Zu dem Verhältnis zwischen Deutschen und Türken möchte ich mich, ohne mich einer diplomatischen Sprache zu bedienen, offen äußern.
Ich denke, nur so wird es möglich sein, zu einem aufrichtigen und produkti-ven Dialog zu gelangen. Das Verhältnis zwischen Deutschen und Türken in Deutschland auf der einen und zwischen den Staaten Deutschland und der Türkei auf der anderen Seite hat sich ohne Zweifel in jüngster Zeit verschlechtert, zwar nicht dramatisch, aber es ist belastet und mancherlei Störungen ausge-setzt.
DIE SITUATION TÜRKISCHER EINWANDERER IN DEUTSCHLAND Die Gründe für dieses gestörte Verhältnis sind vielfältig. Aus Sicht der Türken steht dabei die ungleiche, teilweise auch diskriminierende Be-handlung in der deutschen Gesellschaft, der sie oft ausgesetzt sind, im Vordergrund, geht doch bei Teilen der deutschen Bevölkerung diese Ab-lehnung so weit, daß sie sich leider nur allzu häufig in beleidigenden Sprüchen und sogar tätlichen Übergriffen gegen Türken bemerkbar macht.- Die sogenannten Türkenwitze sind weit verbreitet und nehmen solch aggressive Formen an wie: ‚Was die Juden hinter sich haben, haben die Türken noch vor sich.‘ – ‚Türken raus‘ und ähnliche Sprüche an Hauswänden und öffentli-chen Verkehrsmitteln gehören zu den unübersehbaren Erscheinun-gen des Alltags. – Die in bestimmten Abständen durchgeführten Befragungen bei der deutschen Bevölkerung über die Beliebtheit anderer Völker macht deutlich, daß die Türken nach den Roma und Sinti am unbeliebtesten sind. Nun drängt sich die Frage auf, woran es liegen mag, daß das Bild, das sich der durchschnittliche Deutsche von den Türken macht, so ver-zerrt ist. Haben vielleicht auch die Türken selbst zu diesem Bild beige-tragen? Es ist wahr, der überwiegende Teil der Türken ist als Arbeitnehmer nach Deutschland gekommen. Nicht selten kamen diese Menschen aus ländlichen Gegenden und den einkommensschwächeren Teilen der tür-kischen Gesellschaft. Wahr ist auch, daß sie in Deutschland Arbeiten verrichten, die vom gesellschaftlichen Prestige her nicht gut angesehen sind. Genauso wahr ist aber auch, daß die Türken seit Jahrzehnten gerade die körperlich schwersten und gesundheitlich schädlichsten Arbeiten ver-richten, überdies noch zu weit geringeren Löhnen, als ihre deutschen Arbeitskollegen. Damit haben die türkischen Arbeitnehmer als ein ganz wesentlicher Faktor entscheidend zum volkswirtschaftlichen Aufbau Deutschlands und zum raschen sozialen Wohlstand dieses Landes bei-getragen. Die Arbeitgeber, das wird wiederholt bestätigt, sind mit der Ar-beit und dem Fleiß der Türken sehr zufrieden. Auch mit ihren Beiträgen in Milliardenhöhe tragen die Türken seit nunmehr drei Jahrzehnten zur Sanierung der Rentenkassen bei, nehmen selbst jedoch bis heute nur einen minimalen Teil davon in Anspruch. Kurz, die Türken leben nicht auf Kosten der deutschen Steuerzahler und des Sozialstaates, sie sind eine seiner Säulen und haben sich ihren bescheidenen Wohlstand durch harte Arbeit und überdurchschnittlichen Fleiß erworben. Entscheidend hat zu dem negativen Ansehen der Türken in Deutsch-land die Politik aller bislang regierenden Parteien beigetragen:- Der ehemalige Bundesinnenminister Zimmermann wie auch Bundes-kanzler Kohl erklärten es öffentlich zum Ziel der Regierung, die ‚Zahl der Türken zu halbieren.‘ – Der ehemalige Ministerpräsident von Hessen, Börner, erklärte ‚in meiner Regierungszeit wird Hessen keine weiteren Türken aufneh-men.‘ – Altbundeskanzler Schmidt sagte gegen Ende seiner Amtszeit im Herbst 1981 ‚es war ein Fehler, so viele Ausländer ins Land zu las-sen.‘ – Der ehemalige Chef des Bundespresseamtes, Werner Müller, stellte in seinem Buch ‚Die Invasion der Armen‘ die Frage: ‚Warum schi-cken wir die Türken nicht zurück?‘ Dergleichen Äußerungen ließen sich beliebig fortsetzen. Aus dem Munde höchster Repräsentanten Deutschlands werden der deutschen Bevölkerung in bezug auf Ausländer und speziell Türken deutliche Sig-nale gesetzt: Ihre Anwesenheit wird als Negativum suggeriert und die Minderung ihrer Anzahl zu einer notwendigen, ja vordringlichen Aufgabe des Staates erklärt. Zu diesem Negativbild trägt sehr entscheidend die staatspolitisch ver-folgte und praktizierte Absonderungs- und Abschottungspolitik gegen-über Türken und den übrigen Ausländern bei.- Es ist weltweit neben ähnlichen Praktiken in Österreich und der Schweiz ein allein deutsches Phänomen, die seit nunmehr über drei Jahrzehnten hier dauerhaft lebenden Nichtdeutschen als ‚Ausländer‘ zu titulieren. Mehr noch, selbst die gebürtigen Hamburger, Berli-ner, Stuttgarter, die in Deutschland ihre Schulabschlüsse gemacht sowie einen Beruf erlernt haben, gelten nach wie vor als Ausländer. Doch nicht nur begrifflich, auch rechtlich werden sie als Ausländer mit einem Sondergesetz behandelt und mit minderen Rechten ausgestat-tet. – Die Grundvoraussetzung einer allseits beschworenen Integrationspo-litik, nämlich die rechtliche, politische und soziale Gleichstellung der hier dauerhaft lebenden Nichtdeutschen, blieb bis heute Fiktion. Vor allem die ‚Ausländer‘ der zweiten und der folgenden Generatio-nen, deren Heimat Deutschland ist, aber auch die hier dauerhaft leben-den und niedergelassenen Einwanderer der ersten Generation wollen und werden auf Dauer diese rechtliche, politische aber auch gesell-schaftliche Absonderung und Diskriminierung nicht akzeptieren. Es ist an der Zeit hier und jetzt zu handeln. Es ist nicht nur ein unverzichtbares Gebot der Demokratie sondern auch im Interesse des inneren Friedens Deutschlands, die völlige Gleichstellung und Gleichbehandlung der hier niedergelassenen Türken und der übrigen Einwanderer zu realisieren. Der beste Weg hierzu wäre eine radikal erleichterte Einbürgerungspolitik, und zwar unter Beibehaltung der bisherigen Staatsbürgerschaft. In diesem Kontext haben wir seit nunmehr zwölf Jahren die Forderung nach einer Doppelstaatsbürgerschaft in die Diskussion eingebracht. Bei den Verhandlungen über Aus- und Zuwanderung zwischen den Regierungsparteien und der SPD hat vor allem die CSU aber auch die CDU die Einigung über eine Doppelstaatsbürgerschaft bei dem erzielten Kompromiß verhindert. Es kann nicht angehen, daß CDU und CSU die Einführung des kommunalen Wahlrechts in Hamburg und Schleswig-Holstein verhin-dern, weil dieses Recht deutschen Staatsbürgern vorbehalten sei, gleichzeitig aber auch den Weg zu einer erleichterten Einbürgerung blo-ckieren und damit eine rechtliche Gleichstellung faktisch unmöglich ma-chen. Hier stellt sich die Frage, wie eigentlich die Konzeption der Uni-onsparteien über das Hiersein der Eingewanderten aussieht? Wie lange noch sollen die Türken und die übrigen Einwanderer in Deutschland als Ausländer mit minderen Rechten leben? Hierüber sollten wir uns unter-halten.
WIE STEHT ES HEUTE UM DIE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN DEUTSCHLAND UND DER TÜRKEI? Vor knapp 70 Jahren hat sich die Türkei – obgleich ein islamisches Land – unter Mustafa Kemal Atatürk definitiv zu Lebens- und Gesell-schaftsformen nach westlichem Vorbild entschieden. Mit einer Vielzahl radikaler Reformen hat die Türkei das gesellschaftspolitische und marktwirtschaftliche System Westeuropas übernommen. Zu Lasten ihrer islamischen Rechtsauffassung und traditioneller gesellschaftlicher For-men hat die Türkei vom Zivil- und Strafrecht bis hin zu Schrift und Klei-dung den europäischen Überbau übernommen. Trotz großer Schwierig-keiten bei dieser bruchartigen Umorientierung entsprechend dem westli-chen Wertesystem, hielt und hält die Türkei an einer Integrationspolitik mit Westeuropa fest. Lediglich die orthodox-islamisch orientierten Parteien sowie einige linksextreme Gruppierungen und Parteien, deren Stimmpotential insge-samt nur rund 20% der Wählerschaft ausmachen dürfte, sind gegen ei-ne Integrationspolitik mit Westeuropa. Alle übrigen Parteien und Kräfte unterstützen die Bemühungen der Türkei nach einer vollen Mitglied-schaft in der EU. Auch ich habe meine frühere Position in dieser Frage korrigiert. Mitte November 1988 veröffentlichte die auch in Deutschland er-scheinende Zeitung türkische Zeitung ‚Milliyet‘ ein Interview mit dem Leiter des Instituts für Orientforschung in Hamburg und zitierte ihn mit der Überschrift: ‚Ihre Religion stellt das Hindernis für den EG-Beitritt dar.‘ Nach Auffassung von Prof. Steinbach betrachte die westliche Welt die Türkei nicht als Teil ihres Wertesystems, weil den Türken mit ihrer im Islam verwurzelten Kultur die christliche Religion und die darauf basie-renden Moralvorstellungen und kulturellen Formen fremd seien. Eine fast identische Auffassung vertrat auch Altbundeskanzler Schmidt in ei-nem Aufsatz in der ‚Zeit‘ des gleichen Jahres. Als die EG-Mitgliedschaft der Türkei aufgrund der Assoziierungsver-träge Ende 1988 auf der Tagesordnung stand, herrschte in der deut-schen Presselandschaft nahezu einhellig eine ähnliche Auffassung vor. Unter anderem wurden Menschenrechtsverletzungen, die mangelnde Demokratisierung sowie die Unterdrückung der kurdischen Minderheit in der Türkei als Hinderungsgründe für eine EG-Mitgliedschaft der Türkei genannt. Hierbei drängen sich folgende Fragen auf:- Gehört nicht die Türkei seit 1952 zur westlichen Allianz? – Ist nicht die Türkei Vollmitglied des Europarates? – Wurde nicht bereits 1963 mit einem völkerrechtlich bindenden Ver-trag die Assoziierung der Türkei an die EG mit dem Ziel paraphiert, der Türkei die EG-Mitgliedschaft zu gewähren? – Weshalb wurde über die Beseitigung der Demokratie und die Verlet-zung der Menschenrechte unmittelbar nach dem Militärputsch von 1980 so selten berichtet, als es für die Menschen dort dringend gebo-ten war, und weshalb kommt dies dann Ende der 80er Jahre auf die Tagesordnung, zu einer zeit, da eine Demokratisierung und Liberali-sierung der türkischen Gesellschaft deutlich wird? Der wahre Grund für die Staaten der Europäischen Union, eine Voll-mitgliedschaft der Türkei sowie die damit verbundenen Rechte wie die Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer in allen EU-Staaten ständig hin-auszuzögern, ist mit Sicherheit ökonomischer Natur. Die allgemeine Wirtschaftslage, vor allem die hohe Arbeitslosigkeit in den europäischen Ländern, widerspricht deren Interessenlage, ein Land wie die Türkei mit noch größerer Arbeitslosigkeit aufzunehmen. Offensichtlich spielt aber auch die Tatsache, daß die Türkei kein christliches Land ist, für manch einen Politiker und ihre Parteien bei der Frage der Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU eine gewichtige Rolle. Bei dieser ablehnenden Haltung übernimmt Deutschland eine Vorreiterrolle. Nun müßte berechtigterweise hinterfragt werden, ob die europäi-schen Partner denn erst jetzt entdeckt haben, daß die Türkei ein islami-sches Land ist, die Kurden dort als Minderheit nicht anerkannt werden und die Demokratie nicht so funktioniert, wie in den westeuropäischen Staaten. Die Türken und die Türkei reagieren sehr empfindlich, wenn sie fest-stellen müssen, daß die Westeuropäer unter dem Vorwand religiöser und kultureller Unterschiede oder mangelnder Demokratisierung eine Mitgliedschaft der Türkei ablehnen. Wenn die gleiche Türkei als einziges islamisches Land seit über 40 Jahren der westlichen Allianz, der NATO, als willkommener Partner galt und gilt, jetzt aber von den EU-Staaten mit vorgeschobenen Argumenten abgelehnt wird, bewerten dies die Türken als Affront und reagieren nicht zu Unrecht mit Bestürzung und Empö-rung. In diesem Zusammenhang wird in manchen türkischen Medien die Frage gestellt, ob es den europäischen Staaten nicht mittlerweile mög-lich sein sollte, ihre mittelalterliche ‚Kreuzzugsideologie‘ ein für alle Mal abzulegen und zu einer vorurteilsfreien Beziehung mit der Türkei und den Türken zu gelangen.
Folgende Punkte möchte ich zum Schluß unterstreichen: Es wäre eine sehr kurzsichtige Politik zu glauben, die in Deutschland dauerhaft lebenden Menschen mit einem Sondergesetz und mit minde-ren Rechten leben zu lassen, ohne den sozialen Frieden akut zu gefähr-den. Genauso falsch ist es, der Türkei aufgrund einer aktuellen ökono-mischen Interessenlage die EU-Mitgliedschaft zu verweigern. Die Türkei spielt mit ihren rund 60 Millionen Einwohnern bereits heute eine große und wird in Zukunft eine noch größere Rolle in einer sehr kritischen Re-gion , dem Nahen Osten, spielen. Die Bedeutung der Türkei ist nach dem Zerfall der Sowjetunion und der damit verbundenen Unabhängigkeit von fünf Turk-Republiken unübersehbar geworden. Deutschland sollte in wohlverstandenem Eigeninteresse an einer län-gerfristigen Zusammenarbeit in wirtschaftlichen und politischen Fragen mit der Türkei interessiert sein. Die Türkei sollte nicht als Konkurrent o-der gar Gegner einer Zusammenarbeit mit den Ländern Zentralasiens betrachtet werden, sondern als Partner. Die Türkei verfügt über historisch bedingte Möglichkeiten , rasch sei-ne besonderen Beziehungen zu den Turkvölkern im Kaukasus und in Zentralasien auszubauen. Bereits heute sind eine Vielzahl von Verträ-gen und Vereinbarungen über eine enge Zusammenarbeit zwischen der Türkei und den Turkvölkern vereinbart worden. Deutschland und die Türkei könnten sich in vielerlei Hinsicht gegen-seitig ergänzen und ihre historisch guten Beziehungen auf einer soliden und partnerschaftlichen Grundlage weiterentwickeln.
Prof.Dr. Hakký Keskin Hamburg