Beitrag Landeszentrale BW

Die innenpolitische deutsch-türkische Debatte über den EU-Beitritt der Türkei

Zu den großen globalen Aufgaben gehört es, eine Brücke von den west-lichen Demokratien zur muslimischen Welt zu bauen. Dafür bietet eine demokratische Türkei einen unverzichtbaren Pfeiler‘ , Richard von Weiz-säcker, Bundespräsident a.D.

Keines der heute 25 Mitglieder der EU hatte einen solch langandauernden Prozess vor der eigentlichen Mitgliedschaft zu durchlaufen wie die Türkei. Bereits am 31. Juli 1959 bewarb sich die Türkei um Mitgliedschaft in der damaligen ‚Europäischen Wirt-schaftsgemeinschaft‘ (EWG).

Am 12. September 1963 wurde das ‚Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Republik Türkei‘ in Ankara unterzeichnet. Das Assoziierungsabkommen zwischen der EWG und der Türkei mit dem Ziel des Beitritts der Türkei zur Gemeinschaft erschien am 29. De-zember 1964 im Amtsblatt Nr. 217 und wurde dort als ‚Ankara-Abkommen‘ be-zeichnet. Am 23. November 1970 wurde zwischen der EWG und der Türkei ein Zu-satzprotokoll unterzeichnet, welches die Mitgliedschaft der Türkei in der EWG in drei Phasen vorsah und die Detailfragen der Übergangsphasen regelte.

Am 1. Januar 1996 wurde die Türkei in die Zollunion der EU aufgenommen. Für die türkische Bevölkerung stellte der Beitritt zur Zollunion einen weitreichenden Schritt hin zu einer Vollmitgliedschaft in der EU dar.

Die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten geben der Türkei am 9. Dezember 1999 in Helsinki den Status der Beitrittskandidaten. Die Türkei wird somit auf die Liste der Beitrittskandidaten aufgenommen, neben den zehn bereits im Mai 2004 als Vollmitglied aufgenommenen Staaten und neben Rumänien und Bulgarien, die 2007 der EU beitreten sollen. Der Türkei wird die Gleichbehandlung mit den an-deren Beitrittskandidaten zugesichert.

Auf dem Kopenhagener Gipfeltreffen der EU im Dezember 2002 wurde bezüglich einer Beitrittsperspektive der Türkei klargestellt, dass die Staats- und Regierungs-chefs der EU am 17 Dezember 2004 über den ‚unverzüglichen‘ Beginn von Bei-trittsverhandlungen zu entscheiden haben, wenn die EU-Kommission in ihrem voran-gegangenen Bericht die politischen Kriterien als erfüllt bewertet.

Voraussetzung für ein positives Votum der EU-Kommission ist die Erfüllung der so genannten ‚Kopenhagener Kriterien‘, deren Umsetzung und Einhaltung in einem Fortschrittsbericht der europäischen Kommission dokumentiert wird.

Am 6. Oktober 2004 hat die Europäische Kommission den Staats- und Regierungs-chefs der EU die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen unter strengen Auflagen empfohlen. ‚Nach vier Jahrzehnten Wartezeit bekommt die Türkei die Chance auf einen Beitritt zur Europäischen Union (EU)‘

Am 17. Dezember 2004 haben die 25 Staats- und Regierungschefs der EU bei ihrem Gipfeltreffen in Brüssel einstimmig beschlossen, Verhandlungen mit der Türkei mit dem Ziel einer Vollmitgliedschaft am 3.Oktober aufzunehmen. Diese in vielen EU-Staaten und in Deutschland sehr kontrovers diskutierte Entscheidung ist von histori-scher Tragweite.

Die Diskussion über die EU-Mitgliedschaft der Türkei wird ganz offensichtlich weiter-gehen. Gerade deshalb ist es geboten sich mit diesem Thema eingehend auseinan-derzusetzen.

Sowohl die von der EU-Kommission als auch die von den Staats- und Regierungs-chefs der EU gemachten strengen Auflagen lassen die Ungleichbehandlung der Tür-kei im Vergleich zu den im Mai 2004 aufgenommenen 10 Staaten und deutlich er-kennen.

Seit Jahren wird über eine EU-Mitgliedschaft der Türkei und den Beginn von Beitritts-verhandlungen unter Politikern, Wissenschaftlern und in den Medien in Deutschland und in der Türkei kontrovers diskutiert.

Die Gegner einer EU-Mitgliedschaft der Türkei in Deutschland führen hauptsächlich folgende Gründe und Argumente an:

  • Die Türkei sei weder geographisch noch historisch ein europäisches Land. Daher gehöre ‚die Türkei nicht zu Europa‘.
  • Die EU sei eine auf der christlichen Religion und Kultur basierende Gemeinschaft. Die Türkei würde dem westlichen Wertesystem nicht entsprechen und als ein is-lamisches Land die auf christlicher Kultur basierende Identität der EU sogar ge-fährden. ‚Die Unionsidee wird zerstört.‘
  • Die Türkei sei eine zu große finanzielle Belastung für die EU. Die EU ist keine ka-ritative Anstalt.‘
  • Der Beitritt der Türkei in die EU werde darüber hinaus eine starke Zuwanderung türkischer Arbeitskräfte in den Arbeitsmarkt der EU nach sich ziehen. ‚Es droht ei-ne Völkerwanderung‘.
  • Mit der EU-Mitgliedschaft der Türkei würde die EU an die zentralen Konfliktregio-nen grenzen. ‚Die EU kommt in üble Nachbarschaft‘.
  • Der Einfluss des Kemalismus und des Militärs seien Hinderungsgründe für De-mokratie und Rechtsstaatlichkeit. Außerdem sei die Gefahr des Islamismus in der Türkei nicht gebannt.

Wie berechtigt, überzeugend und stichhaltig sind diese Behauptungen und Argumen-te? In diesem Kapitel werde ich mich anhand von Fakten mit den Positionen der Gegner einer EU-Mitgliedschaft der Türkei auseinandersetzen.

Die Türkei ist euroasiatisch Kein Zweifel, geographisch liegt nur ein kleiner Teil der Türkei auf dem europäischen Kontinent. Diesen Aspekt jedoch nach 40-jähriger Assoziierung der Türkei an die EU mit dem darin festgelegten Ziel einer EU-Mitgliedschaft nun zu thematisieren, scheint sehr weit hergeholt. Diejenigen EU Vertreter, die 1963 mit der Türkei das Abkommen über die EU-Perspektive der Türkei paraphierten, wussten sicherlich auch damals bereits, wo die Türkei liegt. In der oben zitierten Rede des Präsidenten der EWG-Kommission, Walter Hallstein (CDU), unterstreicht er an drei Stellen sicherlich ganz bewusst, dass ‚die Türkei zu Europa gehört‘, als ob er die aktuelle Diskussion dar-über vorausgeahnt hätte und deshalb genau dies betonen wollte. Die Verantwortli-chen der damaligen EWG haben sich in ihrer Vision über die Zukunft der Gemein-schaft nicht auf die geographischen Grenzen beschränken wollen, sie trafen eine klare politische Entscheidung.

Gerade diese geographische Lage der Türkei als ein Land in und eine Brücke zwi-schen zwei Kontinenten, Europa und Asien, verleiht ihr eine besondere Bedeutung für die EU. Diese zukunftsträchtige Perspektive darf nicht durch eine nach Quadratki-lometern rechnende Sichtweise relativiert oder gar eingeschränkt werden. Die Ziel-setzung der Türkei, einerseits Mitglied der EU zu werden, sich andererseits aber als ökonomischer und politischer Machtfaktor konsequent im eurasischen Raum einzu-setzen, wird letztlich beiden, der Türkei wie der EU, zugute kommen.

Die EU ist kein Christenclub, sondern eine Gemeinschaft der kultu-rellen, sprachlichen und religiösen Vielfalt

‚Europa ist kein christlicher Klub‘. Europa hat zwar ‚in 2000 Jahren eine tiefe christ-liche Prägung erfahren‘, so Sommer, ’seine staatliche Verfasstheit ist jedoch mit Ausnahme des Vatikans überall laizistisch. Insofern könnte eine laizistische Türkei in der Europäischen Union durchaus ihren Platz finden.‘

In Deutschland sind es in der Regel die Konservativen, Politiker/innen der Unionspar-teien oder Historiker, die sich engagiert gegen eine EU-Mitgliedschaft der Türkei wenden. Sie argumentieren, dass die Türkei mit ihrer islamischen Bevölkerung, einer anderen Kultur, Religion und Geschichte und Identität und damit den Rahmen der EU sprenge. Die Erweiterung der EU um die Türkei führe zu einer Überdehnung, der innere Zusammenhalt der Union werde verloren gehen und das Ziel einer politischen Union, die Außenminister Fischer einmal als Föderation ausmalte, bleibe Illusion. Dazu einige Beispiele:

‚Im Islam fehlen die für die europäische Kultur entscheidenden Entwicklungen der Renaissance, der Aufklärung und der Trennung zwischen geistlicher und politischer Autorität‘ , so Altbundeskanzler Helmut Schmidt.

Und der bayrische Ministerpräsident Edmund Stoiber: ‚Wenn wir eine politische Uni-on Europa wollen, dann brauchen wir ein hohes Maß an Integration. […] Nimmt man die Türkei auf, dann ist dies das Ende der Vision von der politischen Union Europas. […] Mit einem Staat wie der Türkei, der einen ganz anderen gesellschaftlichen Hin-tergrund hat, sprengt man die politische Union.‘ Und: ‚Wir sind ganz klar gegen ein Europa der verwischten kulturellen und geographischen Grenzen.‘

Für die Vollmitgliedschaft in der EU sei auch eine gemeinsame Identität und das Ge-fühl der Zugehörigkeit notwendig. Dies fehle der Türkei, die nur teilweise zu Europa gehöre, so der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Wolf-gang Schäuble, in einem Interview. ‚Natürlich können wir die Beitrittsperspektive, die es seit den sechziger Jahren gibt, jetzt nicht einseitig aufkündigen. Das ist eine Ver-pflichtung zu der wir stehen.‘

‚Das historische Europa und die Türkei gehören zwei unterschiedlichen Kulturkrei-sen an. […] Integration meint auch die Stärkung des europäischen Identitätsgefühls. Das aber würde durch die auf grundverschiedenen historischen Traditionen beru-hende Türkei dauerhaft in Frage gestellt.‘

‚Entspricht es diesen Interessen, in einem genuin europäischen Staatenverein ei-nen nichteuropäischen muslimischen Staat als größtes Mitglied zu kooptieren?‘

Wie zu sehen ist, wird den Türken und der Türkei eine europäische Identität wegen ihrer unterschiedlichen Geschichte, Religion und Kultur aberkannt. Als ob es in Euro-pa nur die christliche Religion, eine einheitliche Kultur und eine gleiche Geschichte für alle 25 EU-Mitgliedsstaaten und somit auch eine bestimmte Identität gäbe. Zudem wird in dieser Vorstellung die Identität als etwas historisch Eingefrorenes, also Stati-sches verstanden und bewertet. Dass dies nicht der Fall ist, beweist die vorhandene Vielfalt der Sprachen, der Kulturen und der Geschichten eines jeden Volkes und Landes sowie die dadurch mitgeformten, sich dauernd in Weiterentwicklung befin-denden unzähligen Identitäten.

Die oben zitierte Feststellung von Altbundeskanzler Helmut Schmidt ist sehr allge-mein gefasst und gerade für die Türkei nicht zutreffend. Der Islam in Südostasien, Afrika, im Nahen Osten und in Europa ist sowohl in seiner Auslegung als auch in der praktischen Anwendung sehr unterschiedlich und zeigt eine Vielfalt, ähnlich der des Christentums. Es ist falsch, die islamische Religionsgemeinschaft, der ca. 1,3 Milliar-den Menschen in mehr als 50 Ländern angehören, in Fragen der Auslegung und Ausübung als homogen zu betrachten. Es ist aber auch wahr, dass es in vielen isla-mischen Ländern Entwicklungen der Renaissance, der Aufklärung und der Trennung zwischen geistlicher und politischer Autorität, vergleichbar mit der in Europa, bis heu-te nicht gegeben hat. Zum einen waren fast alle dieser Länder bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts Kolonien oder standen in halb-kolonialer Abhängigkeit von europäi-schen Großmächten, so dass ihre Entwicklung einer eigenen, innergesellschaftlichen Dynamik beraubt wurde. Zum anderen haben manche dieser Länder ihre eigene Re-naissance, ihre Phasen der Aufklärung erst nach ihrer politischen Unabhängigkeit, also mit reichlicher Verspätung und damit unter anderen gesellschaftlichen Bedin-gungen durchführen können. So haben beispielsweise Indonesien, Pakistan und Ma-laysia, was die Aufklärung und Emanzipation der Frau anbetrifft, nach ihrer Unab-hängigkeit in diesen Bereichen – wenn auch mit Unterbrechungen – beachtliche Er-folge aufzuweisen.

Die Türkei hat 1923, nach der Ausrufung der Republik, durch revolutionäre Umwäl-zungen diese Entwicklung der europäischen Aufklärung mit ihrer Trennung von Staat und Religion bereits in den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts erfolg-reich nachvollzogen. Dies wird der Türkei von Schmidt selber bescheinigt, wenn er an andere Stelle schreibt: ‚Die Türkei ist, dank der Reformen Kemal Atatürks in den zwanziger und dreißiger Jahren, ein laizistischer Staat. Der Feudalismus ist abge-schafft; anders als im Iran gibt es eine klare Trennung zwischen Staat und Geistlich-keit; anders als im Irak und Syrien gibt es eine funktionierende demokratisch-parlamentarische Verfassung‘ .

Mit der Ausrufung der Republik Türkei und der Abschaffung des Sultanats im Jahre 1923 sowie ein Jahr später mit der Abschaffung des Kalifats als oberster Instanz der Scharia und der Aufnahme des Laizismus, der Trennung von Religion und Staat, in die erste Verfassung der Republik Türkei, mit einer Rechtsreform, Bildungsreform, Schriftreform (anstelle der arabischen die Lateinschrift), mit der Gleichstellung dem allgemeinen Wahlrecht für Frauen und mit einer Reihe weitreichender Reformen in den Folgejahren wurde die Westorientierung der Türkei gezielt eingeleitet.

Ähnlich wie der Artikel 20 des deutschen Grundgesetzes, der die Staatsform der Bundesrepublik Deutschland definiert und unabänderlich gilt, sind auch Art. 1 ‚Die Türkei ist eine Republik‘ und Art. 2 ‚[…] die Türkei ist ein demokratischer, laizisti-scher und sozialer Rechtsstaat‘ der Verfassung der Türkei unveränderbar.

Helmut Schmidts Hinweis auf die Bedeutung und Notwendigkeit der Aufklärung und die Trennung von Staat und Geistlichkeit kann ich hier mit besonderer Betonung un-terstreichen. Die unmittelbare Mitwirkung der Kirchen an den politischen Entschei-dungen ist in den christlichen Staaten Europas längst Geschichte. Im Islam berufen sich jedoch die Geistlichkeit und nicht selten auch die Herrschenden bei ihren Hand-lungen und bei der Staatsführung auf die islamische Religion. Der Islam wird somit für die eigenen politischen und ökonomischen Herrschaftsinteressen instrumentali-siert.

Den Laizismus bewerte ich daher für jeden Staat, und gerade für einem Staat wie die Türkei mit ihrer überwiegend islamischen Bevölkerung, mit unterschiedlichen Kon-fessionen und ethnischen Zugehörigkeiten als Zement des Zusammenhalts und als notwendige Basis für eine Gestaltung der Politik gemäß den wissenschaftlich-technologischen Erkenntnissen und gemäß den Auslegungen der Kleriker.

Der Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Huber, traf in bezug auf die religiösen Symbole Kopftuch und Kreuz folgende Feststellung: ‚[…] die Unterscheidung zwischen religiöser und politischer Sphäre ist dem Islam bis heu-te grundlegend fremd. Der Islam bejaht leider nicht die aufgeklärte Säkularität der politischen Ordnung‘ . Er fügt hinzu, dass die Gleichberechtigung von Mann und Frau im Islam nicht gegeben sei. Dies trifft für sehr viele islamische Länder zu, aber gerade für die Türkei nicht. Genau dieses sehr substantielle Problem wurde mit dem Laizismus als Grundpfeiler des modernen und demokratischen Rechtsstaates in der Türkei gelöst. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist inzwischen in der Tür-kei ein rechtlich gesichertes Gut. Und das staatspolitische Prinzip Laizismus gewähr-leistet eine klare Trennung zwischen religiöser und politischer Sphäre als ein unum-stößlicher Grundpfeiler der Verfassung und der Gesetze. Es kommt aber nicht selten vor, dass gerade von manchen Vertretern der Kirche diese klare Orientierung in der Türkei als eine Beeinträchtigung der Religionsfreiheit immer wieder kritisiert wird. Im Widerspruch zu dieser Position sagen dieselben Kreise aber auch, dass in der Türkei die Gefahr einer fundamentalistischen Islamisierung noch nicht gebannt sei.

Eine sehr große Mehrheit der Bevölkerung der Türkei hat den Laizismus verinner-licht. Selbst unter den für die Gegner des Laizismus günstigsten Bedingungen, also in Zeiten politischer, wirtschaftlicher und sozialer Krisen, haben laizismusfeindliche Parteien maximal 20% der Wählerstimmen auf sich ziehen können. Diese Tatsache belegt, dass die türkische Bevölkerung den ‚laizistischen, demokratischen und sozia-len Rechtsstaat‘ längst angenommen und als Grundsatz der Verfassung akzeptiert hat. Die Partei des Ministerpräsidenten Erdoğan, die im Sommer 2001 unter dem Namen ‚Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei‘ (AKP) gegründet wurde, ist eine Abspaltung aus der islamischen Bewegung Erbakans. Diese Partei und ihrer Führer scheinen, obwohl manche dies immer noch nicht wahrhaben wollen, begriffen zu ha-ben, dass eine Politik gegen diese Verfassungsgrundsätze sowie gegen die zivilisa-torisch-westlich geprägten Werte in der Türkei keine Chance hat.

Die Feststellung des namhaften Theologen Yaşar Nuri Öztürk, Professor an der Uni-versität Istanbul, Autor von Dutzenden Publikationen über den lslam, dessen Ausle-gung, Religionsfragen und den Laizismus, wirft Licht auf diese wichtige Diskussion. Die inakzeptablen Zustände in vielen islamischen Ländern führt er auf eine falsche Auslegung des Islam zurück, auf Interpretationen, die allein der Sicherung illegitimer und ungerechter Regime geschuldet sind. ‚Denn in diesen Ländern hat man das Prinzip des Koran ‚die Religion ist für die Menschen geschaffen’ ins Gegenteil ver-kehrt. Es wurde daraus: ‚Der Mensch ist für die Religion geschaffen’. (…) Laizismus heißt, die Legitimation der Herrschenden beziehungsweise der Regierenden nicht auf Gott oder göttliches Recht zu gründen, sondern auf den Willen des Volkes. Daher halte ich es nicht für möglich, dass die islamischen Gesellschaften sich demokratisie-ren können, ohne sich eine wirklich laizistische Verfassung zu geben‘ .

Die oben beispielhaft zitierten Gegner einer EU-Mitgliedschaft der Türkei behaupten, dass ein Staat wie die Türkei, deren Bevölkerung mehrheitlich muslimisch ist, nicht fähig sei, sich universale Errungenschaften der Menschheit wie Aufklärung, Demo-kratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Säkularisierung zu eigen zu ma-chen. Diese Staaten seien daher nicht europakompatibel und würden der europäi-schen Identität nicht entsprechen.

Was an diesen konservativen Positionen nicht akzeptiert werden kann, ist, dass sie die universalen Rechte nur eingeengt aus dem Blickwinkel der westlichen Welt be-trachten. In dieser Hinsicht wird eine Ausgrenzung der islamischen Religion, aber auch anderer Kulturen und Identitäten vorgenommen. Gerade der Anspruch auf Uni-versalität dieser Errungenschaften setzt aber voraus, dass sie weltweite Akzeptanz, Anerkennung und Anwendung erfahren. Die Mitgliedschaft in die EU darf nicht so ausgelegt werden, dass die eigene islamisch geprägte Identität und die eigene Kultur oder gar die eigene religiöse Überzeugung aufgegeben werden müsste, um EU-integrationsfähig zu werden.

Der bis Ende 2004 amtierende Ratspräsident der EU, der niederländischer Minister-präsident Jan Peter, betonte in seiner Rede am 4. September 2004 vor dem europäi-schen Parlament, dass es nicht zu den gemeinsamen europäischen Werten passe, ‚Barrieren gegen irgendeine Religion aufzubauen. Wir dürfen uns nicht von Ängsten leiten lassen.‘

Der renommierte Politikwissenschaftler Oberndörfer geht mit den Positionen der His-toriker Wehler und Winkler hart ins Gereicht: ‚Da ‚das muslimische Osmanenreich nahezu 450 Jahre lang Krieg gegen das christliche Europa geführt hat‘, so Wehler, darf die heutige Türkei nicht in die EU. Nimmt man die jahrhunderte langen Erbfeind-schaften und Kriege innerhalb Europas, etwa zwischen Deutschen und Franzosen oder zwischen England und Frankreich, so hätte die EU erst gar nicht zustande kommen dürfen. […] So konnten und durften die Juden Deutschlands nach Auffas-sung der nationalen Wissenschaftler und ihrer Gefolgschaft keine echten Deutschen werden. Es handelte sich, in der Sprache des Historikers gegenüber den Türken, um bloße Kopien.‘ Die EU, ein Staatenbund bereits heute aus 25 und in naher Zukunft aus mehr als 28 Staaten, darf und kann in einer Epoche der Globalisierung der Welt nicht allein auf Werte christlicher Religion und der darauf basierenden Kultur reduziert werden.

Dies würde auch der bereits vollzogenen Realität von heute gänzlich widersprechen. Die Staaten der EU sind längst faktisch unumkehrbar multikulturell, multiethnisch, und multireligiös geworden. In diesen Ländern leben mehr als 15 Millionen Men-schen islamischen Glaubens, von der Bevölkerungszahl entspricht dies der Größe einiger Staaten der EU. Allein aus der Türkei leben heute mehr als 3,5 Millionen Menschen in den EU-Staaten, allein in der Bundesrepublik Deutschland 2,5 Millio-nen.

Die EU ist ein globales, zukunftsgerichtetes Modell einer offenen und multikulturellen Gesellschaft. Ihr Verdienst sollte nicht nur darin bestehen, den Wohlstand und den sozialen Frieden ihrer Bevölkerung zu sichern und zu steigern, sondern auch zum Prozess eines engen Dialogs und Austausches mit anderen Religionen und Kulturen und somit zum Frieden weltweit aktiv beizutragen. In diesem Sinne ist die EU-Mitgliedschaft der Türkei für ein solches Projekt bestens geeignet.

Die Türkei, die sich das westliche Lebens- und Zivilisationsmodell zu Eigen gemacht hat, will als ein laizistischer Staat mit ihrer überwiegend muslimischen Bevölkerung einem säkularen Europa beitreten. Aus eigener Überzeugung hat die Türkei das zivi-lisatorische Wertesystem zu ihrer unantastbaren und unveränderlichen Staatsform gemacht.

Die Kemalisten und das türkische Militär wollen ein gleichberechtigtes EU-Mitglied Türkei

Der Befreiungskrieg des türkischen Volkes nach der Besetzung der Türkei infolge des verlorenen Ersten Weltkriegs wird ebenfalls von Offizieren unter Führung von Mustafa Kemal und seinen engsten Gesinnungsfreunden, İsmet İnönü, Kara Kazim Paşa, Maraşal Fevzi Çakmak und vielen anderen durchgeführt. Sie waren es, die die Nationalversammlung der Türkei auf Volkskongressen in Sivas und Erzurum organi-sierten und 1921 einberiefen. Mit revolutionären Entscheidungen der ‚Nationalver-sammlung der Türkei‘ (das Parlament in der Türkei heißt immer noch ‚Große Natio-nalversammlung der Türkei‘) in Ankara wird die Republik der Türkei 1923 konstituiert und das 624-jährige osmanische Sultanat und das ‚Şeyhulislam‘, eine Art Papst der ganzen islamischen Welt, abgeschafft. Es folgen eine Vielzahl von Reformen zur Modernisierung des Landes, darunter eine Rechts-, Bildungs- und Schriftreform, Trennung von Staat und Religion, die rechtliche Gleichstellung der Frau nebst dem Verbot der Polygamie, eine radikale Reformierung der Wirtschaft zur raschen Indust-rialisierung des Staates. Die Nationalversammlung der Türkei wählte Mustafa Kemal, Symbol des Befreiungs- und Unabhängigkeitskampes, zum ersten Staatspräsiden-ten. Sein Nachfolger wird einer seiner engsten Mitstreiter, der langjährige Minister-präsident Ismet Inönü.

Die türkische Revolution erfolgte also unter Führung von Offizieren, die sich danach als Parlamentarier vor allem bis 1950 große Verdienste erwarben. Die Anhänger der Reformen Mustafa Kemal Atatürks, deren Zielsetzung ich in aller Kürze mit seinem Leitmotto vom ‚Erreichen des zeitgenössischen Niveaus der zivilisierten Welt‘ wie-dergeben möchte, werden als ‚Kemalisten‘ bezeichnet. Mit großer Hingabe haben sich diese Menschen für das Wohl der Türkei eingesetzt, ohne sich selbst zu berei-chern und in Korruptionsskandale verwickelt zu werden, was leider in den letzteren Jahrzehnten in der Türkei Gang und Gebe ist.

Ali Sirmen, bekannter Kolumnist und Autor in Istanbul, beschreibt in einem Satz sehr deutlich, wie der Kemalismus verstanden werden sollte: ‚Kemalismus ist allein ge-nommen weder eine Ideologie noch eine Kosmogonie, anders gesagt, er ist nicht eine in sich geschlossene originale Lehre, er ist vielmehr der erste Versuch einer Übertragung und Reflexion von Renaissance, Aufklärung und den Errungenschaften der Französischen Revolution in eine nichtchristlichen Gesellschaft außerhalb Euro-pas.‘

Keine Revolution ist mit Samthandschuhen durchführbar. Der großen integren Per-sönlichkeit und Beliebtheit Atatürks ist es zu verdanken, dass die revolutionären Umwälzungen in der Türkei im Vergleich zu ähnlichen Prozessen eher mit Überzeu-gungsarbeit als mit Gewaltanwendung umgesetzt werden konnten. ‚Selbst wenn es stimmen sollte‘, schrieb Bugdorf ‚dass den Türken die Aufklärung erst zwangsweise durch den Kemalismus aufgezwungen wurde, so war dies doch in großen Teilen der heutigen EU nicht anders. […] Westdeutschland wurde die demokratische Ordnung von den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges aufoktroyiert.‘

Das türkische Militär sieht sich dieser kemalistischen Tradition verpflichtet. Daher ist der Kemalismus für den politischen Islam, also in den Augen derer, die einen the-okratischen Staat nach den Geboten der Scharia errichten möchten, ein Hindernis. Wie oben bereits gezeigt wurde, hat jedoch die großen Mehrheit der türkischen Be-völkerung die Grundideen des Kemalismus angenommen und als Staatsdoktrin ak-zeptiert.

Auch Helmut Schmidts geht auf die Rolle des Militärs in der Türkei ein. Die Macht in der Türkei läge beim Sicherheitsrat, in dem – unter Vorsitz des Staatspräsidenten – nichts gegen die oberste Generalität entschieden werden könne: die Militärspitzen wachten über die Einhaltung der kemalistischen Reformen und stünden als Garant gegen die schleichende Reislamisierung der Gesellschaft und des öffentlichen Le-bens. Und weiter: der Ausgang des Reislamisierungsprozesses sei ungewiss, Fun-damentalismus sei denkbar geworden.

Auch die politischen Gremien der EU hatte sich diese auf eine Reduzierung des Ein-flusses des Militärs zielende Kritik zu Eigen gemacht, eine Kritik, die nicht ohne Wir-kung blieb. Der ‚Nationale Sicherheitsrat‘, den es übrigens auch in den USA und in machen anderen Ländern gibt, wurde neu strukturiert. In diesem Gremium sitzen je zur Hälfte neben dem Staatspräsidenten, der Ministerpräsident, seine beiden Stell-vertreter und je nach Tagesordnung andere Minister sowie in gleiche Zahl die Offizie-re der Militärspitze. Der Sicherheitsrat trifft aber keine Entscheidungen mehr, kann in seiner Funktion als ein verfassungsmäßiges Beratungsorgan lediglich Ratschläge über wichtige Fragen, die die Sicherheit des Landes betreffen, als Empfehlung an die Regierung geben. Von dieser grundlegenden Reform des ‚Nationalen Sicherheitsra-tes‘ glaubten viele, dass damit von der Politik ein Tabubereich begangen worden wäre.

Es ist gänzlich falsch zu glauben, die Kemalisten wären gegen eine EU-Mitgliedschaft der Türkei. Sie sind vielmehr aufgrund ihrer Orientierung für den Integ-rationsprozess der Türkei in die EU, allerdings mit klarer Betonung darauf, dass um dieser Mitgliedschaft willen nicht alles akzeptiert werden dürfe, und das bedeutet Gleichbehandlung der Türke im Vergleich zu den übrigen EU-Staaten müsste ge-währt werden.

Die Befürchtung Schmidts und vieler anderer, dass für die Türkei die Gefahr einer Reislamisierung bestehe und der Fundamentalismus mehr und mehr Platz greife, hat sich als unbegründet erwiesen. Nicht nur die Entwicklung, die der moderat islamisch orientierte Ministerpräsident Erdoğan und seine Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei genommen haben, widerlegt diese Befürchtung, sondern vor allem die von sehr großen Teilen der türkischen Bevölkerung verinnerlichte zivilisatorische Staats- und Lebensform. Gerade diese Tatsache hat dazu geführt, dass nur eine solch gemäßigt-islamische Partei eine so breite Akzeptanz in der Türkei finden konnte. Diese positive Entwicklung ist zuallererst der unnachgiebigen Haltung der Kemalisten zu verdanken.

Von einem Mitgliedsland Türkei wird keine starke Zuwanderung ausgehen Mit völlig unbegründeten Fantasiezahlen über eine Zuwanderung von 10 bis 18 Milli-onen Menschen, die nach einem EU-Beitritt aus der Türkei in die EU abwandern würden, machte der Historiker Wehler den Menschen Angst . Diese Argumentation ist nicht selten auch von manchen Politikern zu hören, die damit Befürchtungen unter der von Arbeitslosigkeit ohnehin stark verunsicherten und verängstigten Bevölkerung verbreiten.

Prognosen wie diese sind jedoch durch die Erfahrungen mit den Ländern Spanien, Portugal und Griechenland nach ihrer EU-Mitgliedschaft widerlegt. In den Jahren 1991 bis Anfang 2003 kam es im Saldo aus Zu- und Abwanderung nach und aus Deutschland gegenüber Griechenland zu einem Zuwanderungs-Überschuss von le-diglich 1.663 Personen, bei den Portugiesen waren es 37.094 Personen, bei den Spaniern hingegen kam es zu einem Abwanderungs-Überschuss aus Deutschland von 186.629 Personen. Mit anderen Worten: innerhalb von 12 Jahre wanderten aus diesen drei Ländern insgesamt 147.872 Personen mehr aus Deutschland ab, als nach Deutschland zuwanderten.

Dies ist dadurch zu erklären, dass die EU-Mitgliedschaft für die neuen Mitgliedsstaa-ten die Möglichkeit eröffnet, dort durch neue Investoren viele neue Arbeitsplätze ent-stehen zu lassen, wie am Beispiel dieser Länder auch belegt werden kann.

Dies wird bei der Türkei nicht anders verlaufen. Bereits mit Beginn der Beitrittsver-handlungen über die Mitgliedschaft der Türkei dürften die Investitionen dort ganz er-heblich zunehmen, zumindest erwarten dies die Befürworter eines Beitritts. Dadurch wäre aber der Migrationsdruck aus der Türkei in die EU und nach Deutschland ganz erheblich gemindert.

Außerdem wurden bereits am 17. Dezember 2004 von den Staats- und Regierungs-chefs der EU längere Übergangsfristen bezüglich einer vollen Freizügigkeit be-schlossen, damit es gerade in den ersten Jahren nicht zu der befürchteten massen-haften Zuwanderung aus der Türkei kommt. Zudem wird die in den EU-Staaten und in Deutschland andauernde hohe Arbeitslosigkeit für Migranten aus der Türkei eher abschreckend wirken.

Mittelfristig aber wäre nach der Verbesserung der ökonomischen Lage in der Türkei sogar mit einiger Wahrscheinlichkeit eine Rückwanderung der in den EU-Staaten lebenden Türken in die Türkei zu erwarten. Die Beispiele Italien und Spanien bele-gen dies.

Auch die Angeben Wehlers über die Wirtschaft der Türkei sind falsch. Das Prokop-feikommen wird heute zu Recht nach der Kaufkraft bewertet. Danach liegt das Pro-kopfeinkommen in der Türkei bei mehr als 7.000 Euro. Hinzu kommt, dass in der Türkei ein beachtlicher Teil der Wirtschaftsleistungen noch nicht erfasst wird. Dieser Teil der nicht registrierten Wirtschaftsleistungen wird heute auf nahezu 45% ge-schätzt. Mit dem Heranziehen auch dieses Teils der Wirtschaft würde die Wirt-schaftskraft der Türkei in einem besseren und realistischeren Licht erscheinen.

Es liegt im Interesse der EU, zur Lösung der Konflikte insbesondere im Nahen Osten aktiv beizutragen

Die EU Mitgliedschaft der Türkei ließe die EU an die Region des Nahen Osten gren-zen und wäre dadurch direkt mit den Konflikten der Länder Iran, Irak, Syriens und letztlich auch Israels konfrontiert. Auch dies wird als Problem für die EU-Mitgliedschaft der Türkei angesehen.

Die Türkei ist seit 52 Jahren Mitglied der NATO. Als Mitglied dieser Werte- und Ver-teidigungsgemeinschaft hat sie auch ein Recht darauf, in einem Konflik mit den Nachbarstaaten der Region von den übrigen NATO-Staaten unterstützt zu werden. Nun sind aber fast alle EU-Staaten auch Mitglied der NATO, wie auch die Bundesre-publik Deutschland. In einem möglichen Konfliktfall mit den Nachbarstaaten der Tür-kei kann die Bundesrepublik Deutschland und können die anderen EU- und NATO-Staaten nicht sagen, dies alles ginge sie nicht an.

Oder sind etwa die Unionsparteien, die nicht selten auch dieses Argument im Munde führen, etwa der Meinung in einem solchen Fall der Türkei keinen Beistand leisten zu müssen, obwohl dieses Land seit über einem halben Jahrhundert bis an die Grenzen ihrer finanziellen Möglichkeiten die Südflanke der NATO sichert, und zwar stets zur vollen Zufriedenheit der Bündnispartner.

Die EU ist auch heute schon sehr an einer friedlichen Lösung des Konfliktes zwi-schen Israel und Palästina interessiert und bereit, sich im Nahen Osten zu engagie-ren und auch einen finanziellen Beitrag zu leisten. Leider sind jedoch die Möglichkei-ten zur Einflussnahme der EU heute nicht im nötigen Umfang gegeben.

Die Bundesrepublik Deutschland – und nicht nur sie! – versucht bereits heute, einen Beitrag zu Herstellung und Sicherung des Friedens und politischer Stabilität zu leis-ten, mit eigenen Soldaten im Kosovo und sogar in Afghanistan. Es ist längst bekannt, dass unsere Sicherheit, dass Frieden und Wohlstand nicht allen vom Frieden in Deutschland und Europa abhängt, sondern auch von Frieden und Sicherheit in ande-ren Regionen der Welt, insbesondere auch im Nahen Osten. Die Bedeutung, ja die Unverzichtbarkeit des Nahen- und Mittleren Ostens als wichtigste Energieversor-gungsregion der Erde steht außer Diskussion. Wie Recht hatte Atatürk mit seinem Ausspruch: ‚Frieden im Heimatland, Frieden in der Welt.‘

Doch ihr vergleichsweise geringes politisches Gewicht verleiht der EU nicht die Mög-lichkeit, sich mit Nachdruck für die Lösung der Konflikte gerade im Nahen Osten ein-zusetzen. Dies ist ein ganz gewichtiges Argument der Befürworter einer EU-Mitgliedschaft der Türkei, um sich der Mithilfe dieses Landes beim Ringen um Ein-fluss in dieser Region zu versichern und sich damit längerfristig Einfluss bei der Ver-gabe der Energieressourcen zu sichern. Darauf gehe ich weiter unten ein.

Die Türkei hat die Kopenhagener Kriterien erfüllt

‚Das Parlament in Ankara hat ein Reformpaket im besten EU-Format verabschiedet und stürzt die Europäer damit in tiefe Verlegenheit‘ ‚Aufbruch in eine neue Zeit. Samstag war ein historischer Tag in der Tür-kei‘

‚Die Türkei unter dem greisen Ministerpräsidenten Ecevit hat geschafft, was mancher in Brüssel als ‚Revolution’ empfindet.‘

Die ‚Türkische Gemeinde in Deutschland‘ hatte die Entscheidung der Staats- und Regierungschefs der EU beim Gipfeltreffen von Helsinki, die Türkei auf die Liste der Beitrittskandidaten zu setzen, ausdrücklich begrüßt und prophezeit, dass dieser wich-tige Schritt dem Demokratisierungsprozess in der Türkei einen kräftigen Auftrieb ge-ben und die rasche Umsetzung der ‚Kopenhagener Standards‘ ermöglichen werde. Und in der Tat: Die Gipfelentscheidung von Helsinki beflügelte und beschleunigte, wie wir heute wissen, die Demokratisierung der Türkei ganz erheblich.

Mit der Änderung von 37 der 177 Verfassungsartikel wurden die Fundamente der weiteren Demokratisierung der Türkei gelegt. Sehr umstritten waren vor allem die Änderungen, mit denen die Todesstrafe abgeschafft sowie das Erlernen anderer Mut-tersprachen neben dem Türkischen, insbesondere des Kurdischen, nebst der Mög-lichkeit zur Ausstrahlung muttersprachlichen Sendungen in Rundfunk und Fernsehen verfassungsrechtlich garantiert werden sollten. Vor allem die Nationale Bewegungs-partei hatte mit der Zustimmung zu diesen Reformen große Probleme gehabt. Es folgten eine Reihe grundlegender Gesetzesänderungen mit dem Ziel, die Stärkung der Demokratie und der zivilen Behörden zu erreichen. Meinungsfreiheit, der Schutz vor Folter, die Freiheit und Sicherheit des Individuums, das Recht auf Privatsphäre, die Unverletzlichkeit der Wohnung, die Kommunikationsfreiheit, Vereinigungsfreiheit und die Gleichberechtigung der Geschlechter wurde verfassungsrechtlich den EU-Standards angepasst. Das Zivilgesetzbuch wurde geändert und trat im Januar 2002 in Kraft. Dieses war erforderlich, um die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf allen Ebenen der Gesellschaft umsetzen zu können.

Die Türkei hat, was die politischen Kriterien von Kopenhagen anbetrifft, zur Überra-schung oder auch zur Bewunderung vieler ‚ihre Hausaufgaben erledigt‘. Dieser Weg zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wie auch die vollständige Gewährung der Menschenrechte und die Achtung und Gewährung von Minderheitenrechten darf jedoch nicht als ein abgeschlossener Prozess verstanden werden. Diese Ziele müs-sen in jeder Gesellschaft entsprechend der dynamischen gesellschaftlichen Entwick-lung immer von neuem in ihrer Umsetzung überprüft und den Erfordernissen der Zeit angepasst werden.

Die Staats- und Regierungschefs der EU haben am 17. Dezember 2004 darüber ent-scheiden, dass die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei am 3. Oktober 2005 begin-nen werden.

Eine von den Unionsparteien vorgeschlagene ‚privilegierte Partnerschaft‘, was fak-tisch auf eine Diskriminierung der Türkei gegenüber allen bereits EU-Mitglied gewor-denen und noch werdenden Staaten wie Rumänien und Bulgarien, später mögli-cherweise auch Kroatien und Serbien hinausliege, ist in keiner Weise akzeptabel, ja für mich indiskutabel.

Die Christlichen Parteien Deutschlands versuchen mit Unterstützung von Teilen der Kirchen ganz entschieden zu verhindern, dass eine demokratische und laizistische Türkei mit ihrer mehrheitlich islamischen Bevölkerung EU-Mitglied wird. Sie wollen, wie sie dies nicht selten bereits zum Ausdruck brachten, eine EU als christliche Ge-meinschaft.

Es ist für die Türken, vor allem aber für die Deutschlandtürken, verärgernd und ver-letzend, wenn Frau Merkel, Herr Schäuble, Herr Stoiber, Herr Glos oder andere Uni-onspolitiker – keineswegs jedoch alle! – die Türkei stets als andersartig und diskrimi-nierend behandeln, im Gegensatz zu den anderen Anwerbestaaten. Ihre Argumente hierfür sind, wie oben erläutert, durchaus unterschiedlich, je nach politischem Anlass: Mal werden religiöse und kulturelle Unterschiede angeführt, mal sind es geographi-sche Gründe oder politisch-wirtschaftliche Diskrepanzen.

Um jedoch diese ganz prinzipielle Ablehnung gegenüber den Türken zu verschleiern, haben die Unionsparteien eine Worthülse mit Mogelpackung erfunden, die ‚privile-gierte Partnerschaft‘, die der Türkei anstelle einer EU- Mitgliedschaft angeboten wurde.

Wenn aber nachgefragt wird, was unter der ‚privilegierte Partnerschaft‘ zu verste-hen sei, wird recht mühsam nach einer Antwort gesucht. Es soll wohl ‚eine Freihan-delszone zwischen EU und der Türkei, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspo-litik und Zusammenarbeit beim Kampf gegen den Terror bedeuten.‘

Doch diesen Status, diese Partnerschaft mit der EU, wenn man sie denn als ‚privile-giert‘ bezeichnen will, besitzt die Türkei längst:

Sie ist seit 1996 Mitglied der Zollunion. Das heißt, freier Warenaustausch zwischen der EU und der Türkei ist längst Realität, von der allerdings bislang in erster Linie die EU profitiert. Seit dem Beitritt der Türkei in die Zollunion hat sich das Außenhandels-defizit zu ungunsten der Türkei erhöht. Laut einer Berechnung des Präsidenten der Handelskammer von Ankara, Sinan Aygün, liegt das Defizit der Türkei für die Jahre 1997-2004 bei insgesamt 79,5 Milliarden Euro.

Eine gemeinsame Sicherheitspolitik und enge Abstimmung in außenpolitischen Fra-gen ist mit der Türkei als NATO-Mitglied seit über 50 Jahren selbstverständlich. Die Türkei gehört zu den Ländern, die am entschiedensten beim Kampf gegen den inter-nationalen Terrorismus engagiert sind, und es besteht bereits eine breit gefächerte Zusammenarbeit mit den EU-Staaten.

Da diese Idee einer ‚privilegierte Partnerschaft‘ als Alternative zur Vollmitgliedschaft der Türkei steht, wird sie von der Bevölkerung der Türkei und von den Deutschlandtür-ken eher als eine ‚privilegierte Diskriminierung‘ aufgefasst.

Die öffentlich als Möglichkeit angekündigte aber nach heftigen Protesten zurückge-nommene Unterschriftenaktion von Frau Merkel und den Herren Glos und Stoiber gegen den Beginn von Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei hat gezeigt, wie unsensibel und unüberlegt parteipolitische Positionen mit wichtigen außenpolitischen Entscheidungen vermischt werden.

Die EU sollte gemäß Ihren Versprechungen die Türkei gleichberechtigt behandeln

Zu einer guten Demokratie gehört Verlässlichkeit. Der Feststellung der Financial Ti-mes ist daher nichts hinzuzufügen: ‚Die EU ist eine Gemeinschaft, deren Zusam-menhalt und Ansehen darauf beruht, Verträge und politische Zusagen einzuhalten. Nicht nur in der islamischen Welt wäre die Wirkung verheerend, wenn einer demo-kratischen und ökonomisch hinreichend soliden Türkei die Tür zur Vollmitgliedschaft verschlossen bliebe‘

Der Kommissionsbericht der EU bescheinigte der Türkei, dass sie die Kopenhagener Kriterien im Allgemeinen erfüllt hat. Er empfahl aber für den Beginn der Beitrittsver-handlungen strengere Auflagen.

Die Staats- und Regierungschefs der EU folgten dem Bericht der EU-Kommission und entschieden sich für den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, ver-schärften jedoch die Auflagen für die Türkei weiter. Besorgt über diese Ungleichbe-handlung wandten sich im Namen von 1430 Vereinen fünf wichtige Verbände der Deutschland-Türken mit einem Offen Brief an die Öffentlichkeit und die Staats- und Regierungschefs der EU. ‚Die ungleiche und unwürdige Behandlung der Türkei für einen Beginn der Beitrittsverhandlungen hat die Beziehungen zwischen EU und Tür-kei bis an den Rand eines Bruches geführt .‘

Ganz prinzipiell ist die Ungleichbehandlung der Türkei im Vergleich zu den bereits im Mai 2004 aufgenommenen und den noch aufzunehmenden Staaten Bulgarien und Rumenien, vor allem in fünf Bereichen eindeutig festzustellen:

1. Die so genannte ‚ergebnisoffene Verhandlungen‘ hat es bislang mit keinem anderen Kandidaten gegeben. Dies bedeutet doch, selbst dann, wenn die Türkei alle erforderlichen Beitrittsbedingungen erfüllt, behält sich die EU das Recht vor, eine Aufnahme der Türkei in die EU abzulehnen. Bei den anderen Beitrittskandidaten hatte die EU dieses Recht nicht, wenn alle Beitrittsbedin-gungen erfüllt worden waren.

2. Zum EU-Beitritt der Türkei werden in den Mitgliedsstaaten Referenden vorge-schlagen. Wenn die zukünftige europäische Verfassung bei Beitrittsentschei-dungen das bisherige Prinzip der Einstimmigkeit übernimmt, ist eine Ableh-nung des Beitritts der Türkei vorprogrammiert, denn es wird einige Staaten geben, deren Bevölkerung sich gegen den EU-Beitritt der Türkei aussprechen wird. Bei keinem anderen Beitrittskandidaten hat es derartige Überlegungen je gegeben.

3. Auch bei der Frage der Freizügigkeit wird von der Türkei nicht nur für eine Ü-bergangsphase, sondern eine dauerhafte Konzession erwartet. Dies ist mit dem Geist und der Philosophie der EU unvereinbar.

4. Es wird bereits heute laut darüber nachgedacht, für die Türkei die Unterstüt-zungen im Agrar- wie im infrastrukturellen Bereich gegenüber anderen Mit-gliedsstaaten zu minimieren.

5. Obwohl alle anderen Beitrittskandidaten ein konkretes Beitrittsdatum erhalten haben, ist dies für die Türkei nicht vorgesehen. 6.

Neuerdings wurde im Rahmen der Zypernproblematik in die Diskussion ge-bracht, dass die Türkei zumindest indirekt die Republik Zypern, also den grie-chischen Südteil der Insel, anerkennen müsse. Dies ist von der EU zur Bedin-gung für den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei gemacht wor-den. Die Türkei hat dafür ihre Verträge mit der Zollunion der EU auf die zehn neuen Mitglieder und somit auch auf das geteilte Zypern ausdehnen müssen. Die Türkei bestand darauf, dass dies nicht als Anerkennung Süd-Zyperns ge-wertet werden dürfe.

Die Wiedervereinigung Zyperns wurde in einem Referendum von der grie-chisch-zypriotischen Bevölkerung abgelehnt, vom türkisch-zypriotischen Teil jedoch befürwortet. Die Türkische Bevölkerung sieht das ungelöste Problem Zyperns als Produkt einer Fehlbeurteilung durch die EU an. Diese hatte im Vor-feld einen Beitritt der ganzen Insel davon abhängig gemacht, dass beide Be-völkerungsgruppen einer Vereinigung zustimmten, andernfalls sollte nur der Südteil der Insel der EU beitreten können. Durch dieses Junktim aber bewirkte die EU das genaue Gegenteil dessen, was sie ursprünglich wollte, nämlich den Beitritt eines vereinigten Gesamtzyperns. Der türkische Nordteil, dessen Be-völkerung den Beitritt zur EU wollte, stimmte daraufhin zwar der Vereinigung zu, nicht aber der griechische Süden, dessen Beitritt ja ohnehin gesichert war. Dieses Thema hat zu ganz heftigen Kontroversen in der Türkei, sowohl im Par-lament als auch unter der türkischen Bevölkerung geführt.

Außerdem werden vor allem in Frankreich, aber nicht nur dort, weitere Forde-rungen an die Türkei gestellt, und zwar solle die Türkei die Ereignisse von 1915 als einen ‚Genozid an der armenische Bevölkerung‘ anerkennen und damit die Forderungen der Armenier akzeptieren sowie die Beziehungen zur Armenien normalisieren. Armenien ist jedoch der einzige Staat, der die mit der Sowjet-union vertraglich vereinbarten Ostgrenzen der Türkei nicht anerkennt und die von Ihm besetzten Gebiete von Aserbeijan nicht zurückgeben will.

Die oben zitierten Sonderbedingungen, die Zypern- und Armeneinfrage und weitere mögliche Konditionen, wie die ‚privilegierte Partnerschaft‘ der CDU sowie die andauernden Erhebungen über die ablehnende Haltung der Bevölke-rung in manchen EU-Staaten haben auch in der Türkei die Diskussion über die EU-Mitgliedschaft erneut stark belebt.

Eine stärker werdende intellektuelle Opposition votiert zunehmend gegen eine EU-Mitgliedschaft der Türkei, weil sie deren Ungleichbehandlung betont und die unaufrichtige Haltung der EU-Staaten anprangert. ‚Die EU will uns als gleichberechtigtes Mitglied nicht haben. Die Türkei darf nicht um Mitgliedschaft bitten und betteln‘ so diese Opposition.

Diese Auseinandersetzung blieb nicht ohne Einfluss auf die Haltung der Bevöl-kerung in dieser Frage. Votierten noch Ende 2004 rund zwei Drittel der Bevöl-kerung für einen EU-Bitritt, so sank diese Zustimmung nach jüngsten Umfra-gen vom Juni 2005 bis auf 55 Prozent.

In der EU herrschte die Auffassung, dass die Türkei den EU-Beitritt ‚um jeden Preis‘ anstrebt und daher auch diskriminierenden Bedingungen akzeptieren werde. Dadurch hatte die Türkei ihre Verhandlungsbasis von Beginn an sehr stark eingeengt und auch die sie ungleich behandelnden Auflagen weitestge-hend hinnehmen müssen.

Vielleicht hoffen die Gegner einer EU-Mitgliedschaft der Türkei hier und dort darauf, dass die Türkei wegen der neuen Forderungen von selbst auf ihre EU-Mitgliedschaft verzichtet.

Die Türkei ist für eine visionäre EU Chance und Bereicherung Die Europäische Union will neben den USA und der südostasiatischen Region, vor-nehmlich also Japan und China, eine der potentesten Wirtschaftszonen oder gar Wirtschaftsmächte der Welt werden. Eine EU, die ihre Handlungskompetenzen und Strategien allein auf die Ebene einer Wirtschaftsmacht einengt, bleibt in vielen oben genannten Entfaltungs- und Gestaltungsmöglichkeiten handlungsunfähig. Damit re-duziert sich diese große Wirtschaftskraft auf eine unbedeutende Nebenrolle im Ver-gleich zu der einzig verbliebenen unilateralen Großmacht USA. Welche Folgen eine solche Weltlage hat, erleben wir beim Vorgehen der USA im Irak im Besonderen und im Nahen Osten im Allgemeinen. Wie wenig die EU hierbei heute zur Lösung der Konflikte beitragen kann und zu welcher Bedeutungslosigkeit sie verkommen ist, ist gemessen an ihrer Wirtschaftskraft beinahe peinlich.

Wenn die EU diesen in der Tat inakzeptablen Zustand einer völlig einseitigen Macht-konstellation in der Welt nicht hinnehmen will, braucht sie, ja muss sie selbstbewusst neue Visionen haben. Die EU muss vor allem ihre politischen Handlungsmöglichkei-ten neu konzipieren, wenn sie nicht weiterhin ein politischer Zwerg sein und bleiben will.

‚Europa muss zu einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik finden, sonst bleibt die Gefahr der Spaltung, Lähmung und der Unfähigkeit bestehen, die sich auf dem Balkan und anlässlich des Irak-Krieges gezeigt hat. […] Europa kann und sollte eine Schlüsselrolle bei der Organisation multilateraler Lösungen für globale Fragen übernehmen‘ , so der Aufruf zahlreicher deutscher Wissenschaftler, Schriftsteller, Künstler und Politiker.

Gerade in dieser Hinsicht braucht die EU die Türkei als eine regionale Mittelmacht und geopolitische Brücke zwischen Europa und dem Nahen Osten. Die Bedeutung dieser Region ist nicht nur wegen der reichsten Erdöl- und Erdgasreserven unum-gänglich, sondern vor allem auch für die Sicherung des Friedens dort und weltweit. Dass die USA hierfür aus vielerlei Gründen ohne einen aktiven Beitrag der EU nicht im Stande ist, eine friedenschaffende und -sichernde Rolle zu übernehmen, erleben wir seit langem und ganz aktuell.

Globalpolitische Gestaltungsmöglichkeiten und Einflussnahmen wird Europa als ei-genständiger Machtfaktor vor allem in den Regionen des Nahen- und Mittleren Os-tens ohne die Türkei kaum haben können. Nur gemeinsam mit der Regionalmacht Türkei in ihrer geopolitisch sehr bedeutsamen Lage kann die EU – wenn überhaupt – ein gewichtiger Faktor bei der Lösung der Probleme werden. Es ist seit langem be-kannt, dass es bei den andauernden Konflikten im Nahen-Osten vor allem um Ein-flussnahme und Kontrolle über die bedeutendsten Energie-Ressourcen der Welt geht.

Nach Herbert Prantl ist ‚die Türkei das einzige Land der Region, das eine zuverläs-sige, am Westen orientierte Außenpolitik betreibt, es ist das einzige Land der Region mit einer laizistischen und demokratischen Staatsform. Es ist das Land, durch das Europas Öl fließt. Es ist das Land, dessen Auswanderer die größte Minderheit in Westeuropa bilden. Es ist das Land, in dem Dialog zwischen Christentum und Islam am aussichtsreichsten geführt werden kann‘ .

Gerade eine voll in die EU integrierte demokratisch und ökonomisch stabile Türkei würde auf die Menschen und Staaten vor allem im Nahen und Mittleren Osten, aber auch in anderen islamischen Staaten, als ein gelungenes Modell westlicher Prägung eine große positive Wirkung haben. Diese würde mittelfristig den Demokratisierungs-prozess und die Übernahme des parlamentarisch-demokratischen Systems in diesen Ländern befördern und zu mehr Stabilität, Sicherheit und wirtschaftlicher Prosperität führen, was auch der EU zu Gute käme.

Nach Meinung der Journalistin Nilgün Cerrahoğlu übt die Türkei bereits heute als demokratisches Vorbild im Nahen Osten einen wichtigen Einfluss aus. ‚Deswegen betrachte ich die Türkei als letzte Festung Europas‘ .

Die Türkei wird für viele der islamischen Länder ein erfolgreiches Modell darstellen und belegen, dass Islam und demokratischer und laizistischer Rechtsstaat einerseits und die universalen Menschenrechte und Werte andererseits durchaus zu vereinba-ren sind. Welche Bedeutung einer durchgreifenden Demokratisierung gerade den islamischen Ländern zukommt, müsste angesichts der Ereignisse seit dem 11. Sep-tember jedem politisch interessierten Menschen klar sein.

‚Es wäre eine weltpolitische Leistung der europäischen Union, wenn sie die Türkei einbindet. Es wäre der Brückenbau hin zum Nahen und Mittleren Osten, eine euro-islamische Brücke, eine zwischen Moderne und Tradition. Die Türkei wäre ein Transmissionsriemen für die Stabilisierung dieser Nachbarregion.‘ Cohn-Bendit bewertet die Bedeutung der Türkei ähnlich: ‚Europa ist nicht nur eine Veranstaltung nach innen. Europa funktioniert auch exemplarisch. Eine Integration der Türkei wäre ein Meilenstein auf dem schwierigen Weg der Säkularisierung des Islam. Das ist die Vision‘ , so der ehemalige Verteidigungsminister und außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU Bundestagsfraktion, Volker Rühe.

Wenn sich dieses Modell unter Einbeziehung der Bevölkerung auch auf andere isla-mische Länder übertragen ließe und damit zu mehr Stabilität, Frieden und zu einer besseren Befriedung der Bevölkerung beitrüge, wäre dies von unschätzbarer Bedeu-tung. Dies wäre auch der wichtigste Beitrag zur Bekämpfung von Terrorismus und Gewalt in dieser Region.

Ein weiteres wichtiges Moment einer zukünftigen EU-Mitgliedschaft der Türkei ist der, dass durch sie der Integrationsprozess der EU-Türken in die hiesigen Gesellschaften ganz entscheidend gefördert werden dürfte. Der Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei und die verbindliche Perspektive auf eine EU-Mitgliedschaft wird die Identifikation der Türken mit ihren neuen Heimatländern stärken. Bereits heute ver-stehen sich die Eurotürken als eine menschliche Brücke zwischen ihrem Herkunfts-land Türkei und dem neuen Heimatland in der EU.

Die EU braucht zukunftsorientierte Visionen. Hierfür bietet sich der EU mit einem Mitglied Türkei eine große, eine einmalige Chance. Und die Türkei braucht die EU, um ihren Kurs der Westorientierung unbeirrt weiter verfolgen zu können. Die EU darf die Türkei schon aus ureigenem Interesse weder den USA allein noch der islamisch-arabischen Welt überlassen.

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem neu erschienen Buch des Autors mit dem Titel: ‚Deutschland als neue Heimat – eine Bilanz der Integrati-onspolitik‘, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 296 Seiten, 24,90 €