zwischen Integration und Selbstbehauptung

in: Özkara, Sami (Hrsg.): 35 Jahre türkische Migranten in Deutschland: Zwischen Integration und Selbstbehauptung - ein Plädoyer für die doppelte Staatsbürgerschaft.

Es ist 35 Jahre her, daß die Vertreter der Bundesrepublik Deutschland und der Re-publik Türkei am 30. Oktober 1961 ein Anwerbeabkommen unterzeichneten. Die Mauer trennte Deutschland noch kein Vierteljahr, der Zustrom der Flüchtlinge aus der damaligen DDR war versiegt, das Wirtschaftswunder brauchte Arbeitskräfte, 550.000 offenen Stellen standen 180.000 Arbeitsuchende gegenüber. Deutschland benötigte dringend junge, gesunde, flexible und in allen notwendigen Arbeitsberei-chen einsetzbare Arbeitskräfte. Daher wurden nicht nur mit der Türkei sondern auch mit weiteren Staaten derartige Anwerbeabkommen abgeschlossen (1955 mit Italien, 1960 mit Spanien und Griechenland, 1963 mit Marokko, 1964 mit Tunesien und 1968 mit dem damaligen Jugoslawien.

Im November 1961 kamen die ersten 2.500 Türken nach Deutschland. Aus diesen 2.500 ‚Gastarbeitern‘ von 1961 ist mittlerweile eine Gruppe von 2,3 Mio. Dau-er>gästen< geworden, von denen 60% in Deutschland geboren oder aufgewachsen sind.

Die meisten dieser Türken begreifen Deutschland inzwischen als ihre neue Heimat. Die ersten, die damals kamen, gehen bereits in Rente. In vielen Ballungsräumen gibt es inzwischen Straßenzüge oder gar ganze Stadtteile, in denen die Türken die Mehrheit der Wohnbevölkerung bilden und entsprechend das Straßenbild bestim-men. Dort hat sich im Laufe der Jahre eine eigenständige Kultur gebildet, die von allen Bevölkerungsgruppen angenommen und als Bereicherung empfunden wird. Die Bundesregierung weigert sich bis heute, Deutschland als Einwanderungsland zu begreifen, obwohl die Einwanderer aus der Türkei und den anderen Anwerbestaaten zu einem erheblichen Teil an den Strukturveränderungen dieser Gesellschaft in den vergangenen 35 Jahren mitgewirkt haben. Bis zum Anwerbestopp am 23.11.1973 hat Deutschland je nach bedarf seines Ar-beitsmarktes Arbeitskräfte aus den Anwerbeländern geholt oder zurückgeschickt. Auch die Angeworbenen selbst empfanden ihren Aufenthalt in Deutschland zunächst nur als vorübergehend.

Mit dem Anwerbestopp begann ein deutlicher Trend zum Daueraufenthalt. Den Ar-beitern folgten die Ehefrauen und schließlich auch die Kinder. Doch auch in der Fol-gezeit waren die Arbeiter nichtdeutscher Herkunft aufgrund ihrer Struktur bezüglich Gesundheit, Alter, Bereitschaft zur Teilzeitarbeit und ihrer Flexibilität nur selten durch deutsche Arbeiter zu ersetzen.

Die ausländischen Arbeitnehmer haben einen beachtlichen Beitrag zum raschen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland zu einer führenden Wirtschaftsmacht mit hohem Lebensstandard geleistet und damit maßgeblich zur Schaffung der Voraus-setzungen des heutigen Wohlfahrtsstaates beigetragen.

Allein die Türken zahlen jedes Jahr 2,5 Mrd. Mark an Beiträgen in die Rentenkasse, weitere 8,5 Mrd. an Lohn- und Einkommensteuer sowie 500 Mio. Solidaritätsbeitrag. 1975 gab es in Deutschland 100 türkische Unternehmen, heute sind es 41.000 und in 15 Jahren werden es über 100.000 sein.

Die Türken in Deutschland investieren inzwischen ihre Ersparnisse lieber in Deutsch-land als in der Türkei. Wirtschaftlich sind sie längst integriert. Ihr Anteil an den Er-zeugnissen ‚Made in Germany‘ ist unbestreitbar. Der Umsatz der türkischen Unter-nehmungen in Deutschland beträgt 34 Mrd. Mark, jährlich werden 8,3 Mrd. von ihnen investiert. Und diese Investitionen fließen längst nicht mehr nur in Dönerläden und Änderungsschneidereien, die türkischen Unternehmer haben sich längst einen fes-ten Platz im Einzelhandel, auf dem Bausektor, bei Brot- und Fleischfabriken, im Tou-rismus, Softwareservice oder in der Unternehmensberatung erobert.

Trotz dieser wirtschaftlichen Integration leben die meisten Bürger türkischer Herkunft weiterhin unter den schändlichen Bedingungen eines Apartheitsystems. Sie dürfen zwar Steuern zahlen, nicht jedoch wählen oder gewählt werden. Man nennt sie ‚Mitbürger‘, enthält ihnen jedoch weiterhin elementare Bürgerrechte vor und macht sie damit zu Bürgern zweiter Klasse. Immer noch herrscht der Glaube vor, sie gehörten nicht hierher und würden eines Tages doch in die Türkei zurückkehren.

Dank der Einwanderung hat sich Deutschland positiv verändert, es ist demogra-phisch jünger, gesellschaftlich bunter und vielfältiger, kulturell reicher geworden.

Die Eingewanderten sind faktisch längst ein fester Bestandteil der deutschen Gesell-schaft geworden. Sie stehen aber rechtlich und politisch außerhalb der Gesellschaft und finden keine gleichberechtigte Aufnahme in ihr. Selbst wenn diese Menschen also seit 20 oder mehr Jahren in Deutschland leben, haben sie

  • rein rechtlich immer noch einen Ausländerstatus,
  • keine politischen Rechte, selbst das kommunale Wahlrecht wurde ihnen höchst-richterlich wieder abgesprochen,
  • weiterhin Erschwernisse bei der Einbürgerung, vor allem ist hier die erzwungene Aufgabe der bisherigen Staatsbürgerschaft zu nennen.

Wir müssen selbst heute noch konstatieren, daß die nichtdeutsche Bevölkerung im Aufenthalts- wie im Arbeitsrecht sowie in politischer und sozialer Hinsicht nach wie vor staatspolitisch gewollter Diskriminierung ausgesetzt ist. Dies hat negative Folgen für das alltägliche Leben dieser Menschen, denn

  • von Arbeitslosigkeit und fehlenden Ausbildungsplätzen sind Türken doppel so hoch betroffen wie ihre deutschen Nachbarn.
  • von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus ist die türkische Bevölkerung Deutschlands weit mehr betroffen als Einwanderer aus den meisten anderen Ländern.

Leider waren die vergangenen Jahre von unzähligen rassistisch motivierten Gewalttaten gegen die Einwanderer, vor allem aber gegen uns Türken, gekennzeichnet. Unvergeßlich, weil besonders grausam und barbarisch, werden für uns die Ereignisse von Mölln, Solingen, Rostock, Hoyerswerda, Lübeck und Karlsruhe bleiben. Wir haben durch unsere massenhaften Protestdemonstrationen, mit Hilfe zahlreicher Pressegespräche und -eklärungen versucht, die deutsche, die türkische und die Weltöffentlichkeit über die ernsten Gefahren und die Bedrohung für die nichtdeutsche Bevölkerung durch diese neue Gewalt aufmerksam zu machen. Wir haben konkrete Maßnahmen von den Regierungen gegen alle verlangt, die derartige Verbrechen begehen wie auch insbesondere gegen ihre geistigen Wegbereiter. Die Verabschiedung eines Antidiskriminierungsgesetzes, ähnlich denen in vielen anderen Staaten, gehört zu unseren Grundforderungen, um mit Hilfe dieses Gesetzes der Diskriminierung und der rassistischen Gewalt entschiedener entgegentreten zu können. Hierbei konnte eine gewisse Sensibilisierung der politisch Verantwortlichen erreicht werden. Die Verabschiedung eines solchen Gesetzes sieht die Kooperationsvereinbarung der Regierungsparteien in Hamburg vor, sie findet sich in der Regierungserklärung des Senats wieder und wurde auch bereits von der Bürgerschaft beschlossen. Wie ernst dies gemeint ist, werden wir noch sehen. Die GAL hat hierzu in der Bürgerschaft einen Gesetzentwurf eingebracht.

Im Zuge der ersten Einwanderungswelle in den 60er Jahren kamen meist junge Männer mit einem unterdurchschnittlichen Bildungsniveau nach Deutschland. Seit-dem hat sich jedoch die türkische Bevölkerungsstruktur stark verändert:- Aus reinen Arbeitsmigranten wurden Einwanderer. Die jungen Männer holten ih-re Frauen nach Deutschland und gründeten Familien, so daß heute beson-ders in den großen Städten ein beachtlicher Teil der Schulkinder aus der Tür-kei kommt.

  • Mittlerweile gibt es rund 17 000 Studierende türkischer Herkunft an deutschen Hochschulen,
  • Weit über 1000 türkische Ärzte und 4000 Lehrer, hunderte von Wissenschaftlern sind in Deutschland beschäftigt.

Trotz der bestehenden Schwierigkeiten nimmt die Zahl derjenigen, die die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben, zu:

  • 1991 3.529
  • 1992 7.377
  • 1993 12.915
  • 1994 19.390

1995 dürfte diese Zahl bereits über 25.000 liegen und in diesem Jahr noch deutlich darüber. Diese Entwicklung ist zu begrüßen, aber bei einer Bevölkerungszahl von mehr als 2,3 Mio. Türken in Deutschland weiterhin viel zu gering. Denn ginge es in diesem Tempo weiter, so würde es über 100 Jahre dauern, bis alle, die hier leben, einen deutschen Paß hätten: eine absurde Vorstellung!

Will man tatsächlich die Integration, darf man auch die Einbürgerung nicht scheuen. Integration ist ohne Einbürgerung nicht machbar. Aus Türken in Deutschland sind unumkehrbar deutsche Türken geworden, welche wiederum zu ‚Türkendeutschen‘, also zu deutschen türkischer Herkunft werden sollen. Das endlose Hin und Her we-gen einer doppelten Staatsbürgerschaft ist in diesem Zusammenhang kontraproduk-tiv. Bei englischen Lords, afrikanischen Fußballspielern und Millionen von Aussied-lern aus Osteuropa haben mehrere Staatsbürgerschaften noch nie jemanden ge-stört. Warum also bei den Türken?

Die in 35 Jahren geschaffenen Realitäten können weder durch Ignoranz noch durch konsequentes Leugnen der Tatsachen aus der Welt geschafft werden. 8,8% der Be-völkerung Deutschlands sind inzwischen Einwanderer und ihre Nachkommen. Diese Menschen werden dauerhaft in ihrer neuen Heimat Deutschland leben, mit ihrer un-terschiedlichen Kultur und Religion. Es kann heute nur darum gehen, das gemein-same Leben der deutschen Bevölkerung mit den kulturellen Minderheiten so zu ges-talten, daß ein gleichberechtigtes, friedliches und gutnachbarliches Zusammenleben auf Dauer gesichert wird.

Die von allen im Bundestag vertretenen politischen Parteien seit Jähren propagierte Integration der hier dauerhaft lebenden nichtdeutschen Bevölkerung ist aus den o-ben genannten Gründen auf der Strecke geblieben. Unter Integration verstehe ich nicht Assimilation, d.h. die völlige Aufgabe der eigenen kulturellen Identität, des ei-genen ‚Ich‘. Für mich bedeutet Integration vielmehr die Angleichung, Gleichstellung und Gleichbehandlung in rechtlicher, sozialer, politischer und kultureller Hinsicht. also die gleichberechtigte Aufnahme in die deutsche Gesellschaft. Integration sollte nicht die Aufgabe der eigenen kulturellen Identität bedeuten.

Kulturelle Identität ist nicht etwas eingefrorenes, statisches, sondern vielmehr etwas dynamisches. Sie wird durch die Mehrheitskultur selbstverständlich weiter bereichert und weiter entwickelt.

Die Aufnahme von kulturellen Minderheiten in die deutsche Gesellschaft bietet eine Chance zu einer reicheren neuen Mischkultur. Die besseren Seiten beider Kulturen werden dabei übernommen und weiterentwickelt. Integration ist ein zweiseitiger Pro-zeß. Beide Seiten, die Mehrheitsbevölkerung und die kulturellen Minderheiten, soll-ten tolerant, offen, dialogwillig und -fähig sein. Sie sollten versuchen, Vorurteile ab-zubauen, im Austausch miteinander voneinander zu lernen.

Die Menschen aus unterschiedlichen Kulturen leben nicht nebeneinander, sondern miteinander, sie lernen sich kennen, sie tolerieren sich nicht nur, sie sind bereit, ihre Unterschiedlichkeiten zu akzeptieren, nämlich daß sie anders sind und seien dürfen.

Deshalb sprechen wir seit Jahren von einer interkulturellen Erziehung. Wir haben die Chance, unsere Kinder in Schulklassen mit Kindern unterschiedlicher Herkunft und Kultur zu toleranten, dialogfähigen und vorurteilsfreien Menschen zu erziehen.

Deshalb sprechen wir auch seit Jahren von einer multikulturellen Gesellschaft in Deutschland. Unterschiedliche Kulturen sollten nicht als Bedrohung, sondern als Be-reicherung verstanden und betrachtet werden.

Der vielgeschmähte Begriff ‚multikulturell‘ beschreibt dabei lediglich das unbestreit-bare Faktum, daß in der deutschen Gesellschaft eine Vielzahl von Menschen unter-schiedlicher Nationalität aus unterschiedlichen Kulturkreisen mit verschiedenen Sprachen und anderer religiöser Zugehörigkeit lebt.

Will man aber diese multikulturelle Gesellschaft in Deutschland entwickeln, so müs-sen die politischen, rechtlichen, ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen verändert werden, damit eine rechtliche Gleichstellung der in ihr vertretenen Kulturen erreicht wird. Darüber hinaus erfordert die Anerkennung von Gleichwertigkeit auch neu zu entwickelnde pädagogische Konzepte, sind doch die bereits bestehenden allein für eine nationale Gesellschaft angelegt. Wenn die Bundesrepublik Deutsch-land als eine multikulturelle Gesellschaft anerkannt ist, müssen auch die anderen Kulturen, die in Deutschland gelebt werden, nicht nur als ‚Exotica‘ vorgeführt wer-den, man muß ihnen auch in dem Maße Möglichkeiten zur Entwicklung einräumen, daß insbesondere Kinder, die sie kennenlernen wollen, entsprechende Angebote bekommen können. Veränderte Rahmenbedingungen und eine Pädagogik, die sowohl der Majorität wie den Minoritäten gerecht wird, sind Voraussetzungen dafür, einer zwar vorhandenen aber rein äußerlichen Multikulturalität auch inhaltlich gerecht zu werden. Eine multi-kulturelle Gesellschaft braucht Menschen, die abweichendes Verhalten tolerieren können, die auch fremdartige Gewohnheiten anerkennen, für die Mehrsprachigkeit selbstverständlich ist, die jedem Individuum seine individuelle Religionsausübung zuerkennen und welche die Begegnung mit Menschen anderer Kulturkreise als er-strebenswert ansehen.

In ‚Die Zeit‘ vom 23. August 1996 ist im Dossier unter den Überschriften ‚Zuflucht in der Moschee‘ und ‚Zukunft in der Abkehr?‘ eine ausführliche Analyse über türki-sche Jugendliche unter anderem von Prof. Heitmeyer erschienen. Man kann die Quintessenz dieser Aufsätze in aller Kürze auf den Nenner bringen: ‚Weil die türki-schen Jugendlichen in Deutschland nicht heimisch werden können, suchen sie Trost im Koran und Geborgenheit im Islam.‘ Es wird dargelegt, daß die Anfälligkeit für Fundamentalismus gerade bei diesen Jugendlichen sehr groß ist.

Wir haben jahrelang vor dieser Gefahr gewarnt. Es ist nicht verwunderlich, wenn in Hamburg, Berlin, Frankfurt oder München geborene Menschen, die hier zur Schule gehen und ihre Ausbildung machen, als Ausländer mit einem Sonderrecht und somit einem minderen Rechtsstatus behaftet werden, wenn diese Menschen sich von der Gesellschaft, die sie nicht anzunehmen bereit ist, entfernen.

Heinz Kuhn, langjähriger Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und erster Aus-länderbeauftagter der Bundesregierung, machte gerade für die Integration der zwei-ten Generation (die dritte hat es damals noch nicht gegeben) in seinem Memoran-dum vom September 1979 weitreichender Vorschläge. Schon damals forderte er

  • Rechtliche Gleichstellung durch Einbürgerung ‚per Postkarte‘,
  • Schulische und berufliche Integration durch weitreichende Fördermaßnahmen.

Das Gefühl, nicht in diese Gesellschaft aufgenommen zu sein, vielmehr von ihr dis-kriminiert zu werden, führt als Reaktion zu einer Ghettoisierung. Diese Absonderung und Abschottung führt dazu, daß sich die Minderheit von der Gesellschaft des neuen Heimatlandes abwendet und sich allein zu den eigenen Wurzeln hingezogen fühlt, oft um den Preis einer radikalen Orientierung.

Deshalb versuchen wir die Interessen der türkischen Bevölkerung durch eine demo-kratisch-pluralistische Organisation zu vertreten. Daher haben wir am 2. Dezember 1995 die ‚Türkische Gemeinde in Deutschland‘ gegründet. Dieser Dachverband vertritt unabhängig von der jeweiligen politischen und religiösen Überzeugung unter-schiedliche Vereine von rechtskonservativer, religiöser, liberaler und sozialdemokra-tischer Orientierung, von Arbeitern und Akademikern bis zu Selbständigen und Un-ternehmensverbänden. Damit wollen wir die bislang meist ’schweigende Mehrheit‘ der türkischen Bevölkerung, die sich zu den demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien der deutschen Gesellschaft bekennt und jede Form der Gewalt katego-risch ablehnt, aktiv in das politische Leben einbinden.

Wir wollen deutsche Staatsbürger werden! Wir, Einwanderer türkischer Herkunft in der Bundesrepublik Deutschland, wollen nichts anderes, denn als gleichberechtigte Bürger in Deutschland zu leben. Deshalb treten wir seit Jahren für eine erleichterte Einbürgerungspolitik ein.

Die Vorstellung mancher politischen Kreise, mehr als 7 Millionen Menschen auf Dauer als Ausländer, d.h. einem Sondergesetz mit minderen Rechten unterworfen, hier leben zu lassen, ist nicht nur perspektivlos, sie birgt auch in vielerlei Hinsicht ernsthafte Gefahren für ein friedliches Zusammenleben, ja sogar für die Demokratie in Deutschland. Die historischen Erfahrungen zeigen, daß ungleiche Behandlung von Millionen von Menschen letztlich zu Unruhen führt.

Ein nicht gleichberechtigtes Zusammenleben wird vor allem die zweite und dritte Ge-neration der Einwanderer auf keinen Fall als Dauerzustand akzeptieren wollen. Wie auch immer die Begründung für eine solche ungleiche Rechtsstellung seitens man-cher Politiker sein mag, dies werden Menschen, die in Deutschland geboren wurden, die in Hamburg, Berlin, Köln oder München groß geworden oder zur Schule gegan-gen sind, nicht hinnehmen. Gegenüber diesen Menschen, denen es schon heute teilweise schwer fällt, sich mit ihren Eltern in Türkisch, Griechisch, Italienisch oder Spanisch zu unterhalten, ist es nicht nur inhuman und unvernünftig, sie weiterhin als Ausländer zu behandeln, es ist provozierend. In einer derartigen Behandlung steckt ohne Zweifel ein großes Konfliktpotential.

Auf der anderen Seite lädt eine rechtliche Aussonderung der hier ansässigen ‚Aus-länder‘ in besonderem Maße zur Ausländerfeindlichkeit ein.

Der nach Arbeit und Wohnung suchende Deutsche, der die komplizierten Zusam-menhänge der Gründe für seine Lage nicht verstehen kann, sieht in den rechtlich und politisch als Ausländer Ausgesonderten und somit nicht in die deutsche Gesell-schaft Aufgenommenen die Ursache seiner Notlage. ‚Mit welchem Recht‘, fragt sich daher mancher Deutsche, ’soll ich ohne Arbeit und Wohnung sein, wo doch viele Ausländer beides haben?‘ In dieser Haltung wird er von einigen Politikern gar noch bestätigt, obwohl er wissen sollte, daß die Türken von Arbeitslosigkeit doppelt so hoch betroffen sind wie ihre deutschen Kollegen. Auch auf dem freien Wohnungs-markt haben sie meist sehr große Probleme bei der Wohnungssuche, weil sie viel-fach durch Sprache und Aussehen als ‚Ausländer‘ erkennbar sind.

Wie aber wäre es, wenn diese sogenannten Ausländer deutsche Staatsbürger wären und auch von der Politik als gleichberechtigte Bürger behandelt würden? Es ist uns durchaus bewußt, daß Ausländerfeindlichkeit nicht allein mit dem Rechtsstatus der Einwanderer zu erklären oder gar zu lösen ist. Wir sind jedoch der festen Überzeu-gung, die meisten derer, die für Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot die Ausländer verantwortlich machen, würden dies nicht tun, wenn sie es mit deutschen Staatsbür-gern zu tun hätten.

Selbstverständlich wird die deutsche Staatsbürgerschaft allein die Ausländerfeind-lichkeit nicht beseitigen können, ihr Nährboden könnte dadurch jedoch maßgeblich eingeengt werden. Deutschland steht nun vor der entscheidenden Frage, wie der Realität der Arbeitsimmigration, wie der vollzogenen und nicht mehr umkehrbaren Einwanderung der letzten vier Jahrzehnte Rechnung getragen werden soll. Welche Lösungsvorschläge sind wirklich geeignet, die rechtliche Angleichung der Einwanderer an die Einheimi-schen zu ermöglichen?

Mit dieser Frage haben wir uns im letzten Jahrzehnt sehr intensiv auseinanderge-setzt.

Antworten, die nicht die völlige rechtliche Gleichstellung der Einwanderer zum Ziel haben, bieten auf Dauer keine Lösung. Wenn wir von Menschen sprechen, die dau-erhaft in der Bundesrepublik bleiben wollen, und von denen ist hier die Rede, so können und wollen diese Menschen den immer noch bestehenden Status mit einge-schränkten staatsbürgerlichen Rechten nicht mehr hinnehmen. Auch die Türkische Gemeinde und ihre Mitgliederorganisationen werden sie in dieser Haltung bestärken.

Weshalb die doppelte Staatsbürgerschaft? Bei der Durchsetzung der völligen rechtlichen Gleichstellung zwischen der deutschen und der Einwandererbevölkerung sehen wir zur Einbürgerung keine Alternative. Un-bestritten erschweren jedoch eine Reihe von Hürden die Einbürgerung. Das Haupt-hindernis bei der Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft ist ohne Zweifel die erzwungene Aufgabe der Staatsbürgerschaft des Herkunftslandes. Eine Reihe durchaus nachvollziehbarer Gründe aber verhindert die Entscheidung, auf die ange-stammte Staatsbürgerschaft zu verzichten. Die Menschen aus dem Mittelmeerraum verbinden mit einem solchen Verzicht eine Art von Verrat und die Vorstellung, der ehemaligen Heimat und den dort lebenden Verwandten und Freunden den Rücken zu kehren. Dies aber wird als eine Absage an alles, was im Herkunftsland geblieben ist, betrachtet und verbindet sich mit Schuldgefühlen, wird somit oft zu einem großen psychologischen Problem. Die Bewältigung dieses Zwiespaltes wird überdies noch erschwert, wenn der Einbürgerungswillige nicht selten feststellen muß, daß er von der Politik und Teilen der deutschen Gesellschaft abgelehnt und weder akzeptiert noch toleriert wird. Der Einbürgerungswillige befürchtet also, am Ende ohne Kom-pensation für die Aufgabe seiner bisherigen Staatsbürgerschaft und den damit ver-bundenen Verlust vieler emotionaler Bindungen dazustehen, weil die neue Gesell-schaft ihn nicht annimmt. Die Angst, am Ende gar nichts mehr in Händen zu halten, keinen Boden mehr unter den Füßen zu haben, verhindert dann sehr oft eine Ent-scheidung für die neue Gesellschaft, die ihm nicht Heimat sein will.

Auch die zunehmende Ausländerfeindlichkeit nach der deutschen Wiedervereini-gung, insbesondere durch die Ereignisse von Hoyerswerda, Rostock, Mölln und So-lingen, hat dazu beigetragen, die Einwanderer zu verunsichern. Viele von ihnen wol-len sich daher zumindest die Option auf eine spätere Rückkehr offenhalten und dann nicht wiederum als ‚Ausländer‘, diesmal im Herkunftsland, leben müssen.

Zu diesen Aspekten kommen weitere rechtlich-materielle Hindernisse. Die Arbeits-immigration vor allem aus den Mittelmeerländern in die Staaten Nord- und Mitteleu-ropas hat einen ganz anderen Charakter als die klassischen Auswanderungen nach Nordamerika oder Australien. Die Nähe, schnelle Verkehrsanbindungen und die da-mit verbundenen ständigen Kontakte zu den Verwandten und damit zum Herkunfts-land, die Urlaubsaufenthalte sowie der Besitz von Wohnungen oder Grundstücken machen staatsbürgerliche Bindungen oft notwendig.

Für die Bundesrepublik Deutschland entstehen aus diesen Bindungen und Kontak-ten der Doppelstaatsbürger keinerlei Nachteile. Im Gegenteil: ein Deutschland mit Millionen von Bürgern mit zwei Staatsbürgerschaften würde bedeuten, daß diese Menschen eine für beide Seiten fruchtbare Brücke vor allem für menschliche und kulturelle Beziehungen zwischen Deutschland und den Herkunftsländern und -orten dieser Bürger knüpfen würden. Diese Bindungen stellen nicht nur eine wichtige Be-reicherung des kulturellen Lebens dar, sie werden sich auch für die politische Ent-wicklung Deutschlands als vorteilhaft erweisen.

Die Kritiker doppelter Staatsbürgerschaften führen als Argument ins Feld:

  • Doppelstaatsbürger wären privilegiert, da sie die für sie jeweils günstigsten Bedingungen frei wählen könnten,
  • durch viele Doppelstaatsbürger entstünden Probleme in den zwischenstaatli-chen Beziehungen,
  • die Loyalitätsfrage bliebe ungeklärt.

Die Doppelstaatler genießen faktisch nur in dem Staat, in dem sie leben, staatsbür-gerlichen Rechte und sind damit allen Rechten und Pflichten allein des neuen Staa-tes unterworfen. Solange sie sich in ihrer neuen Heimat aufhalten, ruht die Staats-bürgerschaft des Herkunftslandes und hat daher keine praktische Bedeutung. Es wäre somit völlig problemlos, nicht nur den Einwanderern in der Bundesrepublik zwei Staatsbürgerschaften zuzugestehen, wir wünschen uns dies für alle Arbeitsimmigranten mit ihren Familien, also für mehr als 20 Millionen Menschen, die heute in den Staaten der Europäischen Union leben. In anderen EU-Staaten haben auch bereits viele Millionen Immigranten die doppelte Staatsbürgerschaft.

Auch die ‚Probleme in den zwischenstaatlichen Beziehungen‘ sind in den letzten Jahren weitgehend gegenstandslos geworden, da die westeuropäischen Staaten alle aufgetretenen Schwierigkeiten wie z.B. bei der Wehrpflicht inzwischen durch bilaterale Vereinbarungen aus der Welt geschafft haben.

Ungeachtet aller politischen Attacken gegen doppelte Staatsbürgerschaften leben selbst nach vorsichtigen Schätzungen etwa 2 Mio. Doppelstaatler allein in Deutsch-land. Kinder aus binationalen Ehen können beispielsweise die Staatsbürgerschaft beider Eltern erwerben; und auch alle Aussiedler aus Osteuropa erhalten die deut-sche Staatsbürgerschaft, ohne daß sich die Behörden noch um den Paß des Her-kunftslandes kümmern würden.

Trotz der vielen Doppelstaatler ergaben sich aus deren zwei unterschiedlichen Staatsbürgerschaften bislang keine nennenswerten Probleme. Das vehemente Ein-treten mancher Politiker dagegen ist also allein ideologischen Vorbehalten geschul-det, für die es keinerlei rationale Gründe gibt.

Die Frage nach der Loyalität ist nicht allein mit der Staatsbürgerschaft zu begründen. Der Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft ist für jeden Einwanderer ein sehr weitreichender und bedeutender Schritt für das Zugehörigkeitsgefühl zu dieser Ge-sellschaft und deren Staatswesen. Doch die Einwanderer werden bis zur dritten oder gar vierten Generation ihre Herkunft sicher nicht verleugnen wollen, ist diese Her-kunft doch für viele ein unverzichtbarer Teil ihrer Identität. Diese emotionalen Bin-dungen an die Heimat der Eltern und Großeltern führen ganz sicher nicht zu einem Loyalitätskonflikt. Auch die Siebenbürger Schwaben in Rumänien, die Wolgadeut-schen in Rußland oder Kasachstan oder die deutschstämmigen US-Amerikaner be-kennen sich zum Herkunftsland Deutschland. Doch insbesondere die US-Amerikaner deutscher Abstammung bekennen sich zu ihrem Staat, weil sie dort in aller Regel eine gleichberechtigte Aufnahme gefunden haben. Bei den Wolgadeut-schen oder den Siebenbürger Schwaben ist dies vielleicht nicht im gleichen Maße der Fall. Loyalität hängt demnach weitgehend davon ab, wie die Mehrheitsgesell-schaft in der neuen Heimat mit ihren Einwanderern umgeht, kaum davon, ob der Neubürger einen oder zwei Pässe in seiner Tasche trägt.

Der Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft darf jedenfalls nicht so verstanden werden, daß die Eingebürgerten ihrer Herkunftssprache, Religion oder ihrer kulturel-len Werte verlustig gehen müssen. Integration darf nicht mit Assimilation verwechselt werden. Auch nach dem Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft muß die dyna-misch gemeinte und sich erweiternde kulturelle Identität und Vielfalt der Minderheiten bewahrt und gepflegt werden.

Daher fordern wir: 1. Unsere in Deutschland geborenen Kinder müssen automatisch die Staatsbürgerschaft ihres Geburtslandes erwerben, wie dies auch bei den meisten unserer Nachbarn längst der Fall ist;

2. einen Anspruch auf den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft nach längstens achtjährigem rechtmäßigen Aufenthalt, und zwar ohne die erzwun-gene Aufgabe der bisherigen, also unter Hinnahme der doppelten Staatsbür-gerschaft;

3. eine Bearbeitung der Anträge auf Einbürgerung innerhalb einer Frist von drei Monaten.