Ohne gleiche Rechte keine Integration
In der seriösen Wochenzeitung ‚Die Zeit‘ schrieb der damalige Chefredakteur Ro-bert Leicht unter der Überschrift ‚Aus Knechten Bürger machen – fast jeder zehnte hat in Deutschland nichts zu sagen, weil er als Ausländer gilt‘: ‚So bleibt es nach wie vor bei dem Skandal, das fast ein Zehntel unserer Wohnbevölkerung nichts zu sagen hat, dass die sieben Millionen Menschen ausländische Abstammung hierzulande … politisch ins Abseits gestellt und von niemandem vertreten werden: Knechte nur, nicht Bürger. Zwar dürfen sie Steuern und Beiträge bezahlen – aber wählen und ge-wählt werden? …. Die Bundesrepublik, die modernste Demokratie, der beste Verfas-sungsstaat der deutschen Geschichte, leistet sich unverdrossen diese Dauerdiskri-minierung‘ (26.6.1996).
‚Deutschlands Ausländerpolitik fing an wie auf einem Sklavenmarkt.‘ schreibt Chris-tian Schneider in der Süddeutsche Zeitung. ‚Da saßen wir an einem Tisch, so wie bei einer Musterungskommission, und die defilierten dann also an uns vorbei. Und dann haben wir sie uns nach der Größe, nach der Stärke, nach Körperbau angeschaut. Manchmal haben wir uns auch die Hände zeigen lassen, ob sie auch möglichst gro-ße Hände und feste Schwielen an den Fingern haben. Ab und zu guckte man einem dieser Italiener in den Mund, um festzustellen, ob auch seine Zähne einigermaßen in Ordnung sind.‘ (Süddeutsche Zeitung, 23.2.1996). So die Beschreibung eines ver-antwortlichen Deutschen bei der Auswahl der sogenannten ‚Gastarbeiter‘ für die deutsche Wirtschaft. Nach solchen Kriterien wurde der größte Teil der heute in Deutschland oft bereits im Rentenalter lebenden Einwanderer der ersten Generation aus den Anwerbestaaten ins Land geholt.
Ein Großteil von ihnen lebt bereits seit mehr als zehn, zwanzig oder dreißig Jahren in Deutschland. Von den zwei Millionen Migrantenkindern und Jugendlichen, die heute in Deutschland leben, sind rund anderthalb Millionen in Deutschland geboren. Weite-re zwei Millionen der hier lebenden Nichtdeutschen sind als Kind nach Deutschland gekommen und im Lande aufgewachsen und zur Schule gegangen.
Diese Art von Politik, nämlich die in Deutschland seit Jahrzehnten lebenden, hier ge-borenen und aufgewachsenen Menschen weiterhin zu Menschen zweiter Klasse zu degradieren, indem man ihnen einen minderen Ausländerstatus zumutet und sie rechtlich, politisch und zum Teil sozial von der deutschen Bevölkerung absondert, stellt für mich eine neue, europäische Art der Apartheidpolitik, eine besondere Form des Rassismus dar, wie ich dies in einem Spiegel-Interview bezeichnet habe (Der Spiegel, 7.6.1993).
Deshalb hat Robert Leicht recht, wenn er mahnt und fordert, aus Knechten Bürger zu machen. Wenn also über sieben Millionen Menschen in Deutschland zu Ausländern gemacht werden, weil sie die deutsche Staatsbürgerschaft nicht besitzen und dann der Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft für sie so erschwert wird, dass Deutschland die weltweit niedrigsten Einbürgerungsquoten aufweist, während ande-rerseits deutschstämmige Zuwanderer aus den ehemaligen Ostblockstaaten fast au-tomatisch deutsche Staatsbürger werden können, dann ist diese Methode und deren Begründung rassistisch.
Der Umgang mit den Einwanderern ist eine ganz bewusste und auch gewollte staatstpolitische Absonderung und Diskriminierung von Millionen von Einwohnern Deutschlands allein wegen ihrer Herkunft und Nationalität. Wer also in Deutschland den Rassismus bekämpfen will, muss vor allem helfen, diese staatlich in allen Berei-chen der Gesellschaft praktizierte Diskriminierung zu beseitigen.
Die Migranten und ihre Kinder sind in die deutsche Gesellschaft wegen dieses dis-kriminierenden Rechtsstatus bis heute nicht aufgenommen worden. Sie müssen noch immer vor der Tür dieser Gesellschaft warten, obwohl sie alle Pflichten eines Staats-bürgers erfüllen, wie z.B. ihren Solidaritätszuschlag für den Aufbau Ost zu leisten.
Die Angehörigen der zweiten und dritten Generation können und wollen zurecht die-se Art der Behandlung als Menschen ‚zweiter Klasse‘, diese staatspolitisch verfolg-te Diskriminierung und Absonderung nicht akzeptieren, sie sind oft verbittert. Dies zählt nicht zu der so oft beschworenen Integration in die deutsche Gesellschaft; im Gegenteil, dies führt zur Segregation, zur Ghettobildung. Auch die Konzentration der Migranten in manchen Stadtteilen ist die Folge einer verfehlten Wohnungs- und Aus-länderpolitik. Dieser Zustand ist nicht nur für die zweite und dritte Generation inak-zeptabel, inhuman und mit dem Geboten der Demokratie und der Menschenrechte unvereinbar, es gefährdet mittel- und langfristig auch den sozialen Frieden in Deutschland.
Es ist alarmierend, wenn die Immigranten und deren Kinder und Enkel sich hier in ihrer neuen Heimat nach vier Jahrzehnten immer noch nicht Zuhause fühlen dürfen.
Die türkische Bevölkerung Deutschlands, aber auch die anderen Immigranten, die hier wohnen und arbeiten, werden es nicht mehr lange hinnehmen, dauerhaft mit minderen Rechten ausgestattet, hier zu leben.
Das Haupthindernis bei dem Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft ist, wie durch zahlreiche Untersuchungen belegt, die fehlende Toleranz gegenüber einer doppelten Staatsbürgerschaft. Rechtliche Gleichstellung ist die Grundvoraussetzung der von allen demokratischen Parteien gewollten Integrationspolitik. Deshalb muss die er-leichterte Einbürgerung nicht am Ende des Integrationsprozesses stehen, wie dies von den Unionsparteien behauptetet wird, sie ist vielmehr die Voraussetzung jeder Integrationspolitik, die diesen Namen verdient.
In dem am 16.03.1999 vorgelegten Gesetzentwurf der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen war zu lesen von der ‚Verbesserung der Integration der dauerhaft in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Ausländer und ihrer hier ge-borenen Kinder durch Erleichterung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörig-keit.‘
In der Tat: darf eine Reform in keinem Punkt eine Verschlechterung oder Erschwer-nis der Einbürgerungskriterien beinhalten, sondern sie muss erkennbare Erleichte-rungen mit sich bringen. Vor allem für Millionen Menschen der ersten Ausländerge-neration bringt das Gesetz in ganz zentralen Punkten Verschlechterung und unglei-che Behandlungen:
1. Nach dem alten Recht reichten einfache Deutschkenntnisse als eines der Einbür-gerungskriterien aus. In dem ersten Entwurf vom Bundesminister des Inneren, Ot-to Schily, war hierfür ‚Eine Verständigung mit dem Einbürgerungsbeamten in deutscher Sprache‘ vorgesehen, was der geltenden Praxis entsprach. Jetzt wer-den ‚ausreichende Deutschkenntnisse‘ verlangt, eine für die große Mehrheit der ersten wie für Teile der zweiten Einwanderergeneration kaum erfüllbare Forde-rung.
2. Die Bundesregierung wollte einmal die generelle Hinname der doppelten Staats-bürgerschaft akzeptieren. Jetzt hat sie sogar eine bisher bestehende Möglichkeit im § 25/a, nach Maßgabe dessen die alte, also die aufgegebene Staatsbürger-schaft, nachträglich erneut erworben werden konnte, beseitigt. Indem sie diese selbst von der Regierung Kohl nicht angetastete Möglichkeit verhinderte, hat die rot-grüne Koalition ihren letzten Rest von Glaubwürdigkeit bei der Einwanderer-bevölkerung verspielt.
3. § 87 (2) sieht die Einbürgerung unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit für Ausländer mit längerem Aufenthalt vor, wenn der Ausländer ‚die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedsstaates der Europäischen Union besitzt und Gegenseitigkeit be-steht.‘ Hier werden ganz offensichtlich vor allem Türken benachteiligt. Dieser Pa-ragraph ist weder rechtlich noch moralisch und noch weniger gesellschaftspoli-tisch vertretbar. Daher muss dieses Recht für alle Antragsteller gelten, wenn Ge-genseitigkeit gegeben ist.
4. Der Entwurf will die Gebühren von DM 100,- auf DM 500,- für Erwachsene erhö-hen. Eine Notwendigkeit hierfür sehen wir nicht.
5. Die Einführung des Territorialprinzips, selbst wenn dies bis zum 23. Lebensjahr gelten soll, ist auch für uns eine wichtige Erneuerung und Verbesserung. Dieses Recht jedoch rückwirkend bis zum 10. Lebensjahr einzuengen, ist völlig willkürlich und nicht nachvollziehbar. Im Interesse der Zielsetzung dieses Gesetzesentwur-fes müsste diese Möglichkeit mindestens bis zur Vollendung des 18. Lebensjah-res gelten. Nur durch den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit wird die rechtliche Gleich-stellung und die gleichberechtigte Aufnahme der Minderheiten in die deutsche Ge-sellschaft möglich sein. Nur hierdurch wird der Weg für eine echte Integrationspolitik frei gemacht.
Nur dadurch wird eine Identifikation der kulturellen Minderheiten mit dem deutschen Staat und mit der Gesellschaft geschaffen werden können.
Nur hiermit wird eine zunehmende Loyalität und Verbundenheit der Minderheiten mit Deutschland möglich sein.
Dies sollte nicht als eine Aufgabe der Verbundenheit mit der alter Heimat verstanden werden. Die Identität der Eingewanderten, ja sogar ihrer hier geborenen Kinder wird möglicherweise bis in die vierte und fünfte Generation die Verbundenheit und Loyali-tät auch mit dem Herkunftsland der Eltern und Großeltern beinhalten. Dies gehört zur Biographie der Migranten und ihrer Nachkommen. Weder die deutschen noch alle übrigen Einwanderer in die USA negieren die kulturelle und emotionale Verbunden-heit mit ihren Herkunftsländern.
Diese gespaltenen Doppelbiographien der Migranten dürfen nicht als eine Abwertung der neuen Heimat empfunden werden. Im Gegenteil, diese Menschen können zwi-schen ihrer alten und neuen Heimat eine solide menschliche Brücke für Kontakte und bessere Beziehungen bilden. Gerade zufriedene kulturellen Minderheiten sind ein Garant für gute Beziehungen zwischen ihren beiden Ländern.
Erlauben sie mir zum Schluß meiner Ausführungen einen kurzen Exkurs zu einem aktuellen Thema, das mir sehr am Herzen liegt, nämlich zu der immer mehr um sich greifenden rechtsradikalen Gewalt, die Insbesondere seit Beginn der 90er Jahre be-ängstigend Dimensionen erreicht hat.
Seit dieser Zeit sind 29 unschuldige Menschen Opfer rassistischer Gewalt geworden, Hunderte wurden zum Teil schwer verletzt. Laut Angaben des Bundesamtes für Ver-fassungsschutz sind allein in den Jahren 1991-97 58 125 Straftaten mit rechtsextre-mistischem Hintergrund registriert worden. Die Tausende alltäglicher Misshandlun-gen, Beschimpfungen und Beleidigungen Nichtdeutscher und Menschen jüdischen Glaubens durch Rechtsradikale und Neonazis sind hierbei nicht einmal mitgezählt.
Deutschland hat zahlreiche völkerrechtliche Abkommen unterzeichnet, die den Schutz vor Diskriminierung zum Inhalt haben.
Bereits am 19.7.2000 erschien im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft (L 180/24) die Richtlinien des Rates vom 29. Juni 2000 zur ‚Anwendung des Gleichbe-handlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft‘. Seit rund zehn Jahren fordern wir auch für Deutschland ein Antidiskriminierungsge-setz, ähnlich wie in Großbritannien, den Niederlanden, den USA und Kanada, um nur einige Staaten zu nennen.
Ziel eines solchen Gesetzen sollte sein:
1. Gegen rechtsradikale Gewalt viel entschiedener und handlungsfähiger vorge-hen zu können,
2. die Diskriminierung von ethnisch-kulturellen Minderheiten zu beheben und
3. mit einem Bündel von Maßnahmen, auch ‚positive Diskriminierung‘ genannt, die vorhandenen Benachteiligungen der Migranten mit Fördermaßnahmen schrittweise zu beseitigen, um deren Gleichstellung und Gleichbehandlung zu erreichen.
Gerade Deutschland muss aus historischer Verantwortung ganz entschieden gegen jede Art von antisemitisch und rassistisch motivierten Gewalttaten vorgehen. Es ist an der Zeit, dieser rechtsradikalen Gewalt endlich mit einem Bündel von Maßnahmen entgegenzutreten.
Prof. Dr. Hakkı Keskin Politikwissenschaftler, Bundesvorsitzender der ‚Türkischen Gemeinde in Deutschland‘