Vorschläge und Forderungen der 'Türkischen Gemeinde in Deutsch-land' (TGD) sowie seiner zuständigen Fachverbände 'Föderation Türki-scher Elternvereine in Deutschland' (FÖTED), Bund Türkischer Akade-mikervereine in Deutschland (ATAK) und Bundesverband Türkischer Studierendenvereine (BTS).
Nach intensiven Beratungen und Diskussionen mit vielen Expertinnen und Experten in zahlreichen Seminaren haben wir unsere Vorschläge und Forderungen nebst Be-gründungen als ein bildungspolitisches Memorandum zur Förderung der Mutterspra-che und Kultur von Kindern türkischer Herkunftssprache in der Bevölkerung Deutsch-lands auf einem Seminar vom 16. bis 18. April 1999in Extertal verabschiedet. Diese Forderungen sind in einigen Bundesländern teilweise bereits gängige Praxis, in den meisten Bundesländern besteht jedoch weiterhin ein großer Nachholbedarf.
Unsere Landesorganisationen werden uns durch geeignete Aktivitäten und Initiativen dabei behilflich sein, diese Forderungen auch dort umzusetzen, wo sie noch nicht akzeptiert oder trotz bereits verabschiedeter Beschlüsse durch die Landesregierun-gen oder die Kultusministerkonferenz noch nicht umgesetzt worden sind.
Zu der Frage des Islamischen Religionsunterrichts werden wir in Kürze ein ei-genes Konzept vorlegen, deshalb wird dieses Thema hier nicht behandelt. Unsere Forderungen sind:
1. Die Kinder türkischer Herkunft sind Teil der deutschen Gesellschaft. Ihre Zukunft liegt in der Bundesrepublik. Deshalb ist es unabdingbar, daß sie mit gu-ter deutscher Sprachkompetenz in die Schule eintreten. Voraussetzung hierfür ist die frühzeitige Begegnung mit der Sprache und Kultur der Mehrheitsge-sellschaft, z.B. durch den Besuch von Kindertagesstätten.
2. Diese Kinder werden zugleich in türkischer und deutscher Sprache und Kultur sozialisiert. Deshalb ist für ihre kognitive und emotionelle Entwicklung auch die Förderung ihrer Muttersprache und Kultur unverzichtbar. Türkisch als Mut-tersprache ist erforderlich, damit die türkischen Kinder ihre Persönlichkeit und ih-re deutsch-türkische Identität und Kultur weiter entwickeln und festigen können. Türkisch ist auch als Kommunikationssprache mit den Eltern, Großeltern und den Verwandten in Deutschland und in der Türkei unverzichtbar. Der mutter-sprachliche Unterricht
• stellt Beziehungen zwischen zwei und mehr Sprachen her und erzieht zur Mehr-sprachigkeit;
• arbeitet themen- und inhaltsorientiert, bezieht unterschiedliche Fächer und Lernbe-reiche ein (Sprache, Literatur, Gesellschaftskunde);
• reflektiert lebendige Mehrsprachigkeit als eine Chance; • setzt interkulturelle Ziele, um junge Menschen auf ihr Leben in einer kulturell plura-listischen Gesellschaft vorzubereiten;
• praktiziert die Möglichkeit des Perspektivwechsels.
3. Türkisch ist nach Deutsch die in Deutschland am meisten verbreitete Mutter-sprache. Weltweit wird Türkisch von mehr als 300 Millionen Menschen gespro-chen. Neben der Türkei ist das Türkische in weiteren sechs Ländern Staatsspra-che bzw. Verkehrssprache.
Dieser Realität wird im deutschen Bildungssystem nicht die erforderliche Bedeu-tung beigemessen. Sie wird in Deutschland in keinem Bundesland als eine der wählbaren Fremdsprachen durchgängig angeboten. Dies stellt auch angesichts der Tatsache, daß mehr als eine halbe Millionen Kinder aus dem türkischen Sprachraum an deutschen Schulen unterrichtet werden, eine Diskriminierung türkischer Sprache und Kultur dar. Dabei kann Türkisch für das Ergreifen eines Berufes in einem der vielen tausend deutschen und türkischen Unternehmen in Deutschland und in der Türkei von großem Vorteil sein.
Deshalb fordern wir als bildungspolitische Neuerung, daß Türkisch sowohl als Muttersprache angeboten als auch als zweite, dritte und / oder vierte Fremdsprache nunmehr in den Fremdsprachenkanon aufgenommen wird, da der von türkischen Behörden angebotene Türkischunterricht in seiner bisheri-gen Form diesen Forderungen nicht entspricht.
4. Ab der ersten Klasse ist das Fach ‚Türkische Muttersprache und Kultur‘ neben der Schul- und Amtssprache Deutsch in den Schulen als abwählbares zeugnisrelevantes Regelfach anzubieten. Der Türkischunterricht ist in der ers-ten und zweiten Klasse mit fünf und in den folgenden Klassen mindestens mit drei Wochenstunden anzubieten. Grundvoraussetzung hierfür ist eine interkultu-relle Erziehung in den Vorschulen und Kindertagesstätten.
5. In den Hauptschulen soll Türkisch in den Klassen 7 bis 10 als muttersprach-licher Unterricht erteilt werden. Die erste Fremdsprache Englisch bleibt hiervon unberührt.
6. In den Real- und Gesamtschulen und den Gymnasien wird Türkisch ab der 7. Klasse als eine der als zweite Fremdsprache wählbaren Sprachen und ab der 9. und /oder der 11. Klasse als eine der als dritte bzw. vierte Fremdsprache wähl-baren Sprachen und somit als Leistungskurs und Prüfungs-/Abiturfach (für türki-sche Muttersprachler ihrem Sprachniveau entsprechend) angeboten.
7. Auch in Fachoberschulen, höheren Handelsschulen, Handelsschulen und Be-rufsschulen sollte Türkisch im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts angebo-ten werden.
8. Die Lehrkräfte, die das Fach ‚Türkische Muttersprache und Kultur‘ unterrich-ten, werden unter Berücksichtigung der kulturellen Besonderheiten und der mul-tikulturellen Lebensbedingungen der Kinder fortgebildet.
9. Für die Ausbildung des Lehrpersonals für den Türkischunterricht wird an den Universitäten das Studienfach ‚ Lehramt für Türkisch‘ eingerichtet. (Dem Beispiel der Gesamthochschule Essen, wo seit 1995/96 ‚Türkisch‘ als Fach für das Lehramt eingerichtet wurde, sollten andere Universitäten und Hochschulen folgen. Das Hauptziel dabei sollte es sein, den Bedarf an Lehrer/Innen für den Türkischunterricht grundsätzlich mit Hochschulabsolventen aus Deutschland zu decken.) Hierbei sollten Austauschprogramme zwischen den deutschen und tür-kischen Hochschulen durchgeführt werden.
Die Studierenden dieses Fachbereichs, aber auch die der Erziehungswissen-schaften im allgemeinen, sollten während des Studiums mit einem interkultu-rellen Ansatz ausgebildet und mit der multikulturellen Wirklichkeit vertraut ge-macht werden.
10. Die Bücher und die Lehrmaterialien, die im Fach ‚Türkische Muttersprache und Kultur‘ eingesetzt werden sollen, sind mit einem interkulturellen Ansatz sorgfältig aufzubereiten und damit den multikulturellen Lebensbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland Rechnung zu tragen.
11. Der muttersprachliche Unterricht muß aus der Ebene der Erlasse emanzipiert und als ein fester Bestandteil der interkulturellen Erziehung auf die Ebene einer Regelung durch Schulgesetze gehoben werden. Wohlgemerkt: vor allem im Interesse der bildungspolitischen Aufgaben Deutschlands und der deutschen Gesellschaft. ‚Deutschland ist unumkehrbar ein Einwanderungsland geworden‘, sagte der erste Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Heinz Kühn, bereits 1979 in seinem Memorandum zur Ausländerpolitik. Heute nach mehr als 40 Jah-ren Migration ist Deutschland unumkehrbar eine multikulturelle Gesellschaft ge-worden. Diese Realität verlangt es, endlich auch bildungspolitisch aus dieser Entwicklung Konsequenzen zu ziehen. Es ist hohe Zeit zu handeln!
Zusammengefaßt fordern wir, Türkisch als in den Stundenplan integriertes Re-gelfach einzuführen, und zwar
unter deutscher Schulaufsicht, als muttersprachlichen Unterricht,
mit fünf Wochenstunden,
auch als zweite, dritte oder vierte Fremdsprache,
mit Abwahlrecht durch die Eltern
versetzungsrelevant,
erteilt von durch deutsche Behörden eingestellte Lehrkräfte,
nach in Deutschland erarbeiteten Lehr- und Lernmaterialien,
nebst Einrichtung eines Lehramtes für Türkisch,
Begründung und Erläuterungen zu unseren Vorschlägen und Forderungen zu einer interkulturellen Erziehung als Konzept einer multikulturellen Gesellschaft: Die Bundesrepublik Deutschland ist längst eine multikulturelle Gesellschaft gewor-den. Mehr als 7,4 Mio. Menschen nichtdeutscher Herkunft haben sich mit ihren un-terschiedlichen Kulturen hier größtenteils dauerhaft niedergelassen. Viele ihrer Kin-der sind hier geboren oder aufgewachsen, gehen hier zur Schule oder erlernen einen Beruf. Diese ethnisch-kulturellen Minderheiten – immerhin ca. 9% der Bevölkerung – prägen das Leben überall: auf den Straßen, in den Verkehrsmitteln, Läden, Restau-rants, Betrieben, Schulen und Kindertagesheimen.
Diese Entwicklung ist unumkehrbar. Alle Großstädte und Metropolen Europas, seien es Paris, London, Brüssel, Amsterdam, Wien, Istanbul, Berlin oder Frankfurt, sie alle sind dauerhaft multikulturell geworden.
Diese multikulturelle Realität müssen die Bildungseinrichtungen als Herausforderung und Chance verstehen und, wie seit Jahren von zahlreichen namhaften Pädagoginnen und Pädagogen gefordert, die interkulturelle Erziehung im Vorschul-, Schul- und Hochschulbereich als Prämisse einer neuen Erziehungs- und Bildungspolitik akzeptieren.
Die Lippenbekenntnisse vieler Politiker, sie wollten die ‚kulturelle Identität‘ der Einwanderer und ihrer Kinder bewahrt sehen, widersprechen der praktizierten Politik im Vorschul-, Schul- und Hochschulbereich. In vielen Kindertagesheimen und Schulen, in denen ein beachtlicher Teil der Kinder Einwandererkinder sind, kann von interkultureller Erziehung, Lernen und Lehren keine Rede sein. Die Lehrprogramme, Inhalte und Methoden zeigen vielmehr nach 40 Jahren Migration noch immer ein Bild, als seien diese Einrichtungen ausschließlich von deutschen Kindern besucht. Zur Bewahrung der eigenen kulturellen Identität für ethnisch-kulturelle Minderheiten gehört selbstverständlich auch das Erlernen der Muttersprache im Rahmen des regulären Unterrichtsprogramms.
Interkulturelles Lernen muß als Arbeits- und Bildungsprinzip in die Konzepte und das Denken der Pädagogen/innen integriert werden.
Interkulturelles Lernen ist stets ein Lernen mit und aus Konflikten. Das interkulturelle Lernen ermöglicht Einblicke in die anderen Kulturen und gleichzeitig auch in die eigene Kultur. Das eigene ‚Ich‘ lernt der Mensch besser über Kommunikation mit anderen kennen. Mit Hilfe des interkulturellen Lernens könnten die Menschen als Träger der Kultur den Schritt vom Nebeneinander zu einem Miteinander der Kulturen bei sich selbst erleben, um sich mit den Problemstellungen und Chancen dieses Wandels identifizieren und auseinandersetzen zu können.
Interkulturelle Erziehung ist eine neue, ergänzende Betrachtung der allgemeinen Pädagogik, die die Überwindung der kulturellen Schranken als ihre Hauptaufgabe betrachtet. Ein Ziel dieses Ansatzes ist es, mit anderen Kulturen besser umgehen zu lernen und dadurch einen kooperativen Umgang mit diesen zu ermöglichen. Ein weiteres Ziel ist es, das Fremde verstehen, begreifen zu lernen, was auch zu einem besseren Verständnis der eigenen Kultur führt. Durch die Vermittlung von Wissen über fremde Kulturen sollen Dialogbereitschaft und Toleranzfähigkeit im Umgang mit diesen bei allen Beteiligten erweitert und verbessert werden.
Diese Erziehung müßte bereits in den Kindergärten beginnen. Bekanntlich wirken die Vorurteile der Eltern und des Umfelds bereits recht früh auf die anfangs vorurteilsfreien Kinder. Deshalb sollte die interkulturelle Erziehung in den Vorschul- und Schuleinrichtungen bei den Elternabenden und Festen mit pädagogischen Mitteln auch die Eltern erfassen.
Interkulturell bedeutet also:
• voneinander lernen, Dialog und Austausch im Sinne gegenseitigen Verstehens, Entgrenzung und Erziehung zur Solidarität;
• Umgang mit kulturellen Unterschieden, die Anerkennung der Lebensformen, der Verschiedenheit des Verhaltens und der Werte der kulturellen Minderheiten, ihre Bedeutsamkeit und ihre Funktionsweisen. Ziele der Interkulturellen Erziehung sind:
• soziales Lernen,
• bikulturelle Bildung, bessere Verständigung zwischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen aus unterschiedlichen Kulturen,
• Offenheit und Toleranz gegenüber dem Andersseienden,
• die Befähigung zu einer kritischen Prüfung und zum Abbau von Vorurteilen, um eine vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit anderen Kulturen zu erreichen,
• politische Bildung und antirassistische Erziehung. Voraussetzungen einer interkulturellen Pädagogik sind: Neben einer entschiedenen Vermehrung der Schulsprachen auch eine Reihe curricularer Regelungen:
• die Integration des muttersprachlichen Unterrichts der Minderheiten in das reguläre Curriculum und die Thematisierung von Sprachvielfalt überhaupt,
• die Betonung kulturspezifischer Sichtweisen im Bereich des sozialwissenschaftlich-historischen Lernens ebenso wie im Bereich des kulturell-religiösen Lernens und das Thematisieren humaner und demokratischer Lösungsmöglichkeiten der daraus entspringenden Konflikte.
Literaturhinweise:- Auenheimer, G., Einführung in die interkulturelle Erziehung, Darmstadt 1990; – Boos-Nünning, U. – Henscheid, R., Die schulische und berufliche Bildung von Schülern und Schülerinnen türkischer Herkunft. Gutachten für den Türkischen El-ternverein in Berlin-Brandenburg, Berlin 1999; – Keskin, H., Gleichstellung und Identitätsbewahrung für ethnisch-kulturelle Min-derheiten, in: ‚Standpunkt:Sozial‘, Hamburg April 1992; – Neumann, U., Interkulturelle Erziehung als Aufgabe der Schule, ebenda; – Özcan, E., Thesenpapier für die ‚Türkische Gemeinde in Deutschland‘, Berlin 1997; – Prengel, A., Pädagogik der Vielfalt, Opladen 1995; – Steinmüller, U. – Engin, H., Türkischunterricht an allgemeinbilden Schulen in der Bundesrepublik Deutschland. Gutachten für den Türkischen Elternverein in Berlin-Brandenburg, Berlin 1999; – Türmann, E., Muttersprachlicher Unterricht für die interkulturelle und mehrspra-chige Erziehung in der multikulturellen Gesellschaft, in: Muttersprachlicher Unter-richt, Essen 1996,S.22.