Neumünster – Leseversion

Veranstaltung des Präsidenten des Schleswig-Holsteinischen Landtages in Neumünster am 2. November 2002 'Türken in Schleswig-Holstein - türki-sche Schleswig-Holsteiner”
Vortrag von Prof. Dr. Hakkı Keskin zum Thema: Mit mutigen Schritten das Miteinanderle-ben in Deutschland gestalten

Sehr geehrter Herr Präsident,

meine Damen und Herren!

Am 31. Oktober 1961 wurde der bilateraler Vertrag zur An-werbung türkischer ‚Gastarbeiter‘, wie man sie noch bis vor wenigen Jahren nannte, zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei unterzeichnet.

41 Jahre nach der türkischen Arbeitsmigration, und 48 Jah-re nach dem ersten Abkommen mit Italien zur Anwerbung der Arbeitsmigranten sollte es nun mehr um die Gestaltung und Perspektive der Migrationspolitik in Deutschland ge-hen.

Es sollte also um Visionen gehen, wie nämlich die Rah-menbedingungen des Zusammenlebens und des Miteinan-ders der deutschen Bevölkerung mit den kulturellen Min-derheiten aussehen sollen.

Keinem von uns wäre geholfen, wenn wir uns nicht offen und mutig darüber austauschten, was getan werden sollte, ja müsste und mit welchen Schritten die Schwierigkeiten des Zusammenlebens bewältigt werden könnten.

Deshalb werde ich mir erlauben, das ist so meine Art, Klar-text zu reden.

1. Wir brauchen ein grundlegend neues Politikver-ständnis bei der Einwanderungs- und Integrati-onspolitik.

Es sollte Schluss sein mit den parteipolitischen Debatten, ob wir Einwanderungsland oder multikulturelle Gesellschaft sind oder nicht.

Das Verständnis der Politik für und die Sichtweise gegen-über den Eingewanderten und ihren Familienmitgliedern sollte dabei auf neue Grundlagen gestellt werden.

2. Wir brauchen eine Begriffsklärung: Die in Deutsch-land niedergelassenen Einwanderer und ihre Familien sind weder Gäste noch Ausländer, auch nicht auslän-dische Mitbürger. Es ist an der Zeit sie so zu benen-nen, wie es der Lebensrealität dieser Menschen ent-spricht: sie sind Deutschland-ürken, Deutschland-Italiener, Deutschland-Griechen, Deutschland-Spanier usw. Sie sind die neuen ‚kulturellen Minder-heiten‘ Deutschlands. Kulturelle Minderheit sollte nunmehr als gängiger allgemeiner Oberbegriff für alle in Deutschland dauerhaft lebenden Menschen ohne deutsche Herkunft Anwendung finden.

Deshalb begrüße ich es ausdrücklich, dass Sie Herr Präsi-dent Arens, in Ihrer Einladung zu Recht von ‚türkischen Schleswig-Holsteinern‘ sprechen. Das ist ein richtiger und auch wichtiger Schritt. Der bis heute meist verwandte Begriff ‚Ausländer‘ ist für Menschen, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben und sogar hier geboren und ausgewachsen sind, diskriminie-rend und integrationshemmend.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich deutlich darauf hinwei-sen, dass ich mit großem Interesse und viel Respekt das im August diesen Jahres veröffentlichte ‚Konzept der Landes-regierung zur Integration von Migrantinnen und Migranten in Schleswig-Holstein‘ gelesen habe.

Zum ersten Mal trägt hierin eine Landesregierung der ge-sellschaftlichen Realität Deutschlands voll Rechnung, ohne ein Versteckspiel mit Begriffen zu treiben oder sich um längst vollzogene Realitäten herumzudrücken. Dies ist ein ganz mutiges Integrationskonzept, insbesondere im Be-reich Bildung und Erziehung. Dazu möchte ich der Landes-regierung Schleswig-Holsteins und allen Mitwirkenden gra-tulieren.

3. Wir brauchen die Aufnahme der Eingewanderten und hier dauerhaft lebenden in die deutsche Ge-sellschaft: Die Eingewanderten warten noch vor der Tür der deutschen Gesellschaft.

Die Eingewanderten und ihre Kinder und Enkel sind ein fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft. Deutschland ist auch ihre Heimat. Diesen Menschen eine gleichberech-tigte Aufnahme in die Gesellschaft zu ermöglichen, ist die Grundvoraussetzung für eine Integration und eine vordring-liche Aufgabe der Politik. In der eigenen Heimat kann und darf man nicht als Ausländer mit minderen Rechten leben.

Ohne eine rechtliche, politische und soziale Gleichstellung der hier dauerhaft lebenden kulturellen Minderheiten wird eine Integration nicht gelingen; wenn wir dies annehmen, belügen wir uns selbst. Rund 7,3 Millionen Migranten, darunter mehr als 2 Millionen Türken, haben immer noch einen Ausländerstatus, obwohl sie zum größten Teil seit Jahrzehnten in Deutschland le-ben. Dieser Zustand ist auf Dauer mit dem Gebot eines demokratischen Rechtsstaates nicht zu vereinbaren. Das neue Staatsangehörigkeitsrecht hat zwar mit der Einfüh-rung des Territorialprinzips für die hier geborenen Kinder auch nichtdeutscher Eltern dieses Problem gelöst, nicht je-doch für die erste und zweite Einwanderergeneration. Wir sind nach wie vor der festen Überzeugung, dass dieses Problem nur behoben werden kann, wenn die Beibehaltung der bisherigen Staatsbürgerschaft zumindest für diesen Personenkreis toleriert wird.

Ähnlich wie in vielen EU-Staaten muss auch Deutschland die Beibehaltung der bisherigen Staatsbürgerschaft tolerie-ren, damit die deutsche Staatsbürgerschaft auch von gro-ßen Teilen der kulturellen Minderheiten angenommen wird.

Das neue Staatsangehörigkeitsgesetz verlangt beim Er-werb der deutschen Staatsbürgerschaft ‚ausreichende Deutschkenntnisse in Wort und Schrift‘. Dieses Kriterium kann weder von der ersten noch der zweiten Einwanderer-generation erfüllt werden. Daher sollte man sich wie im al-ten Gesetz darauf beschränken, dass man sich ‚in der deutsche Sprache mündlich verständigen‘ kann.

Bei der Anhörung der Süßmuth-Kommission zum neuen Zuwanderungsgesetz hatte sich die Türkische Gemeinde ganz entschieden für eine gesonderte Regelung für die ers-te und zweite Generation der Migranten eingesetzt. In der Kommission hatte die ehemalige Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Frau Cornelia Schmalz-Jakobsen mit unserer Billigung den Vorschlag gemacht, dass den Migranten, die vor dem Anwerbestop (September 1973) nach Deutschland kamen, die Möglichkeit gegeben wird, ohne Verlust ihrer bisherigen Staatsbürgerschaft und mit einfachen Deutschkenntnissen die deutsche Staatsangehö-rigkeit erwerben zu können. Die Mitglieder der Kommission haben sich diesen Vorschlag zu eigen gemacht und in den Bericht der Kommission aufgenommen.

4. Die kulturelle Vielfalt ist die Zukunft und eine Be-reicherung für Deutschland

In Deutschland leben rund 7,3 Mio. Menschen nichtdeut-scher Herkunft (knapp 9% der Gesamtbevölkerung) mit der deutschen Bevölkerung zusammen. Der Anteil dieser kultu-rellen Minderheiten, die aus ganz unterschiedlichen Kultur-kreisen stammen, nimmt stetig zu und wird auch weiterhin steigen. Diese Menschen bilden eine Brücke zwischen ih-ren Herkunftsländer und Deutschland. In einer Zeit der Globalisierung ist diese Ressource für Deutschland ein un-verzichtbarer Standortvorteil. Diese Menschen machen Deutschland in bezug auf Sprache, Musik, Literatur, Kunst, Sport, Religion, auf unterschiedliche Lebensweise und nicht zuletzt in der Gastronomie bunter, reicher und attrak-tiver.

Dieser Reichtum verdient gefördert zu werden.

Kindergärten, Schulen und Hochschulen sind bereits heute Orte einer lebendigen und dynamischen kulturellen Vielfalt. Diese Orte können mit einem seit Jahren von Wissen-schaftlern geforderten ‚interkulturellen Ansatz‘ im Erzie-hungs- und Bildungsbereich für alle Kinder zu Laboratorien sprachlicher Vielfalt, des gegenseitigen Verstehens und Lernens, der Toleranz, der Dialogfähigkeit, der Verständi-gung und des Abbaus von Vorurteilen gemacht werden. Die Förderung dieses interkulturellen Ansatzes ist das bes-te Bollwerk gegen rechtsradikale und neonazistische Ideen und damit gegen die von der rechten Szene ausgehende Gewalt.

Das Erlernen der Muttersprache ist als Reichtum und als eine berufliche Chance für die Zukunft der Kinder zu ver-stehen und sollte gezielt gefördert werden.

Schulbücher und Materialien über Geschichte sowie Geo-graphie müssen gemäß dem Ansatz der interkulturellen Er-ziehung gründlich überarbeitet werden. Die Erzieherinnen, Lehrer, Sozialpädagogen und Professo-ren müssten durch Fort- und Weiterbildung befähigt wer-den, diesem interkulturellen Ansatz und der neuen Schul-realität gerecht zu werden.

Wie durch die sprachwissenschaftliche Forschung in eini-gen Ländern und auch in Deutschland bereits untermauert, ist die optimale sprachliche Entwicklung der Kinder von der Beherrschung der Muttersprache abhängig. Deshalb sollte der Zweisprachigkeit, dem erlernen der Muttersprache ne-ben der Schulsprache Deutsch, sowohl in den Vorschulein-richtungen als auch in den Schulen die notwendige Bedeu-tung beigemessen werden. Hierbei gewinnt die Zeugnis- und Versetzungsrelevanz der schulischen Leistungen im muttersprachlichen Unterricht eine besondere Bedeutung.

5. Schulische Bildungs- und berufliche Ausbil-dungschancen der Migrantenkinder verbessern

Eine große Zahl von Kindern türkischer Herkunft, die in Deutschland geboren sind und größtenteils in den soge-nannten Ballungsgebieten aufwachsen, verfügen beim Schulbeginn über keine oder nur sehr geringe Kenntnisse der deutschen Sprache.

Dies ist ein ganz zentrales Problem, dem wir uns stellen und das wir mit aller Kraft lösen müssen.

Diese Entwicklung ist hauptsächlich dadurch zu erklären, dass jene Kinder gar nicht oder nur in geringem Umfang vorschulische Einrichtungen besuchen und daher nicht von den dort angebotenen Förderangeboten Gebrauch machen können.

Die Erfahrung zeigt, dass Kinder nichtdeutscher Eltern nach mindestens zweijährigem Besuch einer Kindertages-stätte zum Zeitpunkt der Einschulung kaum noch sprachli-che Defizite aufweisen.

Gute, zumindest aber ausreichende Kenntnisse der deut-schen Sprache sind aber die Grundvoraussetzung für glei-che Start- und Bildungschancen, wie später für erfolgreiche Schulabschlüsse.

Deshalb sind dringend Maßnahmen erforderlich, um Defizi-te bei der deutschen Sprache bis zum Schulbeginn zu be-heben, zumindest aber zu verringern.

  • Insbesondere nichtdeutsche Eltern sollten motiviert wer-den, ihre Kinder spätestens ab dem vierten Lebensjahr in Kindertagesstätten zu schicken.
  • Mit diesem Ziel sollte eine enge Zusammenarbeit der tür-kischen Eltern- und Lehrervereine und der Gemeinden mit den Schulbehörden erfolgen. Hierfür sollten die türkische Eltern durch Briefe, Informationsveranstaltungen, Öffent-lichkeitsarbeit und Beratungen vor allem in den Schulen und Vorschuleinrichtungen sowie den türkischen Vereinen informiert werden.
  • In den Kindertagesstätten sollte den Kindern ohne deut-sche Muttersprache einen Platz gesichert werden, selbst dann, wenn ein Elternteil nicht berufstätig ist.
  • In den Kindertagesstätten und Vorschulklassen sollten ge-eignete Rahmenbedingungen geschaffen werden, mit dem Ziel, die sprachliche Kompetenz der Kinder gezielt zu för-dern.
  • Hierfür sollte die sprachliche Förderung den altersadäqua-ten Bedürfnissen entsprechend ausgeweitet werden. Die Vermittlung der deutschen Sprache sollte durch geschulte und kompetente Pädagoginnen und Pädagogen erfolgen. Hierzu bedarf es der Qualifizierung der im Elementarbe-reich tätigen Lehrkräfte. Die Bemühungen und Fördermaß-nahmen sollten sich vor allem auf die Stadtteile konzentrie-ren, in denen der Anteil der Kinder ohne deutsche Mutter-sprache hoch ist.
  • Darüber hinaus wäre zu überlegen, in wieweit zumindest ein einjähriger obligatorischer Besuch von Einrichtungen im Elementarbereich aller Kinder, deutscher und nichtdeut-scher Herkunft, möglich ist. Dieses ‚Vorschuljahr‘ könnte beispielsweise unmittelbar vor Schulbeginn erfolgen.
  • Einer der Hauptgründe für das schlechte Abschneiden des deutschen Bildungssystems im internationalen Vergleich – das zeigt die PISA-Studie deutlich – ist die ungenügende Förderung gerade sozial benachteiligter Kinder und Ju-gendlicher durch das deutsche Schulsystem. Deshalb soll-ten besonders diese Schüler gezielt durch Verkleinerung der Schülerzahl in den Klassen und durch gezielten Nach-hilfeunterricht gefördert werden.
  • Da sozial- und bildungsschwache Eltern nicht in der Lage sind, ihren Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen, muss deren Kindern verstärkt Hausaufgabenhilfe angeboten werden. Elternvereine, die Hausaufgabenhilfe und Nachhil-fe für Schüler/innen anbieten, sollen finanziell unterstützt werden.

6. Wir befürworten die geplanten Deutsch- und Integra-tionskurse

Für die mangelhaften Deutschkenntnisse bei Teilen der ersten und zweiten Einwanderergeneration ist vor allem ei-ne bisher völlig perspektivlose Ausländerpolitik verantwort-lich, die anders als bei Aussiedlern und im Gegensatz zu anderen Ländern keine Integrationsmaßnahmen und Deutschkurse für die angeworbenen Menschen vorsah. Menschen im Rentenalter oder nahe davor mit Sanktionen zum Erlernen des Deutschen zu zwingen, ist inakzeptabel und inhuman. Für die Zukunft sollte aus diesem Fehler ge-lernt werden.

Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Meinung, die vie-len Nichtdeutschen Desinteresse am Erlernen der deut-schen Sprache unterstellt, sind wir der Auffassung, dass alle Migranten, die sich in Deutschland niedergelassen ha-ben, ein vitales persönliches Interesse daran haben, sich in der deutschen Sprache gut verständigen zu können. Des-halb sollte diesen Menschen die Möglichkeit gegeben wer-den, die deutsche Sprache zu erlernen. Deshalb sollten für ältere Einwanderer Deutschkurse mit neuen Curricula und mit Lehr- und Lernmaterialien (‚Deutsch als Umgangsspra-che‘) entwickelt werden.

Für Neuankömmlinge sollte im Rahmen des Deutschunter-richts auch über die beruflichen Möglichkeiten und die poli-tisch-gesellschaftliche Landschaft, über Institutionen, Ver-fahrensweisen, Werte und Normen in Deutschland infor-miert werden.

Unstrittig ist, dass das Erlernen der deutschen Sprache die Grundlage der Integration bildet. Diese Feststellung darf aber nicht dazu führen, dass die Ausübung von Grundrech-ten wie z.B. das Recht auf freie Wahl des Wohnortes und des Ehepartners in Frage gestellt wird.

Unbestritten ist auch, dass Stadtteile mit ethnischer und sprachlicher Vielfalt zum Teil weniger Gelegenheit bieten, Deutsch als ‚Begegnungssprache‘ zu erfahren. Daher müssen sie u.a. durch städtebauliche Maßnahmen für alle Bewohner/innen attraktiver gestaltet werden.

7. Mit einem Antidiskriminierungsgesetz Rassismus, Antisemitismus und Ausländerhass bekämpfen und Benachteiligungen der kulturellen Minderhei-ten schrittweise aufheben

Die von der EU beschlossene Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29.Juni 2000 zur ‚Anwendung des Gleichbe-handlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft‘ muss konsequent und ohne Aus-schöpfung der Dreijahresfrist in innerstaatliches Recht um-gesetzt werden. Hierfür hat Deutschland nur noch bis Mitte Juni 2003 Zeit.

  • Eine ganze Reihe von Gesetzen in verschiedenen Berei-chen sehen ungleiche Behandlung von Migranten und ihren Familienangehörigen, die nicht die deutsche Staatsangehö-rigkeit besitzen, gegenüber deutschen Staatsbürgern vor. Diese gesetzlichen Diskriminierungen müssen aufgehoben werden.
  • Behörden, Firmen, Dienstleistungsbetriebe, Wohnungsge-sellschaften, Sportvereine etc., die Menschen wegen ande-rer Herkunft, Nationalität, Religion oder Hautfarbe diskrimi-nieren, müssen mit strafrechtlichen Folgen rechnen, ähnlich wie dies in den Niederlanden, Großbritannien, den USA und Kanada der Fall ist.
  • Den kulturellen Minderheiten sollte zivilrechtlicher Schutz vor Diskriminierung zugesichert werden, indem man ihnen einen Anspruch auf Schadensersatz aufgrund materieller und immaterieller Diskriminierung einräumt, wie in den Nie-derlanden, in Großbritannien, den USA und Kanada.
  • Es müssen gesetzliche und sonstige Maßnahmen ergriffen werden, um die kulturellen Minderheiten solange verstärkt zu berücksichtigen und zu fördern (ähnlich wie bei der Frauenförderung!), bis Ungleichheiten behoben sind.
  • Staatliche Subventionen und Aufträge an private Unter-nehmen sollten an die Bedingung gebunden sein, dass diese Firmen die Beschäftigung von Angehörigen kultureller Minderheiten besonders fördern, wie in den Niederlanden, in Großbritannien und den USA.
  • Anzustreben ist auch eine gesetzlich gewährte Förderung der benachteiligten kulturellen Minderheiten im Schul- und Ausbildungsbereich mit dem Ziel, Chancengleichheit her-zustellen, wie in Großbritannien und den Niederlanden.
  • Unabhängigen Beschwerdestellen sollten als Anwalt der Betroffenen zur Abwehr und Beseitigung von Diskriminie-rungen in Gemeinden und Städten eingerichtet sowie Ver-bandsklagen zugelassen werden, wie in den Niederlanden, in Großbritannien, den USA, Schweden und Kanada.
  • Bei Beschwerden über Diskriminierung aufgrund kultureller Herkunft ist die Beweislast umzukehren.
  • Rassismus, Antisemitismus und Ausländerhass stellen kei-ne Meinungsfreiheit dar.
  • Parteien, Vereine und Medien, die offen oder mittelbar ras-sistische, antisemitische und ausländerfeindlichen Ideen verbreiten und somit für die rechtsradikale Gewalt den Bo-den bereiten, müssen mit aller Härte der Gesetze, wenn nötig durch neue Gesetze, verfolgt und gegebenenfalls verboten werden.
  • Durch eine Änderung der Strafgesetze soll ein rassisti-scher, antisemitischer oder ausländerfeindlicher Hinter-grund bei Gewalttaten strafverschärfend wirken.

8 Einwanderung darf nicht wie bisher als eine Si-cherheits- und Wohlfahrtaufgabe betrachtet wer-den. Daher muss sie aus dem Bereich der Innenministerien herausgelöst werden. Eine neue Einwanderungs- und In-tegrationspolitik bedarf neuer Strukturen. Sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene sowie in den Kom-munen muss dies als Querschnittsaufgabe erkannt und die Zuständigkeiten gebündelt werden.

Auf Bundesebene wie in den Ländern wäre ein Ministerium für Einwanderung und Integration wünschenswert, zumin-dest sollte aber eine Behörde errichtet werden, die mit Staatssekretärsrang und Querschnittskompetenzen aus-gestattet ist.

9. Einbeziehung der Migrantenverbände in den Ges-taltungsprozess

Es widerspricht den Grundprinzipien einer Demokratie, vor allem einer Basisdemokratie, die zukünftige Zuwande-rungs- und Integrationspolitik weiterhin ohne Mitwirkung der Betroffenen selbst zu gestalten.

Ein solches Politikverständnis ist für uns inakzeptabel und muss überdacht werden.

Nach bestimmten Kriterien ausgewählte Migrantenorgani-sationen sollten als Vertreter der jeweiligen Bevölkerungs-gruppen anerkannt, mit Kompetenzen und Mitentschei-dungsmöglichkeiten in den zu schaffenden Einrichtungen ‚für Einwanderung und Integration‘ vertreten sein und in-stitutionell gefördert werden. Nur so wird ein stetiger Dialog und die Einbeziehung der kulturellen Minderheiten in die sie direkt betreffenden Aufgabenbereiche gewährleistet sein. Ihnen sollten auch bestimmte integrationspolitische Aufgaben übertragen werden.

Hierbei stellen vor allem die Niederlande und Schweden mit ihren diesbezüglichen Erfahrungen positive Beispiele dar . Integration ist nicht zum Nulltarif zu haben. Vorhandene Mittel müssen ausgeweitet gegebenenfalls auch gebündelt und nur im Kontext von Integrationsprogrammen weiter- bzw. ausgegeben werden.

10. Eine Gesamtbewertung der bisherigen Integrationspolitik

Die Feststellung von durchaus erheblichen Mängeln und Fehlentwicklungen bei der Integration von Migranten/innen – z.B. Stagnation bei den Bildungsabschlüssen, hohe Ar-beitslosigkeit, mangelnde Deutschkenntnisse – darf den-noch nicht die beachtlichen Integrationserfolge im Arbeits-leben, im Bildungsbereich und in den Wohnvierteln über-schatten. Die Eingewanderten und ihre Nachkommen sind in ihrer großen Mehrzahl Teil dieser Gesellschaft gewor-den, sie haben sich gemessen an den Rahmenbedingun-gen gut in die deutsche Gesellschaft integriert.

Festzustellen ist allerdings, wie bereits dargestellt, dass vor allem die bisherige Ausländerpolitik in Deutschland die Ein-gewanderten und ihre Nachkommen nicht als integralen Bestandteil der bundesdeutschen Gesellschaft betrachtet hat und ihre Anwesenheit vielfach in Frage stellte. Vor al-lem auch deshalb fühlen sich Teile der Eingewanderten und ihrer Nachkommen in der Bundesrepublik immer noch nicht heimisch.

Gegenseitige Vorwürfe und Schuldzuweisungen helfen nicht weiter. Gefragt sind vielmehr konkrete Lösungsvor-schläge. Es darf auch nicht übersehen werden, dass viele Probleme nicht aus der ethnischen Herkunft der Betroffe-nen resultieren, sondern aus ihrem sozialen Status. Viele sind mit den steigenden Ansprüchen einer modernen Wis-sensgesellschaft überfordert. Bei allen integrationspoliti-schen Vorschlägen sollte darauf geachtet werden, dass Migranten sich nicht gegenüber der Mehrheit zurückgesetzt behandelt fühlen.

Vorschläge von Heinz Kühn verdienen auch heute gro-ße Beachtung

Vor knapp 23 Jahren, im September 1979, hatte der erste Ausländerbeauftragte der Bundesrepublik Deutschland, Ministerpräsident a. D. Heinz Kühn, sein berühmtes ‚Me-morandum zur Integrationspolitik‘ vorgelegt. Dies wäre auch heute noch eine lehrreiche Lektüre für alle Politikerin-nen und Politiker, vor allem der aus den Unionsparteien. Kühn schlug unter anderem folgende Maßnahmen als dringlich vor:

Anerkennung der faktisch vollzogenen und nicht mehr um-kehrbaren Einwanderung,

.Korrektur der bis dahin rein arbeitsmarktpolitisch gepräg-ten Maßnahmen zu Gunsten der gesellschaftspolitisch not-wendigen Gegebenheiten und Erfordernisse ,

Intensivierung der Integrationsmaßnahmen für Kinder und Jugendliche in der Vorschule, Schule und beruflichen Bil-dung,

Optionsrecht der in der Bundesrepublik geborenen und aufgewachsenen Jugendlichen bei der Einbürgerung, Generelle Überprüfung des Ausländerrechts und Einbürge-rungsverfahrens mit dem Ziel größerer Rechtssicherheit und stärkerer Berücksichtigung der Interessen von Auslän-dern,

Einführung des kommunalen Wahlrechts, .Ausdehnung der sozialen Beratung.

‚In Anbetracht der bisherigen negativen Entwicklung kann nur noch eine konsequente Integrationspolitik größeren in-dividuellen und gesamtgesellschaftlichen Schaden verhin-dern. Im Ergebnis schließt dies die volle rechtliche und tat-sächliche Gleichstellung des integrationsbereiten Teiles der Betroffenen ein, da eine ganze Bevölkerungsgruppe auf Dauer nicht in einem Sonderstatus belassen werden kann.‘

Das sind nur einige der Vorschläge, die Heinz Kühn vor 23 zur gemacht hat.

Liest man heute insbesondere das Positionspapier der U-nionsparteien, so sind dort außer den mit Sanktionen be-legten Integrationskursen ausschließlich restriktive Maß-nahmen vorgesehen.

Haben nur die Migranten eine Bringschuld für die Integrati-on? Hat nicht auch der Staat Verpflichtungen gegenüber den Menschen, die er zum Wohle seiner Wirtschaft vor Jahren ins Land holte? Haben die hier seit Jahrzehnten le-benden und in zweiter, dritter und bald vierter Generation geborenen und aufgewachsenen Menschen bereits die vol-le rechtliche Gleichstellung und eine tatsächliche Gleichbe-handlung erfahren, wie Heinz Kühn dies forderte? Leben nicht diese Menschen heute noch mit einem Ausländer-sonderrecht, also mit minderen Rechten und weitgehend ohne die Möglichkeit zur politischen Partizipation? Sind die Defizite in der Vorschule, Schule und bei der beruflichen Bildung für die Kinder und Jugendlichen unter den Einwan-derern durch entsprechende Fördermaßnahmen auch nur annähernd beseitigt?

Selbst für die höhere Arbeitslosigkeit und den damit ein-hergehenden Sozialhilfebezug werden die Nichtdeutschen von den Unionsparteien in ihrem Papier verantwortlich ge-macht, als ob diese Menschen nicht arbeiten und von Sozi-alhilfe leben wollten. Als ob die ausländerrechtlichen Be-nachteiligungen und Arbeitsverbote für Asylbewerber hier-bei gar keine Rolle spielten. Und als ob die Beseitigung o-der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit nicht die zentrale Auf-gabe des Staates wäre.

Erlauben sie mir bitte zum Schluss einige Bemerkun-gen zu Terror und Islam

Mit Sorge beobachten wir, dass die grausamen und in ihrer Tragweite unvorstellbaren Terroranschläge in den USA von machen auf der Straße, am Arbeitsplatz, in den Medien und in der Politik benutzt werden, um Muslime in Deutschland als potenzielle Sympathisanten der Terroristen zu diskredi-tieren.

In der Berichterstattung lesen und hören wir fast immer den Begriff ‚islamische Terroristen.‘, als gehörten die Begriffe ‚Terrorismus‘ und ‚Islam‘ irgendwie zusammen. Bei die-ser Eine solche Sicht der Dinge scheint mir stark von den Thesen Huntingtons in seinem ‚Kampf der Kulturen‘ be-einflusst zu sein.

Nicht der Islam, was ja übersetzt ‚Frieden‘ bedeutet, oder die islamische Kultur ist Feind der Christlichen Kultur, son-dern der Terror.

Vom Terror der Terrorsiten in den islamischen Staaten sind auch viele islamische Länder selbst betroffen, wie die Tür-kei, Algerien, Ägypten u.s.w.

Der Terror kennt keine Religion, keine Ethnie und kein Land, er kann überall sein.

Ich habe bislang nicht gehört, dass von christlichen Terro-risten die Rede ist. Die Terroristen werden in Zusammen-hang mit ihrer Organisation genannt, also ETA, IRA, korsi-sche Terroristen etc. Der Islam hingegen wird von machen Gruppen, Parteien und Vereinen für die eigenen politischen, ideologischen und vor allem ökonomischen Ziele instrumentalisiert.

Der politische Islam erhebt Anspruch auf die Formung des Staatswesens, also der Justiz, der Wirtschaft, der Bildung, der Menschenrechte, und zwar nach dem eigenen Ver-ständnis von Religion. Die Regierung der Taliban in Afgha-nistan oder die Regierung der Mullahs im Iran sind zwei Beispiele dafür. Viele Sachkenner sagen, dass dieses Is-lamverständnis mit dem eigentlichen, dem ursprünglichen Islam nichts zu tun hat.

Die Türkei als ein Islamisches Land hat aus Erfahrung von vielen Jahrhunderten, eine klare Lösung gefunden: den Laizismus, d.h. die Trennung von Staat und Religion.

Religion darf sich nicht in die Staatspolitik einmischen, sie darf nicht den Anspruch erheben, nach religiösen Kriterien die Staatsform und das Leben zu bestimmen.

Religion und religiöse Überzeugung ist reine Privatsache. Auch nicht religiös zu sein, darf nicht unterdrückt werden.

Aus gutem Grund gehört daher der Laizismus seit 87 Jah-ren zu den unveränderlichen Verfassungsgrundsätzen der Republik Türkei.

Was mich erstaunt ist, dass dieses innerhalb der islami-schen Welt bereits so lange erfolgreich praktizierte Beispiel Türkei unter den Islam-Experten auch hier in Deutschland kaum Beachtung findet.

Im Gegenteil, sie kritisieren dieses Modell als ein vom Staat beeinflusstes, sie priorisieren die Gegner des Laizismus, sie wollen einen ‚Euro-lslam‘ installieren. Die Türkei hat aber als islamisches Land bereits genau diese Brücke zu Europa geschlagen, hat weitgehend die letzten Hindernisse hin zu einem demokratischen Rechtsstaat nach dem Vor-bild Westeuropas ausgeräumt.

Ich habe manchmal das Gefühl, dass offenbar ein gewisses Interesse daran besteht, den Islam an blutigen Beispielen wie Afghanistan, dem Iran oder dem Sudan zu illustrieren als an positiven wie eben der Türkei.

Herr Präsident,

Das Bundesland Schleswig-Holstein versucht eifrig, das ist jedenfalls meine Wahrnehmung, die Versäumnisse in der Migrationspolitik rasch zu beseitigen. Dies finde ich nicht nur für Ihr Bundesland ermutigend, sondern für ganz Deutschland.

Wir brauchen Beispiele wie dieses, brauchen mutige Politi-kerinnen und Politiker als Motor einer solchen Politik, damit in den oben geschilderten Bereichen auf Bundesebene ra-dikale Veränderungen und Verbesserungen möglich wer-den. Wir, die Migrantenverbände, sind gern bereit, sie auf diesem Wege mit all unseren Kräften zu unterstützen.