Scheriat

Die Bedrohung durch die Scheriatsordnung

In den letzten Wochen erleben wir in der Türkei eine zunehmende politische Polarisie-rung. Hier spielen zweifellos die nahenden Kommunalwahlen eine große Rolle. Die drei, so-zialdemokratisch orientierten Parteien scheinen an einer Politik festhalten zu wollen, bei der im Endeffekt keiner gewinnt, anstatt die starken Kandidaten der Parteien in den einzelnen Kommunen gegenseitig zu unterstützen. Die bürgerlich/konservativen Parteien unterschei-den sich in dieser Hinsicht kaum von den Sozialdemokraten. Diese Parteien, die in ihrer Zielsetzung die parlamentarische Demokratie und den laizistischen Staat verteidigen, stellen ihre vom Grundsatz her eher nebensächlichen Konflikte weiterhin in den Vordergrund, als sich in den Kernfragen zu einigen. Die politische Arena wird so gut wie allein der ‚Refah‘ Partei überlassen, die zu den westlich orientierten Parteien eine religiös-fundamentalistische Alternative bietet.

Meinungsumfragen besagen, daß die Refah Partei ihre Stimmenanteile erheblich erhö-hen und zur zweitstärksten politischen Kraft werden kann, wenn man den Prognosen trauen darf. Es gibt berechtigte Sorgen wegen dieser Partei, die eine politische Ordnung aufbauen will, die die Religion als Basis nimmt und die die westliche parlamentarisch-demokratische und laizistische Ordnung grundlegend verändern will. Ein auf der Religion basierender Staat ist während der letzten 70 Jahre in der Türkei nicht erprobt worden. Aber die Länder, in de-nen ein auf der Religion fußender Staat aufgebaut wurde, sind bekannt. Es handelt sich um Saudi Arabien, die Arabischen Emirate, Libyen, den Iran und zeitweilig auch Pakistan. Wel-ches dieser Regime könnte der Türkei ein Vorbild werden? Wie sähen, außer in Pakistan, ihre Volkswirtschaften heute aus, wenn sie nicht die reichsten Ölvorkommen auf der Welt besäßen? Ihre gesellschaftliche Ordnung ist augenfällig. Sehen wir nicht alle ganz deutlich, daß Demokratie und Menschenrechte unter der grausamen Gewalt eines einzelnen Herr-schers oder von Familienclans zweifellos unterdrückt werden? Welcher Staatsbürger dieser Länder könnte z.B. Regime und Regierung in Saudi Arabien oder im Iran kritisieren? Wer könnte ungehindert seine Meinung äußern? Niemand! Alle Welt weiß, daß diejenigen, die es dennoch tun, damit ihr Recht auf Leben akut gefährden.

Natürlich behauptet die Refah Partei, sie nehme diese Länder nicht zum Vorbild. Gut, aber gibt es denn in der islamischen Welt mit über einer Milliarde Menschen kein einziges Land, das für eine von den Führern der Refah Partei vorgeschlagene Politik als Beispiel die-nen könnte? Ein solches Land gibt es nicht und wird es auch nie geben!

Trotz seiner Mängel und mancher Reibungsverluste ist das westlich orientierte parlamen-tarisch-demokratische Rechts- und Sozialstaatsmodell ein System, zu dem es keine Alterna-tive gibt. Dieses System wird in den entwickelten Industriestaaten wie in England, Frank-reich, den USA, der Schweiz, in Deutschland oder Japan in der Praxis immer dann, wenn Mängel auftreten, verbessert. Es ist ein System, das sich den herrschenden und sich ständig verändernden Bedingungen anpassen kann. Das beste an diesem System ist die ungehin-derte Freizügigkeit des Gedankenguts. Jeder, der dies will, kann das System bis zum äu-ßersten kritisieren, Fehler aufzeigen und Vorschläge frei einbringen. Der Grund für das Scheitern der sich sozialistischen oder kommunistisch nennenden Regime war die strukturelle und rechtliche Behinderung der Kritik, die zur Aufhebung der Fehler und Mängel unentbehrlich ist. Es ist unmöglich, daß sich Systeme erneuern und ihre Fehler beheben, wenn nicht in ihnen jede neue Idee und jeder konstruktive Gedanke disku-tiert wird. Systeme, die auf einer solch mangelhaften Philosophie basieren, sind früher oder später ein großes Trümmerfeld hinterlassend, zum Scheitern verurteilt wie z.B. die Staaten des ehemaligen Ostblocks, egal wie wirkungsvoll ihre Unterdrückungsmechanismen sind.

Der einzige Grund, warum die Refah Partei heute an Boden gewinnt, liegt nicht darin, daß die vorgebrachten Ideen und die propagierte sogenannte ‚gerechte Ordnung‘ anzie-hend oder gar glaubhaft wären, es hat seinen Grund allein in der Tatsache, daß unglaubhaf-te Politiker in den vergangenen Jahrzehnten die Wähler stets enttäuscht haben. Der Zu-wachs der Refah Partei rührt von dem fortschreitendem Verlust an Glaubwürdigkeit den eta-bilierten Parteien. Trotzdem darf nicht vergessen werden, daß die Refah Partei, die eine auf der Religion basierende Ordnung schaffen will, selbst nach den optimistischsten Prognosen nur ein Fünftel bzw. ein Sechstel aller Stimmen erhalten wird. Das heißt, das türkische Volk handelt trotz erheblicher Glaubwürdigkeitsverluste etabilierter Parteien nach dem gesundem Menschenverstand. Der steigenden Stimmenanteil der Refah Partei ist eine Mahnung an die etablierten Parteien. Diese haben ihre Glaubwürdigkeit verloren, weil sie eine engstirnige, nur auf den eigenen Vorteil zielende Politik betreiben. Dies sollte bedacht werden.

Die zunehmenden Angriffe auch auf Mustafa Kemal Atatürk, den Führer im Befreiungs-krieg der Türkei und meines Erachtens einen der bedeutendsten Staatsmänner des 20. Jahrhunderts, rührt aus diesen Differenzen der Systeme. Atatürk traf seine Systemwahl, als er die auf Familiendynastien basierende teokratische Staatsform unter dem Grundsatz ‚die Staatsgewalt geht uneingeschränkt und bedingungslos vom Volke aus‘ beendete.

Die Angriffe von Mezarci (Abgeordneter der Refah Partei) auf Atatürk selbst und seine Familie gelten also mehr dem System, das die westeuropäische parlamentaristisch-laizistische Ordnung zum Vorbild nimmt. Das Staatsverständnis, das Leute wie Mezarci ver-mitteln, versteht die Religion als ein Schirm gegen ‚verderbliche westliche Einflüsse‘. Durch einseitige und falsche Informationen und durch die jahrzehntelange Verleumdung Atatürks und des Systems, dessen Grundsteine er legte, ist man an diesem Punkt angelangt. Politi-ker, die seit Jahrzehnten behaupten, Kemalisten zu sein, aber dessen Inhalte verwerfen o-der in Klischees pressen, sind an dieser Entwicklung in großem Maße verantwortlich.

Sogenannte ‚Intellektuelle‘, oft selbsternannte Gralshüter des Kemalismus, haben, in-dem sie Menschen, nur weil sie gläubig sind, fasten und beten, mit Bezeichnungen wie ‚fortschrittsfeindlich‘ oder ‚islamische Fanatiker‘ versehen, die Stellung der Bewegung, die die Religion als politisches Instrument benutzt und sich als den Schutzengel der Religiösen sieht, gestärkt. In einem demokratischem Rechtsstaat müssen Meinungen, Gedanken und der Glaube ungehindert verteidigt werden können. Aber jeder demokratische Rechtsstaat hat rechtliche Schutzmechanismen, die die auf Pluralismus beruhende parlamentarische Staatsform soweit schützen, daß sie nicht einmal durch Wahlen veränderbar sind. Aus die-sem Grunde wird in den Grundgesetzen vieler Länder betont, daß die ‚pluralistisch-parlamentarische Form des Rechtsstaats‘ nicht einmal mit Zweidrittelmehrheit angetastet werden darf. Die Freiheit der Meinungsäußerung und Religionsausübung wird einem Sys-tem, das diese Freiheiten eliminieren wird, nicht die Möglichkeit geben, an die Regierungs-verantwortung zu gelangen.

Die pluralistische, parlamentarische, laizistische und rechtstaatliche Grundwerte der Staatsform der Türkei muß mit aller Entschiedenheit verteidigt werden.