Weg mit dem Maulkorb!

taz, CIGDEM AKYOL

Mangelnde Integration hat nicht nur soziale Ursachen. Gerade bei den Türken liegen die Gründe Jahrzehnte zurück. Die Migranten müssen sich selbst aus der Außenseiterrolle befreien.

Die Integrationsstudie ist wie ein Keulenschlag, obwohl die Erkenntnisse nicht neu sind – und die Reaktionen wiederholen sich: ‚Türken mit veralteten Daten abgestempelt‘, titelte die Tageszeitung Hürriyet gestern. ‚Wenn Türken die am schlechtesten integrierte Gruppe sind, dann hat Berlin etwas falsch gemacht‘, kommentierte die Grünen-Politikerin Bilkay Öney gegenüber dem Boulevardblatt. Die Sabah fragte: ‚Wer ist schuld?‘

Die am Montag vorgestellte Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung ‚Ungenutzte Potenziale – Zur Lage der Integration in Deutschland‘ sorgt in der türkischen Gesellschaft für große Aufregung. Denn die Kernaussage wiegt schwer: Türken sind schlechter gebildet, häufiger arbeitslos und gehen seltener Mischehen ein als andere Migrantengruppen in Deutschland. 30 Prozent der Türken und Türkischstämmigen haben keinen Schulabschluss. Nur 14 Prozent machen das Abitur, nicht einmal halb so viele wie in der deutschen Bevölkerung und auch deutlich weniger als bei den anderen Zuwanderern. Dementsprechend schwach sind sie in den Arbeitsmarkt eingebunden und deshalb auch am schlechtesten in die Gesellschaft integriert.

‚Es ist falsch, Integration nach ethnischen Kriterien zu beurteilen‘, kritisierte der Bundestagsabgeordnete Hakki Keskin (Linke) die Untersuchung. Natürlich muss vor einem schlichten Zahlenvergleich ohne Beachtung der Ursachen gewarnt werden. Vergleiche zwischen den einzelnen Herkunftsgruppen sind sehr schwierig, weil die Ausgangsbedingungen immer unterschiedlich sind. Bei dieser Studie wurden die Türkischstämmigen mit EU-Ausländern und Aussiedlern verglichen, was zu einer Verzerrung des Ergebnisses führt.

Denn die Gastarbeiter aus der Türkei wurden in den Siebzigern aus den bildungsfernen Schichten hierher geholt, damit sie den Dreck wegmachen, den die Deutschen nicht anfassen wollten. Die Migranten brachten kaum Lerneifer aus ihrer Heimat mit, sondern Arbeitswillen und die Hoffnung, rasch nach Hause zu gehen. Sie waren billig, willig und wurden ausgebeutet. Die anfängliche Lethargie war also keine Lethargie aus Gleichgültigkeit, sondern aus lauter Hilflosigkeit.

Doch diese Starre gab auch die Marschroute für die kommenden Generationen vor, und heute sind viele Türken da gelandet, wo sie niemals hinkommen wollten: unter das gesellschaftlichen Vergrößerungsglas. Viele haben das Gefühl – zu Recht -, so willkommen zu sein wie eine Busladung Cholerakranker.

Deswegen ist es richtig, Integration nach ethnischen Kriterien zu beurteilen. Es ist streitbar, es ist immer noch ein Tabu, aber es ist nicht falsch. Wer sich aus Angst vor einem Tabubruch einen Maulkorb aufsetzt, kommt nicht vorwärts. Wer glaubt, dass Bildungsarmut stets soziale Ursachen und keine kulturellen hat, sieht sich durch das vietnamesische Beispiel widerlegt.

Keine andere Einwanderergruppe in Deutschland ist in der Schule erfolgreicher: Über 50 Prozent der Vietnamesen schaffen den Sprung aufs Gymnasium. Es sind damit mehr als unter den deutschen Jugendlichen. Auch die These, Migranten müssen selbst gut integriert sein, damit ihre Kinder im deutschen Bildungssystem zurechtkommen, trifft auf Vietnamesen nicht zu. Viele Ostasiaten, angeworben als Arbeitsmigranten in der DDR, erlebten nach der Wende den Absturz ins Abseits. Viele Vietnamesen hielten sich als Selbstständige mit Blumengeschäften oder Büdchen über Wasser. Ihren Kindern aber haben die Eltern eingeimpft, dass Bildung den Weg in die Gesellschaft bedeutet.

Deswegen haftet den Worten der Kritiker etwas seltsam Gestriges an. Denn einen Mangel an Erkenntnissen gibt es schon lange nicht mehr, sondern einen Mangel an Handlungen. Deswegen sollte die Studie als Anstoß zum Handeln verstanden werden – nicht nur für die Politik, vor allem für die Migranten. Die Schuld der Politik zuzuschieben ist einfach und nachvollziehbar. Der Rassismusvorwurf verliert irgendwann seine Wirksamkeit. Sich selbst aus der Außenseiterrolle zu befreien ist schwierig, aber wichtig.

Ein Ausländer, der wütend ist, ist für die Urdeutschen nicht hinnehmbar. Ein Migrant darf die Gesellschaft, in der er lebt, nicht anklagen, er muss dankbar sein, nett. Er muss sich anstrengen und unauffällig sein. Sonst ist er unangenehm und bereitet Angst. Wer aber die Sprache versteht, das System kennt, die Nörgler entwaffnet, der bietet weniger Angriffsfläche – der kann die Klischees der Integrationsdebatte Lügen strafen.

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