Zwischen alter Heimatverbundenheit und

Bei dieser Thematik geht es vor allem darum, in welcher Beziehung die Migranten oder ihre Kinder zu ihrem Herkunftsland bzw. zu ihrer neuen Heimat, also zu Deutschland, stehen.

Hierbei sollte zwischen den Eingewanderten der ersten und zweiten und denen der hier geborenen dritten Generation unterschieden werden. Bekanntlich prägt die kindliche und jugendliche Sozialisation eines Menschen vor allem seine emotionalen Neigungen sowie seine Verbundenheit mit dem Ort und mit der Um-gebung, an der diese Sozialisation stattgefunden hat. Die unterschiedlichsten Einflüsse der kindlichen Sozialisation bleiben lebenslang erhalten. Wer von uns kann die vielfälti-gen Prägungen durch Familie, Schule, Kultur, Lebensweise, durch Freundeskreis oder gar durch die Besonderheiten der geographischen Lage vergessen ? Sie begleiten uns lebenslang in unserem Denken, Handeln, Verhalten und bei unseren emotionalen Nei-gungen und Bindungen. Dies gilt ebenso für die Kinder und Enkel der Migranten, die in Deutschland geboren worden sind und hier aufwachsen.

Die Heimatverbundenheit der Migranten ist ein Bestandteil der Identität dieser Men-schen wie auch für ihre hier geborenen Kinder.

So prägend die Einflüsse der Kindheit auch sein mögen, bestimmen schließlich die Be-dingungen und Erfahrungen unseres Alltagslebens unser Denken und Handeln. Wer seit Jahrzehnten seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland hat, hier familiär ver-wurzelt ist, Arbeit, Wohnung und Freunde hier in Deutschland hat, wer seit zehn, zwan-zig, dreißig oder gar vierzig Jahren in Berlin, Hamburg, Frankfurt, Köln oder München lebt, für den sind die Erlebnisse und Erfahrungen dieses Lebensabschnitts oft gravie-render als die Prägung durch die Kindheit.

Die zentrale Frage hierbei ist, inwieweit Deutschland als neue Heimat für die Immigrier-ten und als alleinige Heimat für die hier geborenen auch emotional das Bewußtsein die-ser Menschen prägt, inwieweit Deutschland als Heimat akzeptiert wird. Deutschland muss, will es ‚Heimatgefühle‘ erwecken, den hier dauerhaft lebenden Migranten und ihren Kindern ohne Wenn und Aber ein neues und sicheres Zuhause bieten, ihnen das Zugehörigkeitsgefühl zu diesem Land als einem gleichberechtigten Mitglied dieser Ge-sellschaft überzeugend vermitteln.

Dieses Heimat- und Zugehörigkeitsgefühl kann nicht entstehen, solange die Gesell-schaft diese Menschen mit einem minderen Recht, mit dem sogenannten Ausländer-sonderrecht behandelt, sie eben als ‚Ausländer‘, also als nicht dazugehörig absondert und abschottet, den Migranten und ihren Kindern und Enkeln gleiche Rechte verwehrt, obwohl sie alle Pflichten eines Staatsbürgers erfüllen.

Ich spreche nicht von einer Gleichbehandlung, die sicherlich eines längeren gesell-schaftlichen Prozesses bedarf. Ich rede von der schlichten rechtlichen Gleichstellung vor dem Gesetz, also von gleichen Rechten und Pflichten in Staat und Gesellschaft. Die sogenannten Ausländer stehen, was ihre rechtliche und politische Gleichstellung anbetrifft, außerhalb der Gesellschaft und finden keine gleichberechtigte Aufnahme in ihr. Rein rechtlich haben sie immer noch einen Ausländerstatus, besitzen keine politische Rechte, nicht einmal das kommunale Wahlrecht.

Die Einbürgerung wurde auch mit dem neuen Einbürgerungsrecht für die Menschen, die älter als 10 Jahre sind, nicht erleichtert, ja sogar zum Teil erschwert.

 Heimat darf nicht ihre Dauerbewohner ungleich behandeln, wenn sie diesen Men-schen das wahre Gefühl der Zugehörigkeit zu diesem Heim geben will.

 Das Grundelement, die Grundvoraussetzung für ein Entstehen und für die Festigung der Zugehörigkeit zu einem Land und einer Gesellschaft ist die rechtliche, soziale und politische Gleichstellung der Minderheiten. Diese Tatsache wird nicht nur von mir seit zwei Jahrzehnten unnachgiebig unterstrichen.

 Dies ist ebenso die Grundbedingung einer offensichtlich politisch gewollten, zumin-dest allseits proklamierten gesellschaftlichen Integration der hier dauerhaft lebenden Nichtdeutschen.

Integration ist ein zweiseitiger Prozeß. Beide Seiten, die Mehrheitsbevölkerung wie die kulturellen Minderheiten, sollten tolerant, offen und dialogbereit sein. Beide Seiten soll-ten versuchen, Vorurteile abzubauen und im Austausch von einander zu lernen. Integ-ration setzt voraus, sich ohne Vorurteile kennenzulernen, sich nicht nur gegenseitig zu tolerieren, sondern sich auch wechselseitig in ihrer Unterschiedlichkeit zu akzeptieren.

Integration setzt auch voraus, daß die Minderheiten die Verfassungsnormen und -werte, die durchaus lobenswerten Grund- und Menschenrechte des Grundgesetzes und selbstverständlich die Gesetze Deutschlands akzeptieren.

Dies bedeutet nicht, dass die Minderheiten sich nicht für die Verbesserung ihrer rechtli-chen Lage einsetzen und gegen jede Art der rechtlichen Diskriminierung mit allen lega-len Mitteln vorgehen dürfen. In diesem Rahmen setzen wir uns seit Jahren für eine erleichterte Einbürgerung ein, und das bedeutet auch das Tolerieren der Beibehaltung der bisherigen Staatsbürger-schaft. Mit anderen Worten, wir fordern das Tolerieren von doppelten Staatsangehörig-keiten, wie dies seit Langem in fast allen westeuropäischen Staaten und auch in Nord und Südamerika praktiziert wird.

Nur durch den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit wird die rechtliche Gleichstel-lung und die gleichberechtigte Aufnahme der Minderheiten in die deutsche Gesellschaft möglich sein. Nur hierdurch wird der Weg für eine echte Integrationspolitik frei gemacht.

Nur dadurch wird eine Identifikation der kulturellen Minderheiten mit dem deutschen Staat und mit der Gesellschaft geschaffen werden können. Nur hiermit wird eine zunehmende Loyalität und Verbundenheit der Minderheiten mit Deutschland möglich sein.

Dies sollte nicht als eine Aufgabe der Verbundenheit mit der alter Heimat verstanden werden. Die Identität der Eingewanderten, ja sogar ihrer hier geborenen Kinder wird möglicherweise bis in die vierte und fünfte Generation die Verbundenheit und Loyalität auch mit dem Herkunftsland der Eltern und Großeltern beinhalten. Dies gehört zur Bio-graphie der Migranten und ihrer Nachkommen. Weder die deutschen noch alle übrigen Einwanderer in die USA negieren ihre kulturelle und emotionale Verbundenheit mit ih-ren Herkunftsländern.

Diese gespaltene Doppelbiographien der Migranten dürfen nicht als eine Abwertung der neuen Heimat empfunden werden. Im Gegenteil, diese Menschen können zwischen ihrer alten und neuen Heimat eine solide menschliche Brücke für Kontakte und bessere Beziehungen bilden. Gerade zufriedene kulturellen Minderheiten sind ein Garant für gute Beziehungen zwischen ihren beiden Ländern.

In diesem Kontext soll an dieser Stelle ein kurzer Exkurs zu einem aktuellen Thema, das mir sehr am Herzen liegt, eingefügt werden, nämlich zu der immer mehr um sich greifenden rechtsradikalen Gewalt, die insbesondere seit Beginn der 90er Jahre be-ängstigend Dimensionen angenommen hat.

Seit dieser Zeit sind mehr als 30 unschuldige Menschen Opfer rassistischer Gewalt ge-worden, Hunderte wurden zum Teil schwer verletzt. Laut Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz sind allein in den Jahren 1991-97 weit über 58 000 Straftaten mit rechtsextremistischem Hintergrund registriert worden, und zwar mit steigender Ten-denz: Bereits im Jahre 1999 waren es mehr als 10.000 rechtsradikale Straftaten. Die vielen alltäglichen Misshandlungen, Beschimpfungen und Beleidigungen Nichtdeutscher und Menschen jüdischen Glaubens durch Rechtsradikale und Neonazis sind hierbei nicht einmal mitgezählt.

Deutschland hat zahlreiche völkerrechtliche Abkommen unterzeichnet, die den Schutz vor Diskriminierung zum Inhalt haben.

Bereits am 19.7.2000 erschien im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft (L 180/24) die Richtlinien des Rates vom 29. Juni 2000 zur ‚Anwendung des Gleichbehand-lungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft‘. Seit rund zehn Jahren fordern wir, die Migrantenorganisationen, hier die Türkische Ge-meinde in Deutschland) auch für Deutschland ein Antidiskriminierungsgesetz, ähnlich wie in Großbritannien, den Niederlanden, den USA und Kanada, um nur einige Staaten zu nennen.

Ziel eines solchen Gesetzen sollte sein:

1. Gegen rechtsradikale Gewalt viel entschiedener und handlungsfähiger vorgehen zu können,

2. die Diskriminierung von ethnisch-kulturellen Minderheiten zu beheben und

3. mit einem Bündel von Maßnahmen, auch ‚positive Diskriminierung‘ genannt, die vorhandenen Benachteiligungen der Migranten mit Fördermaßnahmen schrittwei-se zu beseitigen, um deren Gleichstellung und Gleichbehandlung zu erreichen.

Gerade Deutschland muss aus historischer Verantwortung ganz entschieden gegen jede Art von antisemitisch und rassistisch motivierten Gewalttaten vorgehen. Es ist an der Zeit, dieser rechtsradikalen Gewalt endlich mit einem Bündel von Maßnahmen ent-gegenzutreten.

Prof. Dr. Hakkı Keskin