In der Migrantenpolitik bleibt Deutschland eines der rückständigsten Länder.
Diese Tatsache fand erneut eine Bestätigung durch das Staatsangehörigkeitsgesetz, wel-ches im Mai 99 Gesetzeskraft erlangt hat.
Seit mehr als einem Jahrzehnt wurde in den Medien, in Parteien, Kirchen und Ge-werkschaften und nicht zuletzt auch in den Parlamenten über die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts gestritten. Eines der zentralen Ziele dieser Reform sollte es sein, den mittlerweile 7,3 Mio. Menschen, die zum Teil seit 20, 30 oder gar 40 Jahren unter uns leben, von denen viele in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft zu erleichtern. Diese Reform sollte zum einen für die rechtliche Gleichstellung, zum anderen aber auch im wohl-verstandenen Eigeninteresse Deutschlands für eine bessere Integration dieser Be-völkerungsgruppe in die deutsche Gesellschaft sorgen.
Manch bornierter Politiker in Deutschland will es offenbar aus kurzfristigem parteipoli-tischem Interesse heraus nicht begreifen, daß eine erfolgversprechende Integrationspolitik nicht möglich ist, bis keine gleichberechtigte Aufnahme der zum ‚Auslän-derdasein‘ herabgewürdigten Menschen erfolgt ist. Solange also die Menschen, die integriert werden sollen, immer noch nach den Regularien des ‚Gastrechts‘ juris-tisch gesehen außerhalb, vor der Tür der deutschen Gesellschaft leben müssen, wird und kann keine wirkliche Integration gelingen. Ohne politische Rechte, das zeigen gerade auch die Erfahrungen bei fast allen Wahlen der letzten Jahre, werden diese Millionen von politisch rechtlosen Inländern ohne deutschen Paß allzu oft als Sün-denböcke instrumentalisiert.
Das neue Staatsangehörigkeitsrecht bringt für die erste, zweite und für große Teile der dritten ‚Ausländergeneration‘ aus den Nicht-EU-Staaten, und das sind rund 75% der hier lebenden Menschen ohne deutschen Paß, keine Verbesserung, ja für große Teile sogar Verschlechterungen mit sich. Eine substantielle Verbesserung wä-re durch Verzicht auf die erzwungene Aufgabe der bisherigen Staatsbürgerschaft möglich gewesen, doch das neue Gesetz sieht dies nicht mehr vor.
Auch der Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft durch Geburt ist für sich betrach-tet ein wichtiger und richtiger Ansatz, bleibt aber durch die Befristung bis zum 23. Lebensjahr ein doch sehr halbherziger Schritt. Von dem groß angekündigten ‚Mo-dernisierungsprojekt der deutschen Gesellschaft‘, von dem Reformvorhaben der rot-grünen Koalitionsregierung, ist kaum etwas übrig geblieben.
Das neue Einbürgerungsrecht wird ab dem 1. Januar 2000 in kraft treten. Von die-sem Zeitpunkt an können Kinder bis zum 10. Lebensjahr rückwirkend einen Antrag auf Einbürgerung stellen. Nur für diese Personengruppe, das sind hochgerechnet maximal 800.000 bis 1 Mio. Menschen, bringt das Gesetz die Erleichterung, daß sie bis zum 23. Lebensjahr Doppelstaatler sein dürfen. Für die große Masse der Ein-wandererbevölkerung werden sich die Einbürgerungen rückläufig entwickeln, weil zumindest für die Einwanderer aus der Türkei die Möglichkeit wegfällt, nach dem Er-werb der deutschen Staatsbürgerschaft die türkische zurückzuerhalten.
Als Hauptbetroffene und Befürworter dieser Reform in ihrer ursprünglichen Fassung sind wir nun mit unserem Vertrauen in und unseren Erwartungen an diese Regierung bitter enttäuscht worden. Dies wird bleibende Spuren hinterlassen.
Die hauptsächlichen Verhinderer dieses für Deutschland und die hier lebenden Migranten so eminent wichtigen Reformprojekts sind jedoch unverkennbar die Uni-onsparteien und die FDP. Dies wird von der Einwandererbevölkerung und ihren Kin-dern sicherlich nicht vergessen werden. Die, die es blockiert haben, können stolz sein auf ihren Erfolg, Millionen von Menschen erneut für viele weitere Jahre zum Ausländerdasein verurteilt zu haben.
Deutschland hat im Vergleich zu seinen europäischen Nachbarn seine das Staatsbürgerschaftsrecht betreffende Rückständigkeit nicht überwinden kön-nen.
Unser Eintreten, unser Kampf für Bürgerrechte bleibt aktueller denn je und wird mit allen demokratischen Mitteln konsequent weitergehen. Wir geben unsere Hoffnung nicht auf, daß ein demokratischer Rechtsstaat inmitten Europas Millionen seiner Be-wohner nicht auf Dauer als Ausländer mit minderen Rechten leben lassen kann und darf. Diese Tatsache werden auch die Konservativen und die sogenannten Liberalen dieses Landes begreifen müssen. Man braucht kein Prophet zu sein, um vorauszu-sehen, daß die Schäden dieser kurzsichtigen und verantwortungslosen Politik unab-sehbar sein werden.
Gerade die Türkische Gemeinde und ihrer Gründervereine fordern seit Jahren (und ich persönlich seit rund zwei Jahrzehnten, wenn ich dies an dieser Stelle hinzufügen darf) eine grundlegende Reform des Staatsbürgerschaftsrechts. Wir haben rechtzei-tig erkannt, daß die Eingewanderten kulturellen Minderheiten nur mit dem Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit zu gleichen Rechten in Deutschland kommen kön-nen. Auch andere berechtigte Forderungen der Einwanderer und ihrer Nachkommen können erst dann bei den Parteien und Regierungen Gehör finden, wenn sie volle Bürgerrechte besitzen und somit auch über das Wahlrecht verfügen. Deshalb hat diese Reform für uns in den letzten zehn Jahren die höchste Priorität.
Die Unionsparteien haben mit ihrer Unterschriftenaktion gegen die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft anläßlich der Landtagswahl in Hessen im März 1999 Ängste und Vorurteile bei Teilen der deutschen Bevölkerung für ihre Zwecke mobili-siert. Dies schließt nahtlos an alte Wahlkampagnen an, in denen die Unionsparteien unterschwellig die nichtdeutsche Bevölkerung für zahlreiche Probleme wie Massen-arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und Kriminalität verantwortlich machten.
Damit wurde ein sehr komplexes Thema, wie es das Staatsangehörigkeitsrecht ist, auf eine emotionale Ebene gebracht, auf der griffige Slogans die Argumente ersetz-ten. Dies führte dann zu völlig haltlosen Äußerungen von führenden Unionspolitikern wie die geplante Reform des Staatsangehörigkeitsrechts führe zu massenhafter Zu-wanderung oder gefährde die innere Sicherheit Deutschlands mehr als seinerzeit der RAF-Terrorismus.
An dieser Stelle halte ich es für erforderlich, mich mit den sogenannten ‚Argumen-ten‘ der Unionsparteien im einzelnen auseinanderzusetzen.
1. Die Einbürgerung müsse, so die CDU/CSU, am Ende der Integration ste-hen und nicht am Anfang. Daher würde diese Reform die Integration ver-hindern.
Dafür aber, wann und nach welchen Kriterien die Menschen, die seit drei oder vier Jahrzehnten in Deutschland leben oder gar hier geboren und aufgewachsen sind, als ‚integrrationsreif‘ anzusehen seien, werden keine Kriterien genannt. Die Maßstäbe bleiben also unbekannt.
Die Erfahrungen, die in vielen anderen Ländern inzwischen gemacht wurden, bele-gen jedoch, daß die Einbürgerung als ein ganz entscheidendes Instrumentarium für die Integrationspolitik ist. Daher wird die Beibehaltung der bisherigen Staatsbürger-schaft von Belgien, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, Niederlanden, Irland, Schweden, Portugal, Schweiz, Spanien, Türkei sowie von den klassischen Einwanderungsländern USA, Kanada und Australien regelmäßig hinge-nommen. Nur Deutschland, Österreich und Luxemburg innerhalb der EU machen die erzwungene Aufgabe der bisherigen Staatsbürgerschaft zur Voraussetzung bei der Einbürgerung. Bei den Aussiedlern und Kindern der binationalen Ehen wird der Doppelpaß auch von Deutschland akzeptiert.
Wie soll eine Integration, also eine Angleichung, ein ‚Zusammenwachsen‘ der kultu-rellen Minderheiten mit der deutschen Bevölkerung möglich sein, so lange diese Minderheiten mit einem Sonderrecht, dem Ausländerrecht nämlich, abgesondert, ab-geschottet, rechtlich, sozial und politisch von der Gesellschaft diskriminiert leben muß. Wenn wir heute, vier Jahrzehnte nach der Anwerbung der ersten sogenannten ‚Gastarbeiter‘ immer noch Integrationsdefizite und Reibungsfelder, die es durchaus gibt, beklagen, so deshalb, weil die deutsche Politik es versäumt hat, diese Men-schen als einen fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft zu akzeptieren und zu behandelnç
Als Befürworter wird der Doppelpaß von uns nicht als Ziel, sonder als Mittel des Ziels der rechtlichen, politischen und sozialen Gleichstellung und somit der Integration angesehen.
Dieses Recht soll selbstverständlich auch den rund eine Millionen Deutschen zugute kommen, die im Ausland spanische, Italienische, griechische, us-amerikanische und türkische Staatsbürgerschaft erwerben wollen, aber zurecht auf die eigene Staatsan-gehörigkeit nicht verzichte wollen.
2. Man könne nicht zwei Ländern gegenüber loyal sein, deshalb müsse die Entscheidung eindeutig für die deutsche Staatsbürgerschaft fallen, wenn man sich einbürgern lassen wolle.
Loyalität ist eine Frage der gleichberechtigten Aufnahme in die Gesellschaft. Es ist eine Frage, ob man sich einer Gesellschaft zugehörig und in ihr Zuhause fühlen kann, sich als ein Teil des Ganzen betrachtet. Die bisherige Politik hat aber genau dieses versäumt. Bereits der Begriff ‚Ausländer‘ für Menschen, die seit 20, 30 und gar 40 Jahren hier leben, die sogar gebürtiger Hamburger, Berliner oder Hannovera-ner sind, ist diskriminierend und provokativ. Dies scheinen die Gegner der erleichter-ten Einbürgerung nicht begriffen zu haben.
Wahr ist aber auch, daß die Eingewanderten und ihre Kinder auch Wurzeln im Her-kunftsland haben. Die Sozialisation der ersten Generation fand vollständig dort statt. Diese prägt bis heute die eigene Identität nachhaltig. Auch die Eltern und Verwand-ten, zu denen sie in der Regel immer noch enge Kontakte pflegen, leben dort.
Die Staatsbürgerschaft ist nicht nur ein Stück Papier, sondern ein Teil der Identität.
Wurzeln in zwei Ländern zu haben ist eben für viele Menschen durch die Migration in die Nord und Westeuropäischen Staaten in unserer Zeit zu einer Realität geworden. Wem aber könnte dies schaden? Ich denke, eher das Gegenteil ist der Fall. Die Mi-granten könnten als eine Art menschlicher Brücke zwischen Deutschland und den Herkunftsländern dienen und dazu beitragen, die Beziehungen zwischen diesen Ländern nachhaltig zu verbessern.
3. Die deutsche Bevölkerung wolle die doppelte Staatsbürgerschaft mehrheit-lich nicht, sagen die Unionsparteien. Hierzu gebe es Erhebungen.
Ich bezweifele die Seriosität dieser Erhebungen. Es ist, das wissen wir alle bei einer Befragung sehr entscheidend für die Antwort, wie die Frage formuliert ist.
Im August/September 1994 führte INFAS eine repräsentative Befragung durch. Die damals gestellte Frage war nach meinem Dafürhalten korrekt formuliert, sie lautete: ‚Wie stehen Sie zum Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft von Türken, die lan-ge Jahre hier bei uns leben bzw. hier geboren wurden und weiter hier bleiben wol-len?‘
Hier ist der Sachverhalt neutral und richtig formuliert. Man konnte zwischen vier mög-lichen Antworten wählen: Sie sollten deutsche werden 28%
Sie sollten die doppelte Staatsbürgerschaft erwerben können 43%
Sie sollten Türken bleiben 24%
keine Angaben 5%
71 Prozent der Befragten sind also hier für die Verleihung der deutschen Staatsbür-gerschaft an Türken, darunter 43 % sogar für den Doppelpaß. Würde man heute mit der gleichen Fragestellung diese Erhebung wiederholen, würden wir möglicherweise eine noch eindeutigere Antwort erhalten.
Am 3. Dezember 1998 wurde bei einem regionalen Hamburger Fernsehsender, bei der Sendung ‚Schalthoff live‘ das Pro und Contra einer doppelten Staatsangehörig-keit diskutiert. Die Hörer wurden gebeten, sich per Telefon dafür oder dagegen aus-zusprechen.
Für eine doppelte Staatsangehörigkeit waren 52%
Dagegen 48%
Wir sehen, auch dieses Argument ist nicht ganz korrekt. Abgesehen davon, es ist die Aufgabe der verantwortlichen Politiker, bei der Bevölkerung für eine richtige Ent-scheidung zu werben.
4. Die doppelte Staatsbürgerschaft würde die innere Sicherheit Deutschlands gefährden, sagt die CDU/CSU.
Bekanntlich gibt es bei der Einbürgerung Kriterien, die als Voraussetzung zur erfüllen sind. Unter anderem die Straflosigkeit. Es wird gesetzlich festgelegt, die straffällig gewordenen und diejenigen, die für die innere Sicherheit nachweislich eine Gefahr darstellen, nicht einzubürgern.
5. Die doppelte Staatsbürgerschaft wäre verfassungswidrig.
Namhafte Verfassungsrechtler, darunter auch der konservative Jurist Prof. Heilbron-ner, sehen keinerlei verfassungsrechtliche Bedenken für den Doppelpaß.
Das Bundesverfassungsgericht hatte 1990 in seiner Entscheidung zum Kommunalen Wahlrecht für Ausländer abgelehnt und zugleich den Gesetzgeber aufgefordert, die Einbürgerung zu erleichtern, damit das Wahlrecht eingeführt werden könne.
6. Die doppelte Staatsbürgerschaft würde zur Masseneinwanderung führen
Art. 6 des Grundgesetzes garantiert Ehe und Familie den besonderen Schütz der staatlichen Ordnung. Dieses Recht gilt auch uneingeschränkt für die hier lebenden nichtdeutschen Ehen und Familien. Dementsprechend können heute die in Deutsch-land lebenden Ausländer ihre Kinder unter 16 Jahren und ihre Ehepartner auch nach geltendem Recht bereits zu sich holen, wenn sie ihren Lebensunterhalt garantieren und ausreichenden Wohnraum nachweisen können. Diese Voraussetzungen sind aber auch im Entwurf der Bundesregierung festgeschrieben. Insofern ist auch diese Befürchtung unbegründet.
Wir sehen, die Gegenargumente der Unionsparteien sind in keiner Weise überzeu-gend und sachgerecht.
Der wahre Grund für ihre ablehnende Haltung ist nach meiner Einschätzung ein an-derer. CDU und CSU haben in ihrer 16-jährigen Regierungszeit aufgrund ihrer re-striktiven Ausländerpolitik und wegen ihrer ablehnenden Haltung gegenüber allen berechtigten Forderungen der Einwandererbevölkerung bei diesen keinerlei Sympa-thie erwerben können. Zurecht befürchten sie daher, von den neuen Staatsbürgern kaum Stimmen bei Wahlen zu erhalten.
Nach dem ursprünglichen Gesetzentwurf der Koalitionsregierung hätten rund vier Millionen Einwanderer und ihre Kinder die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben und mit ihren Stimmen die Ergebnisse von Wahlen in Zukunft maß-geblich beeinflussen können. Diese Angst war es, die die Unionsparteien ve-ranlaßte, mit einer Reihe Hilfsargumenten ihre wahre Haltung zu verschleiern und eine unangemessen radikale Politik zu verfolgen.
Zugleich haben sie mit diesem Kurs versucht, Stimmen der rechtsradikalen Parteien bei den zahlreichen in diesem Jahr anstehenden Wahlen zu fangen. Dadurch entfer-nen sich die Unionsparteien aber noch weiter von der Einwandererbevölkerung, was dann auch mittel- und längerfristig negative Konsequenzen für CDU und CSU haben wird. Diese polarisierende Politik zu Lasten der kulturellen Minderheiten ist einer de-mokratischen Volkspartei wie der CDU nicht würdig. Diese kurzsichtige Politik wird, davon bin ich überzeugt, der CDU viel mehr Schaden bringen als erhofften Nutzen. Deshalb appelliere ich an die CDU, ihre Ausländerpolitik ernsthaft zu überdenken.
Prof. Dr. Hakkı Keskin Politikwissenschaftler, Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland.