Rede Solingen-3Jahre danach

Rede von Prof. Dr. Hakkı Keskin auf der Trauerkund-gebung zur Gedenkveranstaltung 'Solingen - drei Jahre danach' in Essen am 29. Mai 1996

Sayýn Mevlüde Genç, liebe Herta Däubler Gmelin, sehr geehrter Herr Botschafter, sehr geehrter Herr Dr. Friedmann, sayýn Cumhur Aytulun, meine Damen und Herren!

Tief erschüttert, ja völlig fassungslos standen wir vor drei Jahren vor der verkohlten Ruine des Hauses von Familie Genç in Solingen.

Fünf enge Angehörige von Ihnen, Frau Genç, wurden damals Opfer einer barbarischen Tat.

Ende November 1992 wurden drei Türkinnen bei ei-nem Brandanschlag in Mölln ermordet.

Im März 1994 fielen sieben Menschen, darunter eine schwangere Türkin und ihre fünfjährige Tochter einem Brandanschlag in Stuttgart zum Opfer. Im Januar dieses Jahres starben 10 Asylbewerber in Lübeck ebenfalls infolge eines Brandanschlags. Der oder die Täter konnten bislang nicht ermittelt werden.

Laut Angaben des Bundeskriminalamtes wurden in den letzten zehn Jahren Tausende rassistisch moti-vierte Straftaten an völlig unschuldigen und unbetei-ligten Nichtdeutschen begangen. Dabei wurden mehr als 50 Menschen ermordet, hunderte erlitten Verlet-zungen mit bleibenden Schäden.

Nach jedem Anschlag artikulierten Parteien, Verbän-de und große Teile der Medien ihre Betroffenheit und Empörung. Hunderttausende haben mit ihrer Teil-nahme an Lichterketten in München, Hamburg, Berlin und in anderen Städten gegen diesen rassistischen Wahn demonstriert.

Die ganze Welt blickte nach Deutschland und fragte, was in diesem Lande los sei.

Vor allem die betroffenen türkischen wie auch andere nichtdeutsche Organisationen forderten immer wieder konkrete Maßnahmen des Staates, und zwar sowohl präventive Maßnahmen gegen Rassismus und Anti-semitismus als auch gesetzliche Vorkehrungen gegen gewalttätige Neonazis. Daher gehört ein Antidiskrimi-nierungsgesetz gerade auch in Deutschland, ein Ge-setz, das in all unseren Nachbarländern, aber auch in den USA, Kanada oder Australien eine Selbstver-ständlichkeit ist, seit über einem Jahrzehnt zu unse-ren zentralen Forderungen.

Doch was ist eigentlich nach den grausamen und menschenverachtenden Ereignissen von Rostock, Hoyerswerda, Mölln, Solingen, Stuttgart oder Lübeck seitens der Behörden, seitens der zuständigen Politi-ker unternommen worden? Welche konkreten Maß-nahmen wurden ergriffen, um derartige Schandtaten endlich zu verhindern oder doch zumindest um für ei-ne gewisse Abschreckung in den gewaltbereiten Kreisen zu sorgen?

Leider müssen wir feststellen: Es geschah rein gar nichts.

Was, so fragen wir uns, muß eigentlich noch gesche-hen, um die politisch Verantwortlichen aus ihrer Le-thargie zu erwecken?

Daß dies möglich ist, wenn das staatliche Interesse es erfordert, läßt sich an anderer Stelle zeigen. Nach Autobahnblockaden und Verletzungen von Polizeibe-amten durch PKK-Aktivisten bei Demonstrationen sah sich die Bundesregierung durchaus in der Lage, mit einer Verschärfung des Ausländergesetzes gegen die Gewalttäter vorzugehen. Daß Gewalt und Terror, mit welcher Begründung auch immer, nicht geduldet wer-den dürfen, wird von einer deutlichen Mehrheit in al-len Bevölkerungskreisen gebilligt und entspricht auch unserer Überzeugung. Doch wenn dieser Grundsatz für gewaltbereite Nichtdeutsche gilt, so muß er auch für gewaltbereite alte und neue Nazis gelten wie auch für die, die zu dieser Gewalt aufrufen oder sie recht-fertigen.

Dieser Gewalt muß ganz eindeutig mit härteren Stra-fen entgegengetreten werden. Es ist jedenfalls nach meinem und auch dem Rechtsverständnis vieler an-derer völlig inakzeptabel, wenn zwei Neonazis, die einen Angolaner bewußtlos schlagen, ihn dann auf Eisenbahnschienen legen und so ermorden, wenn diese Verbrecher mit zweijährigen Bewährungsstrafen davonkommen.

Die Verurteilung des 26-jährigen Täters zu 15 Jahren Haft für siebenfachen Mord wird von den Angehörigen zutiefst als zynisch empfunden, läßt sich doch leicht nachrechnen, daß der Richter gerade einmal zwei Jahre Haft pro Mord für angemessen hielt.

Selbstverständlich sind aber für mich die präventiven Maßnahmen die wichtigeren, deshalb frage ich:

  • Welche Konzepte haben die Regierenden, ha-ben die politischen Parteien für das Zusammen-leben der deutschen Bevölkerung mit den hier lebenden kulturellen Minderheiten?
  • Wie kann dieses Zusammenleben toleranter und verständnisvoller gestaltet werden?
  • Wurden für dieses Ziel in den Schulen neue er-ziehungs- und bildungspolitische Lehr und Un-terrichtsmaterialien erarbeitet, um insbesondere den Kindern und Heranwachsenden Ängste und Vorurteile zu nehmen und ihnen das friedliche Zusammenleben in einer multikulturellen Gesell-schaft als eine Chance, als Bereicherung zu vermitteln?
  • Wie lange noch meinen zahlreiche Politiker, die Forderung zahlreicher sachkundiger Pädagogen nach einer interkulturellen Erziehung und Bil-dung in Schulen und Kindergärten ignorieren zu dürfen?
  • Welche Maßnahmen wurden ergriffen, um der Benachteiligung der zweiten und dritten Einwan-derergeneration im Bildungs- Ausbildungs- und Arbeitsbereich konsequent entgegenzuwirken?
  • Wie lange kann es ohne Schaden für unsere Gesellschaft noch hingenommen werden, daß Kinder nichtdeutscher Eltern, die ihre Abschlüs-se an deutschen Schulen und Hochschulen er-worben haben, im öffentlichen Dienst aber auch in Banken und Versicherungen so hoffnungslos unterrepräsentiert sind?
  • Werden die sieben Millionen Menschen fremder Herkunft nunmehr als fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft angesehen und als gleichberechtigte Menschen behandelt oder will man sie dauerhaft durch Sondergesetze stigma-tisieren und von den normalen Bürgerrechten ausschließen?
  • Wie lange noch sollen die Angehörigen kulturel-ler Minderheiten in rechtlicher und gesell-schaftspolitischer Hinsicht diskriminiert, abge-sondert und abgeschottet werden?

Meine Damen und Herren, Mitte Mai kamen zwei ausländische Schüler in einem Stadtteil von Hamburg, der als sozialer Brennpunkt bekannt ist, bei einem Unfall ums Leben. Dies führte zu Unruhen unter den nichtdeutschen Jugendlichen. Eine extremistische türkische Gruppierung versuchte nun, dies für ihre eigenen politischen Zwecke zu Mißbrauchen. Ein solches, das möchte ich ganz un-mißverständlich zum Ausdruck bringen, wird so lange möglich sein, wie es uns nicht gelingt, diesen jungen Menschen das Gefühl zu vermitteln, daß man fair und angemessen mit ihnen umgeht. Sie reagieren so, wie sie es tun, weil sie nicht das Gefühl haben, daß diese Gesellschaft auch die ihre ist.

Es ist nunmehr an der Zeit, zu Handeln. Unser aller Ziel muß es sein:

  • Gleiche Rechte bei gleichen Pflichten für alle zu verwirklichen. Deshalb fordern wir seit fünfzehn Jahren eine erleichterte Einbürgerung ohne die erzwungene Aufgabe der bisherigen Staatsbür-gerschaft;
  • ein Gesamtpaket von Antidiskriminierungsmaß-nahmen zu entwickeln, um jede Art von Diskri-minierung und rassistisch motivierter Gewalt ganz entschieden entgegentreten zu können.

Die Schandtaten von Mölln und Solingen haben nicht nur unermeßliches Leid über die Angehörigen und Freunde der Ermordeten gebracht, sie haben der Bundesrepublik Deutschland auch politisch erheblich geschadet. Wenn es daher nicht gelingt, derartige Anschläge auf Dauer zu unterbinden, werden wir alle unter den Folgen zu leiden haben. Wirken wir also auf die Politiker ein, endlich alle notwendigen Schritte zu tun, die getan werden müssen. Die Vorschläge liegen auf dem Tisch. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sor-gen, daß sie verwirklicht werden.