Zwischen Integration und Selbstbehauptung

ZWISCHEN INTEGRATION UND SELBSTBEHAUPTUNG TÜRKEN SEIT 35 JAHREN 'GÄSTE' IN DEUTSCH-LAND?

Am 30. Oktober 1961, also vor rund 35 Jahren wurde der bi-lateraler Vertrag zur Anwerbung türkischer Arbeiter zwischen BRD und der Türkei unterzeichnet.

Deutschland brauchte, junge, gesunde, flexible, in allen not-wendigen Arbeitsbereichen einsetzbare Arbeitskräfte. Daher wurden mit einer Reihe von Staaten Verträge zur Anwerbung von Arbeitskräften abgeschlossen, und zwar

1955 mit Italien

1960 mit Spanien und Griechenland

1961 mit der Türkei

1963 mit Marokko

1964 mit Tunesien

1968 mit Jugoslawien.

Je nach Bedarf des deutschen Arbeitsmarktes wurden aus diesen Ländern Arbeiter bis zum Anwerbestop im September 1973 geholt oder ins Herkunftsland zurückgeschickt. Auch die Angeworbenen selbst empfanden ihren Aufenthalt in Deutschland zunächst als vorübergehend.

Den Arbeitern folgten nach vielen Jahren die Ehegatten und die Kinder. Mit dem Anwerbestop begann ein deutlicher Trend zum Daueraufenthalt.

  • Ausländische Arbeiter waren wegen der Struktur der deutschen Arbeitslosen (Gesundheit, Alter, Bereitschaft zur Teilzeitarbeit und Flexibilität) kaum ersetzbar,
  • Sie haben einen beachtlichen Beitrag zum raschen Auf-bau Deutschlands zu einer Wirtschaftsmacht, zu einem hohen Lebensstandard und damit zu den Vorausset-zungen eines Wohlfahrtsstaates geleistet.
  • Wegen der jüngeren Altersstruktur haben sie bis heute maßgeblich zur Finanzierung der Renten beigetragen.

Dank der Einwanderung hat sich Deutschland positiv verän-dert, es ist demographisch jünger, gesellschaftlich bunter und vielfältiger, kulturell reicher geworden.

Die Eingewanderten sind faktisch längst ein fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft geworden. Sie stehen aber recht-lich und politisch außerhalb der Gesellschaft und finden keine gleichberechtigte Aufnahme in ihr. Selbst wenn diese Men-schen also seit 20, 30 oder mehr Jahren in Deutschland le-ben, haben sie

  • rein rechtlich immer noch einen Ausländerstatus,
  • keine politischen Rechte, selbst das kommunale Wahl-recht wurde ihnen höchstrichterlich wieder abgespro-chen,
  • weiterhin Erschwernisse bei der Einbürgerung, vor allem ist hier die erzwungene Aufgabe der bisherigen Staats-bürgerschaft zu nennen.

Seit Jahren ist daher die Hinnahme einer doppelten Staats-bürgerschaft durch die Bundesregierung die Hauptforderung der Einwandererorganisationen, denn

  • die erzwungene Aufgabe der bisherigen Staatsbürger-schaft bei Annahme der Staatsbürgerschaft des neuen Heimatlandes gibt es europaweit nur noch in Deutsch-land, Österreich und Luxemburg,
  • die emotionalen Bindungen der ersten und zweiten Gene-ration sind ein Teil der Identität; eine Aufgabe dieser Identität sollte nicht erzwungen werden,
  • die deutsche Staatsbürgerschaft ist die Voraussetzung für rechtliche Gleichstellung und gleiche Behandlung, ohne die es eine Identifikation mit Deutschland nicht geben wird.

Bis heute blieb die nichtdeutsche Bevölkerung im Aufent-halts- wie im Arbeitsrecht sowie in politischer und sozialer Hinsicht nach wie vor staatspolitisch gewollter Diskriminie-rung ausgesetzt. Dies hat negative Folgen für das alltägliche Leben dieser Menschen, denn

  • von Arbeitslosigkeit und fehlenden Ausbildungsplätzen sind Türken doppel so hoch betroffen wie ihre deut-schen Nachbarn;
  • von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus ist die türkische Bevölkerung Deutschlands weit mehr betroffen als Ein-wanderer aus den meisten anderen Ländern.
  • Leider waren die vergangenen Jahren von unzähligen rassistisch motivierten Gewalttaten gegen die Einwanderer, vor allem aber gegen uns Türken, gekennzeichnet. Unvergeßlich, weil besonders grausam und barbarisch, werden für uns die Ereignisse von Mölln, Solingen, Rostock, Hoyerswerda und Lübeck bleiben. Seit Jahren werden konkrete Maßnahmen von den Regierungen gegen alle verlangt, die derartige Verbrechen begehen wie auch insbesondere gegen ihre geistigen Wegbereiter.

Die Verabschiedung eines Antidiskriminierungsgesetzes, ähnlich denen in vielen anderen Staaten, gehört zu unseren Grundforderungen, um mit Hilfe dieses Gesetzes der Diskriminierung und der rassistischen Gewalt entschiedener entgegentreten zu können.

Im Zuge der ersten Einwanderungswelle in den 60er Jahren kamen meist junge Männer mit einem unterdurchschnittlichen Bildungsniveau nach Deutschland. Seitdem hat sich jedoch die türkische Bevölkerungsstruktur stark verändert:

  • Aus reinen Arbeitsmigranten wurden Einwanderer. Die jungen Männer holten ihre Frauen nach Deutschland und gründeten Familien, so daß heute besonders in den großen Städten ein beachtlicher Teil der Schulkin-der aus der Türkei kommt.
  • Mittlerweile gibt es rund 17 000 Studierende türkischer Herkunft an deutschen Hochschulen,
  • in 55 Wirtschaftsbereichen sind über 40.000 türkische Selbständige in Deutschland tätig, bei denen 135.000 Personen beschäftigt sind. Diese erwirtschafteten ei-nen Jahresumsatz von ca. 31 Mrd. DM.
  • Der Rentenbeiträge der Türken betrugen 1994 über 2,5 Mrd. . DM, weiter zahlten sie rund 8,5 Mrd. DM an Lohn- und Einkommensteuer.
  • Der über den Solidaritätszuschlag von Türken geleistete Beitrag zur deutschen Einheit beträgt jährlich rund 500 Mio. DM.
  • Weit über 1000 türkische Ärzte und 4000 Lehrer, hunder-te von Wissenschaftlern sind in Deutschland beschäf-tigt.

Trotz der bestehenden Erschwernisse nimmt die Zahl derje-nigen, die die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben, zu:

  • 1991 3.529
  • 1992 7.377
  • 1993 12.915
  • 1994 19.390

1995 dürfte diese Zahl bereits über 25.000 liegen und in die-sem Jahr auf weit mehr als 40.000 ansteigen. Diese Entwick-lung ist zu begrüßen, aber bei einer Bevölkerungszahl von mehr als 2,3 Mio. Türken in Deutschland weiterhin viel zu ge-ring.

Die in 35 Jahren geschaffenen Realitäten können weder durch Ignoranz noch durch konsequentes Leugnen der Tat-sachen aus der Welt geschafft werden. Über 7 Mio. Men-schen, das sind 8,8% der Bevölkerung Deutschlands, sind inzwischen Einwanderer und ihre Nachkommen. Diese Men-schen werden dauerhaft in ihrer neuen Heimat Deutschland leben, mit ihrer unterschiedlichen Kultur und Religion. Es kann heute nur darum gehen, das gemeinsame Leben der deutschen Bevölkerung mit den kulturellen Minderheiten so zu gestalten, daß ein gleichberechtigtes, friedliches und gut-nachbarliches Zusammenleben auf Dauer gesichert wird.

Die von allen im Bundestag vertretenen politischen Parteien seit Jähren propagierte Integration der hier dauerhaft leben-den nichtdeutschen Bevölkerung ist aus den oben genannten Gründen auf der Strecke geblieben. Unter Integration verste-he ich nicht Assimilation, d.h. die völlige Aufgabe der eigenen kulturellen Identität, des eigenen ‚Ich‘. Für mich bedeutet Integration vielmehr die Angleichung, Gleichstellung und Gleichbehandlung in rechtlicher, sozialer, politischer und kul-tureller Hinsicht. also die gleichberechtigte Aufnahme in die deutsche Gesellschaft. Integration sollte nicht die Aufgabe der eigenen kulturellen Identität bedeuten.

Kulturelle Identität ist nicht etwas eingefrorenes, statisches, sondern vielmehr etwas dynamisches. Sie wird durch die Mehrheitskultur selbstverständlich weiter bereichert und wei-ter entwickelt.

Die Aufnahme von kulturellen Minderheiten in die deutsche Gesellschaft bietet eine Chance zu einer reicheren neuen Mischkultur. Die besseren Seiten beider Kulturen werden da-bei übernommen und weiterentwickelt. Integration ist ein zweiseitiger Prozeß. Beide Seiten, die Mehrheitsbevölkerung und die kulturellen Minderheiten, sollten tolerant, offen, dia-logwillig und -fähig sein. Sie sollten versuchen, Vorurteile ab-zubauen, im Austausch miteinander voneinander zu lernen.

Die Menschen aus unterschiedlichen Kulturen leben nicht nebeneinander, sondern miteinander, sie lernen sich kennen, sie tolerieren sich nicht nur, sie sind bereit, ihre Unterschied-lichkeiten zu akzeptieren, nämlich daß sie anders sind und seien dürfen.

Deshalb sprechen wir seit Jahren von einer interkulturellen Erziehung. Wir haben die Chance, unsere Kinder in Schul-klassen mit Kindern unterschiedlicher Herkunft und Kultur zu toleranten, dialogfähigen und vorurteilsfreien Menschen zu erziehen.

Deshalb sprechen wir auch seit Jahren von einer multikultu-rellen Gesellschaft in Deutschland. Unterschiedliche Kulturen sollten nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung ver-standen und betrachtet werden.

Heinz Kuhn, langjähriger Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und erster Ausländerbeauftagter der Bundesregie-rung, machte gerade für die Integration der zweiten Generati-on (die dritte hat es damals noch nicht gegeben) in seinem Memorandum vom September 1979 weitreichender Vor-schläge. Schon damals forderte er

  • Rechtliche Gleichstellung durch Einbürgerung ‚per Post-karte‘,
  • Schulische und berufliche Integration durch weitreichen-de Fördermaßnahmen.

Das Gefühl, nicht in diese Gesellschaft aufgenommen zu sein, vielmehr von ihr diskriminiert zu werden, führt als Reak-tion zu einer Ghettoisierung. Diese Absonderung und Ab-schottung führt dazu, daß sich die Minderheit von der Gesell-schaft des neuen Heimatlandes abwendet und sich allein zu den eigenen Wurzeln hingezogen fühlt, oft um den Preis ei-ner radikalen Orientierung.

Eine zukunftsorientierte Integrationspolitik muß auf drei Säu-len fußen:

1. Der rechtlichen, politisch en und sozialen Gleichstellung; hierfür ist die Doppelstaats bürgerschaft unerläßlich,

2. absoluter Gleichbehandlung; hierfür ist ein Antidiskri-minierungsgesetz unabdingbare Voraussetzung,

3. Einer interkulturellen Erziehung und Bildung in den Schulen und Hochschulen.

Prof. Dr. Hakkı Keskin Hochschullehrer, Bundesvorsitzender der Türkischen Ge-meinde in Deutschland, Abgeordneter der Hamburgischen Bürgerschaft für die SPD.