Grundlagen einer zeitgemäßen Erziehungs- und Bildungspolitik

Hamburg ist längst eine multikulturelle Stadt geworden. Eine Weltstadt mit kultureller Vielfalt. Rund 260.000 Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft haben sich mit ihren unterschiedlichen Kulturen hier größtenteils dauerhaft niedergelassen.

Viele ihrer Kinder sind gebürtige Hamburger oder sind in Hamburg aufgewachsen, gehen hier zur Schule oder erlernen einen Beruf. Diese ethnisch-kulturellen Minderheiten – immerhin ca. 15% der Bevölkerung – prägen das Leben der Stadt überall: auf den Straßen, in den Verkehrsmitteln, Läden, Restaurants, Betrieben, Schulen und Kindertagesheimen.

Diese Entwicklung ist unumkehrbar. Sie ist nicht allein hamburg-spezifisch, alle Großstädte und Metropolen, seien es Paris, London, Brüssel, Amsterdam, Wien, Istanbul, Berlin oder Frankfurt, sie alle sind dauerhaft multikulturell geworden.

Diese multikulturelle Realität müssen die Bildungseinrichtungen als Herausforderung und Chance verstehen und, wie seit Jahren von zahlreichen namhaften Pädagoginnen und Pädagogen gefordert, die interkulturelle Erziehung im Vorschul-, Schul- und Hochschulbereich als Prämisse einer neuen Erziehungs- und Bildungspolitik akzeptieren.

Interkulturell bedeutet dabei:

  • voneinander lernen, Dialog, Austausch, Entgrenzung, Gegenseitigkeit, Erziehung zur Solidarität;
  • Anerkennung der Lebensformen, der Verschiedenheit des Verhaltens und der Werte der kulturellen Minderheiten, ihre Bedeutsamkeit und ihre Funktionsweisen.
  • Die interkulturelle Erziehung und Bildung sollte als Chance verstanden werden, in der angestrebten Erziehungs- und Bildungspolitik folgende Ziele zu ermöglichen:

  • bessere Verständigung zwischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen aus unterschiedlichen Kulturen,
  • Offenheit und Toleranz gegenüber dem Andersseienden,
  • Abbau von Vorurteilen, um eine vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit anderen Kulturen zu ermöglichen.
  • Das Hauptziel der interkulturellen Erziehung wird sein: Was kann ich von anderen Kulturen lernen, was können die Menschen aus anderen Kulturen von mir lernen?

Globale Ziele dieser Erziehungs- und Bildungspolitik müßten sein:

1. Die Weltoffenheit und weltweite Verständigung zwischen den Kindern und Jugendlichen unterschiedlicher Rasse, Herkunft, Religion, Muttersprache und elterlicher Tradition und Lebensweise.

2. Einbindung von Muttersprache, Kultur und Religion nichtdeutscher Kinder in den Unterricht als bereichernde Ressource nicht nur für sie selbst, sondern auch für deutsche Schülerinnen und Schüler.

3. Erziehung zum Engagement für Frieden, Gleichheit, Brüderlichkeit und Solidarität im eigenen Land und in der Welt.

4. Erziehung zum Eintreten für eine gerechte Welt und Weltwirtschaftsordnung, in der Benachteiligung und Ausbeutung anderer Länder keinen Platz findet, in der kein Mensch mehr verhungert und in der die Grundbedürfnisse aller Menschen gestillt werden.

5. Erziehung zur Bewahrung der Erde und des ganzen Planeten auch für die kommenden Jahrtausende für die Menschen und alle Lebewesen.

Diese Erziehung müßte bereits in den Kindergärten beginnen. Wie wir wissen, wirken die Vorurteile der Eltern und des Umfelds bereits recht früh auf die anfangs vorurteilsfreien Kinder. Deshalb sollte die interkulturelle Erziehung in den Vorschul- und Schuleinrichtungen bei den Elternabenden und Festen mit pädagogischen Mitteln auch die Eltern erfassen.

Das Zusammenleben mit anderen Kulturen kann man nur in einem langwierigen Prozeß lernen, mit dem man nicht früh genug beginnen kann. Das ‚Andere‘ zu bejahen ohne das ‚Eigene‘ zu mißbilligen, einen realistischen und relativierenden Blick für die kulturellen Unterschiede zu erwerben, das ist die Aufgabe, vor die der kulturelle Unterricht gestellt ist. Mit Hilfe des interkulturellen Lernens könnten die Menschen als Träger der Kultur den Schritt vom Nebeneinander zu einem Miteinander der Kulturen bei sich selbst erleben, um sich mit den Problemstellungen und Chancen dieses Wandels identifizieren zu können.

Die Lippenbekenntnisse vieler Politiker, sie wollten die ‚kulturelle Identität‘ der Einwanderer und ihrer Kinder bewahrt sehen, widersprechen der praktizierten Politik im Vorschul-, Schul- und Hochschulbereich. In vielen Kindertagesheimen und Schulen, in denen ein beachtlicher Teil der Kinder Einwandererkinder sind, kann von interkultureller Erziehung, Lernen und Lehren keine Rede sein. Die Lehrprogramme, Inhalte und Methoden zeigen vielmehr ein Bild, als seien diese Einrichtungen ausschließlich von deutschen Kindern besucht.

Zur Bewahrung der eigenen kulturellen Identität für ethnisch-kulturelle Minderheiten gehört selbstverständlich auch das Erlernen der Muttersprache im Rahmen des regulären Unterrichtsprogramms.

Die Kinder und Kindeskinder der ethnisch-kulturellen Minderheiten müssen die Möglichkeit haben, ihre Muttersprache als erste oder zweite Fremdsprache, also auch als Prüfungsfach zu wählen.

Die Kinder mit einer anderen Religion müssen die Möglichkeit haben, in der Schule parallel zu dem üblichen Religionsunterricht über ihre eigene Religion unterrichtet zu werden. Noch besser wäre es allerdings, wenn der Religionsunterricht im Sinne der interkulturellen Erziehung in einer Mischform die Grundzüge der Religionen aller Kinder behandeln würde. Bis heute berücksichtigt die Ausbildung der Lehrern/innen und Sozialpädagogen/innen – von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen – die unterschiedliche Lage kultureller Minderheiten nicht. Auch bei der Ausbildung von Erziehern/innen, Lehrern/innen und Sozialarbeitern/innen müßten die Lehrprogramme, Inhalte und Methoden der realen Situation gerecht werden.

Interkulturelle Bildung besagt etwas zunächst sehr Einfaches und Einleuchtendes, daß nämlich pädagogisches Denken und Handeln die Tatsache der Kulturenvielfalt nicht ignorieren darf, sondern sie bewußt in unterrichtliche, curriculare und bildungspolitische Entscheidungen einzubeziehen hat.

Begründet wird diese Forderung meist aus dem Zusammenhang von Bildung Gesellschaftsentwicklung. Die Berücksichtigung kultureller Vielfalt im Bildungsbereich ist zu interpretieren als Akzeptanz der gesellschaftlichen Gegebenheiten und als eine Befähigung der Jugend in einer Gesellschaft, deren Vielfalt eher zu- als abnimmt. Voraussetzungen einer interkulturellen Pädagogik sind neben einer entschiedenen Vermehrung der Schulsprachen auch eine Reihe curricularer Voraussetzungen, als da wären:

  • die Integration des muttersprachlichen Unterrichts der Minderheiten in das reguläre Curriculum und die Thematisierung von Sprachvielfalt überhaupt,
  • die Betonung kulturspezifischer Sichtweisen im Bereich des sozialwissenschaftlich historischen Lernens ebenso wie im Bereich des moralisch-religiösen Lernens und die Thematisierung humaner und demokratischer Lösungsmöglichkeiten der daraus entspringenden Konflikte
  • und das Erleben solcher Konflikte und ihrer Lösungen im Bereich des sozialen und ästhetischen Lernens.
  • Hinzu tritt als didaktische Voraussetzung die Nutzung von Mehrsprachigkeit im Unterricht, die Schaffung von Artikulationsmöglichkeiten für kulturspezifisches Wissen, die Schulung relativierenden Denkens, die Förderung von Wahrnehmungs- und Interaktionsfähigkeit.

Unsere bildungspolitischen Forderungen Es ist an der Zeit, der Minderbewertung wenn nicht gar Diskriminierung der türkischen Sprache an bundesdeutschen Bildungseinrichtungen ein Ende zu setzen. Türkisch wird weltweit von mehr als 300 Millionen Menschen gesprochen, darunter in sechs Staaten als Amtssprache. Türkisch ist auch nach deutsch die meistgesprochene Muttersprache in Deutschland. Es gibt zahlreiche deutsche Unternehmen, die in der Türkei tätig sind, und etwa 47.000 kleine und mittlere türkische Unternehmen in Deutschland. Die türkische Sprache ist deshalb nicht nur als Kommunikationssprache zwischen den türkischen Schülerinnen und Schülern nebst ihren Eltern mit den Verwandten in der Türkei von Bedeutung, sondern auch für die berufliche Zukunft dieser Kinder äußerst wichtig und von großem Nutzen. Deshalb fordern wir, das türkisch als eine der wählbaren Fremdsprachen in den Schulen angeboten wird.

Die Türkische Gemeinde in Deutschland, die Föderation Türkischer Elternvereine in Deutschland sowie die türkischen Lehrervereine haben sich in vielen Seminaren eingehend mit ihren bildungspolitischen Zielen auseinandergesetzt und die folgenden Forderungen formuliert:

1. Die gemeinsame Erziehung und Beschulung der Einwandererkinder mit deutschen Kindern, damit sie gleiche Bildungschancen und -möglichkeiten erhalten. Dazu gehört auch, daß alle notwendigen Maßnahmen ergriffen werden, damit diese Kinder gut Deutsch lernen können.

2. Damit die Kinder von Einwanderern ihre eigene Kultur erleben und ihre Persönlichkeit weiterentwickeln können, soll ihre Sprache und Kultur (mit einem interkulturellen Ansatz beginnend in den vorschulischen Einrichtungen) und ab der ersten Klasse der Grundschule als zusätzliches Regelfach (mit fünf Wochenstunden) überall dort, wo eine entsprechende Nachfrage besteht, mit den anderen Fächern koordiniert und gleichberechtigt angeboten werden, wobei den Eltern ein Abwahlrecht zustehen muß. Dieses Fach soll versetzungsrelevant sein und bis zum Ende der Schulausbildung – bei Bedarf auch als Abiturfach – angeboten werden.

3. Die Bücher und Lehrmaterialien, die im Sprachunterricht eingesetzt werden, sollen mit einem interkulturellen Ansatz vorbereitet werden. Sie sollen die multikulturellen Lebensbedingungen der hiesigen Gesellschaft berücksichtigen.

4. Lehrer/innen und Erzieher/innen, die diese Fächer unterrichten bzw. in vorschulischen Einrichtungen eingesetzt werden, sollen unter Berücksichtigung der kulturellen Herkunft und der multikulturellen Lebensbedingungen der Kinder und Jugendlichen fortgebildet werden.

5. Die Studenten/innen der Erziehungswissenschaften sollen während des Studiums mit der multikulturellen Wirklichkeit dieser Gesellschaft konfrontiert werden.

6. Länder und Kommunen sollen muttersprachliche Lehrer/innen und Erzieher/innen, die diese Fächer mit einem interkulturellen Ansatz erteilen, einstellen. Diese Lehrer/innen und Erzieher/innen, die sowohl die deutsche wie die jeweilige Sprache der Einwandererkinder gut beherrschen müssen, sollen gleichzeitig die Lebensverhältnisse der Kinder, die kulturellen und sozialen Entwicklungen der Familien aus der Nähe kennen und dies im Unterricht thematisieren können.

7. Bei der Entscheidung über die Überweisung von Schülern/innen in Schulen für Lernbehinderte (Sonderschulen) dürfen auf keinen Fall Tests durchgeführt werden. Statt dessen sollen die Kinder eine Zeitlang beobachtet werden, damit sichergestellt ist, daß die Kinder nicht allein aufgrund unzureichender Deutschkenntnisse auf diese Schulen überwiesen werden.

8. Auf Wunsch der Eltern soll Kindern im Rahmen der Schulgesetze der jeweiligen Bundesländer auch ‚Islamische religionskundliche Unterweisung‘ erteilt werden.

Der Hauptansatz einer interkulturellen Erziehung und Bildung ist das Erlernen der Muttersprache in allen möglichen Bildungseinrichtungen. Deshalb gehört es zu unse-ren Grundforderungen, daß Türkischunterricht als muttersprachlicher Unterricht und als prüfungsrelevante zweite oder dritte Fremdsprache eingestuft und organisiert wird. Unsere diesbezüglichen Forderungen sind:

1. Türkisch soll ab der ersten Klasse als Muttersprache neben der Schul- und Amts-sprache Deutsch in den Schulen obligatorisch gelernt werden, wenn aus einer Klassenstufe wenigstens zehn Kinder türkisch als Unterrichtsfach wählen (1. und 2. Klasse je 5 Wochenstunden, 3. und 4. Klasse je 3 Wochenstunden).

2. In der Beobachtungsstufe, also in den Klassen 5 und 6, soll der Religionsunter-richt als ‚Religions- und Kulturunterricht‘ in türkischer Sprache angeboten wer-den (je 3 Wochenstunden). Damit wird türkischen Kindern islamischen Glaubens unter der Obhut der Schulbehörde Religionsunterricht erteilt und zugleich die Möglichkeit eröffnet, den Unterricht in türkischer Sprache fortzusetzen. Damit wird dem Bedürfnis vieler türkischer Eltern Rechnung getragen, die ihren Kindern Grundkenntnisse über den Islam vermitteln wollen. Außerdem wird dieses Ange-bot möglicherweise dazu beitragen, den heute oft politisierenden Korankursen anderer Einrichtungen das Fundament ihrer Agitation zu entziehen.

3. In den Haupt- und Realschulen soll türkisch in den Klassen 7 bis 10 als mutter-sprachlicher Unterricht angeboten werden. Alternativ sollte der ‚Kulturunterricht‘ in türkischer Sprache erteilt werden.

4. In den Gymnasien und Gesamtschulen soll Türkisch ab Klasse 7 als 2. Fremd-sprache und auf der gymnasialen Oberstufe als abiturrelevantes Prüfungsfach wählbar sein.

5. In den Gymnasien und Gesamtschulen soll türkisch ab Klasse 9 als 3. Fremd-sprache und als Abitur- und Leistungsfach gewählt werden und in die Liste der sonstigen Fremdsprachen der Schulbehörde aufgenommen werden.

6. In den Gymnasien und Gesamtschulen soll türkisch ab Klasse 11 als 3. Fremd-sprache und als abiturrelevantes Leistungskursfach in verschiedenen Stadtteilen in den Nachmittagsstunden angeboten werden.

7. Auch in Fachoberschulen, höheren Handelsschulen und Handelsschulen sollte die türkische Sprache im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts angeboten werden.