Meine Position in der Armeniendebatte

Unlängst wurde in der Presse zum wiederholten Mal meine Position in der Kontroverse um die Beurteilung der Armeniervertreibungen im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs kritisiert.

Hierbei wurde und wird mir meist vorgeworfen, dass ich mit meiner differenzierten Sicht auf diese Ereignisse bestreiten würde, dass hierbei eine hohe Zahl osmanischer Armenier umgekommen ist. Dies trifft ausdrücklich nicht zu, ich beurteile nur das Konfliktgeschehen anders, weil dieses letztlich unzählige Opfer und schweres Leid auf beiden Seiten verursachte.

Ich habe in der Vergangenheit bereits mehrfach zu dieser Frage Stellung bezogen, nicht zuletzt deshalb, weil es in meiner vormaligen Funktion als langjähriger Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD) zu meinen klaren Aufgaben gehörte, die mehrheitliche Meinung unserer Mitglieder zu diesem Thema öffentlich zu artikulieren.

Mir ging und geht es stets darum, bei diesem Thema zur Versachlichung der Diskussion und zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung beizutragen. Damit verfolge ich die Zielstellung, die beiderseitige Geschichtsaufarbeitung und den Gedanken der Aussöhnung zwischen beiden Völkern zu fördern. In der gegenwärtig hauptsächlich emotional geführten Debatte ist dies jedoch nicht möglich, da die Positionen viel zu verhärtet sind.

Während Armenien im Zusammenhang mit der Vertreibung im Jahre 1915 von einem staatlich organisierten Völkermord spricht, vertritt die Türkei mehrheitlich die Auffassung, dass die Zwangsumsiedlung der ostanatolischen Armenier der kriegsbedingten, militärstrategischen Lage des Osmanischen Reiches während des Ersten Weltkriegs geschuldet war. Ich persönlich halte die Deportation von Hunderttausenden Menschen, was auch immer deren Motive gewesen sein mögen, für zutiefst inhuman und falsch. Ich möchte ausdrücklich hervorheben, dass die Türkei in diesem Zusammenhang nicht die Tatsache leugnet, dass bei der Deportation Hunderttausende Armenier, aber auch Muslime, ums Leben kamen. Die Türkei wendet sich jedoch entschieden gegen die Unterstellung einer vorsätzlichen Vernichtungsabsicht, deren authentischer Nachweis bislang ausgeblieben ist. Nach Beschluss des Generalrates der UN vom 9.12.1948 ist hierfür der Nachweis erforderlich, dass ‚die Absicht vorliegt, die Angehörigen einer national, rassisch oder religiös bestimmten Gruppe in offener oder versteckter Weise zu vernichten.‘ Deshalb habe ich bereits im Juni 2001 als damaliger Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland folgenden Vorschlag unterbreitet:

• Wir schlagen die Gründung einer Kommission unter Schirmherrschaft der UNO vor, deren Mitglieder aus Historikern bestehen, die sich in diesem Gebiet ausgewiesen haben, um dieses Thema eingehend zu untersuchen. Die Mitglieder der Kommission sollen zu gleichen Teilen aus türkischen und armenischen Historikern bestehen, die je zur Hälfte von der Türkei und Armenien benannt werden. Darüber hinaus wäre denkbar, sich mit Armenien auf international anerkannte Historiker zu einigen, die als Mitglied dieser Kommission wirken sollen.

• Die Türkei und Armenien sollen alle ihre Archive und Unterlagen den Mitgliedern der Kommission zur Verfügung stellen.

• Der Bericht der gemeinsamen Kommission soll, beispielsweise nach einer vereinbarten Untersuchungszeit, der Weltöffentlichkeit vorgelegt werden. Im Jahr 2005 hat der türkische Ministerpräsident Erdoğan dem Staatspräsidenten Armeniens genau diesen Vorschlag unterbreitet. Bislang wurde er von Armenien aber nicht aufgegriffen. Ich weise an dieser Stelle nachdrücklich darauf hin, dass die Forderung nach Einsetzung einer solchen Historikerkommission zentraler Bestandteil der verabschiedeten Bundestagsresolution (BT-Drucksache 15/5689) ist. Vor diesem Hintergrund finde ich es regelrecht grotesk, dass ich für eben diese Forderung von bestimmten exilarmenischen Kreisen beständig als Genozidleugner diffamiert werde.

Mit meinem Vorschlag verbinde ich nach wie vor die Zielstellung, mithilfe einer wissenschaftlichen Untersuchung dieses für beide Seiten höchst traurigen Kapitels zu einer objektiveren und nach Möglichkeit von Armenien und der Türkei gemeinsam getragenen Betrachtung näher zu kommen. Einer auf dem beschriebenen Weg zustande gekommenen Beurteilung würde ich mich selbstverständlich vorbehaltlos anschließen und sie mir zu Eigen machen.

Die Aufrechterhaltung einer ideologisierten Sichtweise führt dagegen zur Tabuisierung dieses Themas und blockiert die notwendige öffentliche Auseinandersetzung und die Geschichtsaufarbeitung. Auf dieser Grundlage wird keine Verständigung und Aussöhnung zwischen beiden Völkern erreicht werden können. In den letzten Jahren haben zahlreiche Verbände und Organisationen von Diasporaarmeniern in Europa intensiv die Verabschiedung von Resolutionen durch die jeweiligen nationalen Parlamente betrieben, die ausschließlich ihre eigene Lesart der Ereignisse als staatlich organisierten Völkermord zum Ausdruck bringen. Dies ist ihr gutes Recht. Allerdings muss dann auch den außerhalb der Türkei lebenden Türken das gleiche Recht zugestanden werden, nämlich ihre Sichtweise zu diesem Thema ebenfalls einzubringen.

Es trifft nämlich keineswegs zu, dass es in dieser Frage nur eine einzige gültige Geschichtsversion gäbe. Das Thema wird in der Wissenschaft unverändert kontrovers diskutiert. Zahlreiche Publikationen renommierter internationaler und türkischer Wissenschaftler basieren auf einer differenzierten Sichtweise mit unterschiedlichen Standpunkten. Den menschlich höchst schmerzvollen Ereignissen in den Jahren 1915-17 fiel zweifellos eine immens große Anzahl osmanischer Armenier zum Opfer, jedoch waren unter den Toten auch Hunderttausende Muslime, vor allem Türken und Kurden. Die Zahl umgekommener Armenier liegt zwar in jedem Fall deutlich darüber, dennoch darf dies nicht zur wissenschaftlich unfundierten Dogmatisierung einer singularisierten Opfer-Täter-Darstellung führen.

Die in den letzten Jahren von mehreren westeuropäischen Parlamenten, auch dem Deutschen Bundestag, verabschiedeten Resolutionen tragen diesem Aspekt bedauerlicherweise keine Rechnung und ignorieren zudem auch den historischen Entstehungskontext des armenisch-türkischen Konflikts. Eine von außen auferlegte Sichtweise, in der die türkischen und kurdischen Opfer schlichtweg unberücksichtigt bleiben und der somit auch keine ausgewogene Beurteilung zugrunde liegt, wird von der überwältigenden Bevölkerungsmehrheit in der Türkei nicht akzeptiert. Denn dies widerspricht oftmals dem eigenen Erlebten der wenigen noch vorhandenen Zeitzeugen und dem an die nachfolgenden Generationen weiter gegebenen Wissen. Dies betrifft mich durchaus auch persönlich.

Infolgedessen haben sich heute zwei weitgehend konträre Sichtweisen verfestigt, von denen in Deutschland nahezu ausschließlich nur die armenische Version reflektiert wird. Erschwerend kommt hinzu, dass viele der zwischenzeitlich außerhalb der Türkei geborenen und aufgewachsenen Türkischstämmigen nur geringe oder überhaupt keine Kenntnisse über die damaligen Ereignisse besitzen. Es dürfte nachvollziehbar sein, dass diese Menschen zunächst wissen wollen, was eigentlich tatsächlich geschehen ist und nicht einfach unhinterfragt die armenische Geschichtsversion übernehmen werden.

Eine aufrichtige Geschichtsaufarbeitung, die Versöhnung zwischen beiden Völkern stiften könnte, setzt daher voraus, dass der historische Konfliktverlauf möglichst authentisch rekonstruiert wird, bevor eine endgültige Beurteilung vorgenommen wird. Dies betrifft vor allem das Ziel und den Ablauf der Zwangsumsiedlung. Die von der armenischen Geschichtsschreibung und Politik in diesem Zusammenhang immer wieder bekräftigte Auffassung, dass der Völkermord eine historisch längst bewiesene Tatsache darstellen würde, kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht akzeptiert werden. Bis heute existiert jedenfalls kein Beschluss eines internationalen Gremiums oder der UNO, der solche Feststellung vornimmt. Wer das Gegenteil behauptet, der sollte auch darlegen, wann jemals eine auf historischen und unverfälschten Fakten und Archivmaterial basierende offizielle Untersuchung stattgefunden haben soll, die zu einem solchen Ergebnis gekommen ist? Dann dürften die erwähnten, in der Wissenschaft bestehenden, gravierenden Positionsunterschiede überhaupt nicht mehr existieren. Es kann daher keinesfalls die Aufgabe von europäischen Parlamenten sein, wissenschaftlicher Forschung zuvorzukommen oder diese gar ersetzen zu wollen und historischen Ereignissen eigene politische Definitionen anzuheften.

Aus diesen Gründen halte ich eine weitere, intensive Forschung für dringend notwendig.

Berlin, 9. Januar 2007

 

Auf den folgenden Seiten finden Sie Eckpunkte der bisherigen Debatte sowie Beiträge aus der türkischen und deutschen Presse:

 

Zur Korrespondenz des Vizevorsitzenden der Fraktion Die LINKE., Bodo Ramelow, mit dem Zentralrat der Armenier.

Zum Antrag des Bundestags aus der letzten Wahlperiode.

Mein Brief an die Redaktion des Berliner Tagesspiegels

 

Solidaritätsbekundungen

Brief von TGD, DITIB und ATIAD an die Fraktion Die LINKE

Brief Kenan Kolats an Gregor Gysi

Brief der TGD an die Mitglieder der Bundestagsfraktion der Partei Die Linke

Presseerklärung der Türkischen Gemeinde Berlin

Protestnote der TGD Rhein / Main

Presseerklärung der Türkisch-Deutschen Unternehmervereinigung Berlin-Brandenburg (BTU)

Presseerklärung der TGH

Pressemitteilung der TGH – Jugend

Brief der BTEU an Lothar Bisky

Presseerklärung HADD

Brief zu JK Fromme des AADD

Pressemitteilung Dogu Perincek

Pressemitteilung Türk ve İslâm Dernekleri Birliği

TDU´nun Pressemitteilung

‚Einspruch‘ der TKÖ

Brief von Türgem an die Fraktion

Brief Cem Seys an die Mitglieder der Linkspartei

Erklärung der AG NAD

zur Position der Alevitischen Gemeindschaft

 

Presseerklärung unterstützt von:

  • Verein zur Förderung des Gedankenguts Atatürks in Niedersachsen
  • Türkische Gemeinde Hannover
  • Verband der Atatürk Vereine in Deutschland
  • Türkischer Akademiker Bund
  • DITIB
  • BTEU
  • DTU
  • Elternverein Garbsen
  • Elternverein Lehrte
  • Alevitischer Cem Verein
  • Türkische Gemeinde Garbsen
  • Hürtürk
  • Elternverband Hannover
  • Schwarzmeer Verein Hannover