache Deutschkenntnisse als eines der Einbür-gerungskriterien aus. In dem ersten Entwurf vom Bundesminister des Inne-ren, Otto Schily, war hierfür ‚Eine Ver-ständigung mit dem Einbürgerungser-werb in deutscher Sprache‘ vorgese-hen, was der geltenden Praxis ent-sprach. Wir plädieren daher für die Bei-behaltung dieser Formulierung.
2. Die Bundesregierung wollte die generel-le Hinname der doppelten Staatsbürger-schaft akzeptieren. Jetzt will sie sogar eine bisher bestehende Möglichkeit im § 25/a, nach Maßgabe dessen die alte, al-so die aufgegebene Staatsbürgerschaft, nachträglich erneut erworben werden konnte, beseitigen. Diese selbst von der Kohlregierung nicht angetastete Mög-lichkeit zu verhindern, würde der Intenti-on und Glaubwürdigkeit dieser Regie-rung gänzlich widersprechen.
3. § 87 (2) sieht die Einbürgerung unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit für Aus-länder mit längerem Aufenthalt vor, wenn der Ausländer ‚die Staatsangehö-rigkeit eines anderen Mitgliedsstaates der Europäischen Union besitzt und Ge-genseitigkeit besteht.‘ Hier werden ganz offensichtlich vor allem Türken benach-teiligt. Dieser Paragraph ist weder recht-lich, noch moralisch und noch weniger gesellschaftspolitisch vertretbar. Daher muß dieses Recht für alle Antragsteller gelten, wenn Gegenseitigkeit gegeben ist.
4. Der Entwurf will die Gebühren von DM 100,- auf DM 500,- für Erwachsene er-höhen. Die Notwendigkeit hierfür sehen wir nicht.
5. Die Einführung des Territorialprinzips, selbst wenn dies bis zum 23. Lebensjahr gelten soll, ist auch für uns eine wichtige Erneuerung und Verbesserung. Dieses Recht jedoch rückwirkend bis zum 10. Lebensjahr einzuengen, ist völlig willkür-lich und nicht nachvollziehbar. Im Inte-resse der Zielsetzung dieses Gesetzes-entwurfes müßte diese Möglichkeit min-destens bis zur Vollendung des 18. Le-bensjahres gelten.
Prof. Dr. Hakkı Keskin Politikwissenschaftler, Bundesvorsitzender der Türkischen Ge-meinde in Deutschland.