Der Türkei wird vorgehalten, sie sei kein europäisches Land. Außerdem wolle sie mit der verabschiedeten Verfassungsreform und den 'EU-Anpassungsge- setzen' lediglich die politischen Kriterien von Kopenhagen erfüllen, ohne diese tatsächlich auch inhaltlich umsetzen zu wollen.
Weiterhin wird behauptet, die EU sei eine auf der christlichen Religion und Kul-tur basierende Gemeinschaft. Die Türkei würde dem westlichen Wertesystem nicht entsprechen und als ein islamisches Land die auf christlicher Kultur ba-sierende Identität der EU gefährden. Nicht zuletzt sind auch Argumente zu hö-ren, die Türkei sei eine zu große finanzielle Belastung für die EU und ihr Beitritt ziehe darüber hinaus eine starke Zuwanderung türkischer Arbeitskräfte in den Arbeitsmarkt der EU nach sich.
In diesem Beitrag wollen wir uns mit diesen Argumenten gegen eine EU-Mitgliedschaft der Türkei an Hand von Fakten auseinandersetzen.
Die Wahlen in der Türkei – eine Chance für die politischen Erneuerung des Landes
Das türkische Volk hat in einer demokratischen und freien Wahl sich für eine politische Erneuerung und möglicherweise für Neubeginn entschieden. Alle fünf der bisher im Parlament vertretenen Parteien werden nicht mehr in der Na-tionalversammlung der Republik Türkei vertreten sein. Nach 20 Jahren wird erstmalig eine Partei ohne Koalition das Land regieren. Die Sozialdemokraten sind die alleinige Opposition im Parlament.
Neu ist auch, dass die altgediente Garde der Parteivorsitzenden, Ecevit, Çiller, Yılmaz und Bahçeli, vom Volk quasi gezwungen wurden, Ihre Parteifunktionen aufzugeben. Çiller und Yılmaz sind verantwortlich dafür, dass sich die konser-vative Mitte in mehr als zwei Parteien zersplitterte, die Korruption gedieh und ihre Parteien nun gänzlich aus dem Parlament herausgeworfen wurden. Ecevit ist für die Zersplitterung der sozialdemokratischen Wählerschaft, für seine ei-gene bittere Wahlniederlage und damit für sein trauriges politisches Ende ver-antwortlich. Alle Warnungen der Wähler, sich zu vereinen und als geschlosse-ne konservative bzw. sozialdemokratische Kraft zu präsentieren, haben diese Politiker ignoriert und damit eine große Protestwählerschaft in die Arme der Partei Erdoğans getrieben.
Die Entscheidung des Volkes ist eine neue Chance, mit neuen Personen und Koalitionen den Weg für eine Neuordnung der politischen Landschaft innerhalb und außerhalb des Parlaments freizumachen.
Die vor einem Jahr gegründete ‘Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung’ Er-doğans verdient trotz aller Skepsis und Zurückhaltung eine faire Chance, um zu zeigen, in wieweit sie ihre Versprechen wahr machen will und kann, nämlich
- die Türkei Aus der Wirtschaftskrise zu führen,
- soziale Gerechtigkeit für zu ermöglichen,
- die volle EU Mitgliedschaft des Landes als Ziel konsequent weiter zu befol-gen und dabei
- den verfassungsmäßigen Weg der Türkei als ein ‘demokratischer, sozialer und laizistischer Rechtsstaat’ unbeirrt weiter zu befolgen.
Der AKP-Vorsitzende Tayyip Erdoğan hat sich sofort nach Verkündung des Wahlergebnisses unmissverständlich für die konsequente Fortführung der Bemühungen um einen EU-Beitritt geäußert. Der Wahlerfolg und die eindeutige EU-Orientierung der AKP widerlegt das Argument, dass nur die Eliten der Tür-kei die EU-Mitgliedschaft favorisieren. Die AKP tritt deshalb uneingeschränkt für den EU-Beitritt der Türkei ein, weil die übergroße Mehrheit der türkischen Gesellschaft sich mit Europa verbunden fühlt. Wer sich wegen eines demokra-tischen Wahlerfolges der AKP gegen eine konkrete EU-Beitrittsperspektive der Türkei ausspricht, zeigt dem friedlichen Zusammenleben islamischer und west-licher Gesellschaften die rote Karte.
Von der Bundesregierung und den Repräsentanten der EU erwarten wir, dass sie in einem konstruktiven Dialog mit der neuen Regierung der Türkei eintritt und sie zu weiteren Reformen in Hinblick auf die volle EU-Mitgliedschaft ermu-tigt. Der überzeugendste Schritt der EU wäre hierbei, der Türkei auf dem Gipfel-treffen am 13. Dezember dieses Jahres ohne weitere Verzögerung, eine klare EU-Perspektive und ein Termin für den Beginn der Verhandlungen zu geben. Gerade jetzt sollte man die Integration der Türkei in die Gemeinschaft mit einer klaren Perspektive unterstützen.
Die Westorientierung der Türkei gehört zu ihren Gründungszielen
Bereits der staatliche Vorgänger der Republik Türkei, das Osmanische Reich, war ein europäischer Staat. Über Jahrhunderte hielt es den gesamten Balkanraum unter seiner Kontrolle und grenzte direkt an die mitteleuropäische Zentralmacht Österreich.
Seit der Konstituierung der Republik Türkei am 29. Oktober 1923 war es das erklärte Ziel ihres Gründers Mustafa Kemal Atatürk, ‘die Türkei auf das Entwicklungsniveau der zeitgenössischen Zivilisation’ anzuheben. Zu dieser Erkenntnis kam Atatürk auf-grund seiner fundierten und kritischen Analyse der Politik des Osmanischen Reiches. Der theokratisch-feudale osmanische Staat, in dem die klerikalen Kräfte großen Ein-fluss ausübten, verhinderte insbesondere ab dem 18. Jahrhundert die wissenschaftli-che und technologische Erneuerung und somit auch die wirtschaftliche Entwicklung und Modernisierung der Gesellschaft. Das reformierte, säkulare, auf Wissenschaft, Technologie und Modernisierung basierende und gerade deshalb wirtschaftlich ent-wickelte Westeuropa stellte für die junge Republik der Türkei die Grundorientierung als eine ‘zeitgenössisch entwickelte Zivilisation’ dar. Bereits in der Verfassung von 1924 wird der ‘Laizismus’, die Trennung von Staat und Religion, zum Grundelement des Staates erklärt, um somit den Missbrauch und die Instrumentalisierung der Reli-gion für parteipolitische Zwecke zu verhindern. In der Folgezeit haben die Parteien und Regierungen der Türkei, von Kemalisten, Konservativen bis zu den Sozialdemo-kraten an diesem Staatsziel ‘Westorientierung’ stets festgehalten.
Die Bedeutung dieses bereits vor rund 80 Jahren proklamierten Staatsziels wird um so deutlicher, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass diese Neuorientierung in einer damals streng islamischen Gesellschaft erfolgte. So steht auch in der heutigen Ver-fassung als unabänderlicher Grundsatz: ‘die Republik Türkei ist ein … demokrati-scher, laizistischer und sozialer Rechtsstaat’.
Die heutige entschlossene Haltung des Türkischen Volkes und der Regierungen der Türkei, die volle Mitgliedschaft in der EU zu erlangen, ist daher auch keine neue Ori-entierung, um aus dieser Mitgliedschaft zu profitieren. Sie ist vielmehr eine konse-quente politische Fortsetzung der seit Gründung der Republik Türkei verfolgten Poli-tik.
Diese Westorientierung soll anhand einiger Beispiele deutlich gemacht werden:
1. Die Türkei gehört seit rund 50 Jahren zur NATO und ist damit nicht nur militä-risch in das westliche Verteidigungssystem integriert. Die NATO ist nämlich nicht nur ein Militärbündnis, es dient vielmehr auch zur Verteidigung der west-lichen Wertegemeinschaft. Die Türkei hat sich als Mitglied der NATO stets als ein verlässlicher Partner dieses Bündnisses erwiesen, sei es als unmittelbarer Nachbar der ehemaligen Sowjetunion, sei es beim gemeinsamen Vorgehen gegen den Diktator Saddam Husseyin.
2. Bereits am 31. Juli 1959 hat sich die Türkei um Mitgliedschaft in der dama-ligen ‘Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft’ (EWG) beworben. Am 12. September 1963 wurde das ‘Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Republik Türkei’ in Ankara unterzeichnet, welches am 29.12.1964 im Amtsblatt Nr. 217 erschien. Dieser Vertrag sah ‘den Beitritt der Türkei zur Gemein-schaft’ vor. Am 23. November 1970 wurde zwischen der EWG und der Türkei ein Zusatzprotokoll unterzeichnet, welches die volle Mitgliedschaft der Türkei in der EWG in drei Phasen vorsah und die Detailfragen der Ü-bergangsphasen regelte. Am 1. Januar 1996 trat die Zollunion zwischen der EU (Europäische Union) und der Türkei in kraft. Für die türkische Be-völkerung stellt der Beitritt zur Zollunion den letzten Schritt vor der Voll-mitgliedschaft in der EU dar.
3. Die Türkei tritt als einziger Vertreter der islamischen Welt konsequent für das westlich-demokratische Wertesystem ein und präsentiert dies in der islami-schen Welt als ein gelungenes Modell. Innerhalb von mehr als 50 islamischen Staaten stellt die Türkei, was die Entwicklung der parlamentarische Demokratie, was Rechtsstaatlichkeit, Emanzipation und Gleichberechtigung der Frau und viele andere Bereiche anbelangt, unbestritten das mit Abstand am weitesten entwickelte Land dar.
Für mich ist Europa ein globales Modell einer offenen und multikulturellen Gesellschaft. Europa überwindet dadurch Kulturgrenzen. Die Türkei will als ein laizistischer Staat einem säkularen Europa beitreten. Die Türkei ist das einzige Land mit einer islamischen Mehrheitsbevölkerung, die sich das westliche Lebens- und Zivilisationsmodell zu eigen gemacht hat. Trotz der gegenwärtigen Defizite, die der Türkei vorgehalten werden, ist das westliche Wertesystem bereits unantastbar und unveränderlich als Staatsform in der Türkei verankert, und zwar in Form eines ‘demokrati-schen, laizistischen und sozialen Rechtsstaats’. Diese Werte finden bei einer großen Mehrheit der türkischen Bevölkerung Anerkennung und An-wendung.
Kein anderer EU-Kandidat unternimmt derartig so große Bemühungen wie die Türkei, die eigenen Kulturgrenzen zu überwinden und sich in das westliche Wertesystem als Teil Europas voll zu integrieren.
Die Gipfelentscheidung von Helsinki gab der Demokratisie-rung in der Türkei Auftrieb
Die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten haben am 9. Dezember 1999 in Helsinki die Türkei in die Liste der Beitrittskandidaten aufgenommen. Somit hat die EU trotz Bedenken mancher politischer Kreise in der EU und in den Mit-gliedsstaaten dieser Westorientierung der Türkei Rechnung getragen.
Mit dieser zukunftsträchtigen Entscheidung haben die EU-Repräsentanten bewie-sen, dass die Europäische Union auch ein islamisches Land als zukünftiges Mitglied aufnehmen will. Somit wurde all denjenigen eine Absage erteilt, welche die EU als einen Christenclub verstanden wissen wollten.
Die ‘Türkische Gemeinde in Deutschland’ hat diese Entscheidung von Helsinki be-grüßt und prophezeit, dass diese wichtige Entscheidung dem Demokratisierungspro-zess in der Türkei einen kräftigen Auftrieb geben und die rasche Umsetzung der ‘Kopenhagener Standards’ ermöglichen würde.
Die Kopenhagener Kriterien, die zur Voraussetzung für den Beginn der Beitrittsver-handlungen mit der Türkei gemacht wurden, gehören seit Jahren zu den zentralen Anliegen großer Teile der türkischen Bevölkerung, um nämlich mit ihrer Umsetzung die Demokratisierung zu Vervollständigen sowie die Behebung von Defiziten in Men-schenrechts- und Minderheitenfragen zu gewährleisten. Dazu gehören auch gut-nachbarliche Beziehungen zu Griechenland.
Zum Erstauen vieler hat die Türkei seit den Beschlüssen von Helsinki Beachtliches geleistet. Mit Änderungen von 32 Verfassungsartikeln wurden die Fundamente der weiteren Demokratisierung in der Türkei gelegt. Es folgten eine Reihe grundlegender Gesetzesänderungen, wie einem modernen Zivilrecht, mit dem die Gleichberechti-gung von Mann und Frau auf allen Ebenen der Gesellschaft gewährleistet wurde. Mit der Änderung der Gesetze über das Bankwesen wurde die Unabhängigkeit der Zent-ralbank der Türkei garantiert sowie den spekulativen Geschäften mancher Banken der Boden entzogen. Mit einem neuen Arbeits- und Sozialrecht wurden die Rechte der Arbeitnehmer den EU-Standards angeglichen.
Sehr umstritten waren vor allem die Änderungen der Verfassungsartikel, mit denen die Todesstrafe abgeschafft sowie das Erlernen anderer Muttersprachen neben dem Türkischen, insbesondere Kurdisch, sowie muttersprachliche Sendungen in Rund-funk und Fernsehen verfassungsrechtlich garantiert werden sollten. Unter dem Na-men ‘EU-Integrationsgesetze’ wurden Anfang August 2002 14 Gesetzesänderungen in Marathonsitzungen des Türkischen Parlaments nach heftigen Debatten mit großer Mehrheit beschlossen. Dieses Reformwerk wird als ein historischer Schritt gewertet: ‘Das Parlament in Ankara hat ein Reformpaket im besten EU-Format verabschiedet und stürzt die Europäer damit in tiefe Verlegenheit’, so ‘Die Zeit’ am 8.8.2002. ‘Auf-bruch in eine neue Zeit. Samstag war ein historischer Tag in der Türkei’, so die ‘Ta-geszeitung’ (5.8.2002). Und das Nachrichtenmagazin ‘Focus’: ‘Die Türkei unter dem greisen Ministerpräsident Ecevit hat geschafft, was mancher in Brüssel als ‘Revoluti-on’ empfindet (12.8.2002).
Damit hat die Türkei, was die politischen Kriterien von Kopenhagen betrifft, zur Über-raschung oder auch zur Bewunderung vieler ‘ihre Hausaufgaben erledigt’.
Die EU und ihre Kommission wird nun die Umsetzung des Reformpakets in der Tür-kei beobachten und darüber im Oktober 2002 einen Fortschrittsbericht veröffentli-chen. Ich bin davon überzeugt, dass die Türkei auch diese Prüfung der Umsetzung der verabschiedeten Gesetze bestehen wird.
Die Türkei wird dann mit Recht darauf bestehen, beim EU-Gipfel im Dezember in Kopenhagen ein Datum für den Beginn der Beitrittsverhandlungen genannt zu be-kommen.
In der Türkei haben Vertreter der nationalistischen und islamitischen Parteien, aber auch manche einflussreichen Intellektuellen aus unterschiedlichen politischen Schat-tierungen wiederholt große Zweifel geäußert, dass die EU der Türkei als einem isla-mischen Land überhaupt die volle Mitgliedschaft gewähren werde. Nach deren Auf-fassung selbst dann nicht, wenn alle Voraussetzungen der Kopenhagener Kriterien erfüllt wären. Die Vertreter dieser Auffassung stellten jedoch bei den Abstimmungen über das Reformwerk im türkischen Parlament mit einem Drittel der Stimmen ledig-lich eine Minderheit dar.
Eine Verzögerung der Festlegung eines Datums für den Beginn der Beitrittsverhand-lungen mit der Türkei beim EU-Gipfel im Dezember 2002 würde aber genau diesen Kräften einen großen Auftrieb geben – mit verheerenden Folgen für das Land, aber sicherlich auch für die EU. Diejenigen dagegen, die seit Jahren konsequent einen Pro-Europa-Kurs verfolgen, würden mit einer Verzögerung seitens der EU so ge-schwächt, dass sie kaum mehr überzeugend weiterhin ihren Kurs vertreten können.
Gerade auch deshalb braucht die Türkei nunmehr nach jahrzehntelangen Bemühun-gen um eine EU-Mitgliedschaft eine klare Perspektive. Sie hat sich diese verdient. Dieser Umstand wird von der Financial Times mit folgender Feststellung unterstri-chen: ‘Die EU ist eine Gemeinschaft, deren Zusammenhalt und Ansehen darauf be-ruht, Verträge und politische Zusagen einzuhalten. Nicht nur in der islamischen Welt wäre die Wirkung verheerend, wenn einer demokratisch und ökonomisch hinrei-chend soliden Türkei die Tür zur Vollmitgliedschaft verschlossen bliebe.’ (8.8.2002).
Wird die Türkei eine Belastung oder Bereicherung für die EU werden ?
Hauptkennzeichen dieses gerade beginnenden 21. Jahrhunderts ist die globale Sichtweise der Welt. ‘Globalisierung’ ist die neue Dimension dieser Weltbetrachtung. Ob bei Fragen der Wirtschaft und wirtschaftlichen Zusammenarbeit, bei der Siche-rung des Weltfriedens oder der Lösung regionaler Konflikte, bei der Bekämpfung des Terrorismus, beim Schutz von Natur und Umwalt zur Vorbeugung von Naturkatastro-phen, ob bei der Beseitigung, zumindest aber Verringerung der Ursachen der Flücht-lingsströme aus den unterentwickelten Regionen der Welt in die wohlhabenden Staa-ten oder auch bei der Bekämpfung der Weltwirtschaftskrise und der daraus entste-henden Arbeitslosigkeit sind globale Betrachtungen, Antworten und Lösungen unum-gänglich.
‘Welche Beiträge kann die Türkei im Falle der EU-Mitgliedschaft leisten?’ fragt der Botschafter der Türkei in Berlin, Osman Korutürk, in seinem Vortrag zu den Bezie-hungen zwischen EU und der Türkei. Er konstatiert, dass ‘die Beantwortung dieser Frage eng mit der Vision Europas von der eigenen Zukunft zusammenhängt. Dabei sollte sich die EU besonders die Frage stellen, ob sie in ihrem heutigen Aufbau und ihrer heutigen Zusammensetzung in der Lage ist, Europa in ein neues Jahrhundert voller neuer Herausforderungen, Risiken und Chancen zu führen. Es geht mir mit anderen Worten darum, ob die EU plant, weiterhin eine regionale Organisation zu blieben, die auf sich selbst konzentriert und deren Einflussbereich begrenzt ist, oder ob sie die Absicht hat, zu einem globalen Akteur, der bei der Gestaltung der Weltord-nung richtungsweisend ist, zu werden. (…) Der wirtschaftliche Wohlstand der europä-ischen Länder und die physische Sicherheit der Europäer wird durch die zunehmen-de Globalisierung auch durch Entwicklungen in nahen und fernen Regionen direkt beeinflusst. (…) Vor allem die geographische Lage der Türkei und ihre historischen Erfahrungen machen sie zu einem Land mit besonderen Qualifikationen. Die Türkei ist eine `Regionalmacht` im Zentrum Eurasiens, die geographisch jedoch gleichzeitig auch zum Balkan, dem Mittelmeer, dem Kaukasus, dem Schwarzen Meer und dem Nahen und Mittleren Osten gehört und zu diesen Regionen enge, historisch gewach-sene Bindungen hat. Darüber hinaus ist die Türkei durch ihre besonderen Verbin-dungen zu den zentralasiatischen Republiken zu einer wichtigen Kraft für deren Öff-nung geworden.’
Die EU darf sich daher im eigenen Interesse nicht auf eine aus christlichen west- und mitteleuropäischen Ländern bestehende Staatengemeinschaft reduzieren und ihren Handlungs- und Gestaltungsspielraum auf die bestehenden und zukünftigen Mit-gliedstaaten beschränken.
Manche einflussreichen Politiker in Deutschland, aber auch in anderen EU-Staaten vertreten die Auffassung, dass die Türkei als ein islamisches Land und mit geogra-phischen Grenzen zum Teil außerhalb Europas ‘außerhalb des christlich-europäischen Kulturkreises’ liege und daher nicht der EU angehören dürfe.
Die Vertreter dieser Meinung missachten ganz offensichtlich die oben erwähnten, teilweise bereits vor Jahrzehnten zwischen der EU und der Türkei unterzeichneten Verträge und Vereinbarungen, die einzuhalten sind.
Eins kommt hinzu: die Staaten der EU sind längst faktisch unumkehrbar multi-kulturell, multi-ethnisch, und multi-religiös geworden. In diesen Länder leben mehr als 13 Millionen Menschen islamischen Glaubens, von der Bevölkerungszahl entspricht dies der Größe einiger Staaten der EU. Hier leben heute mehr als 3,5 Millionen Men-schen aus der Türkei, allein in der Bundesrepublik Deutschland 2,5 Millionen. Die EU Mitgliedschaft der Türkei wird vor allem den Integrationsprozess dieser Menschen beschleunigen und ihre Identifikakation mit ihren neuen Heimatländern stärken. Be-reits heute verstehen sich die Eurotürken als eine menschliche Brücke zwischen ih-rem Herkunftsland Türkei und dem neuen Heimatland in der EU.
Die EU, ein Staatenbund aus zukünftigen 25 Staaten, darf und kann in einer Epoche der Globalisierung der Welt nicht allein auf Werte christlicher Religion und der darauf basierenden Kultur reduziert werden.
Die EU ist nicht eine Einrichtung für eine befristete Zeit. Kurzfristig können der EU durch die Mitgliedschaft der Türkei durchaus finanzielle Lasten entstehen. In einer zukunftgerichteten Analyse, welche Belastungen und Nutzen einer EU-Mitgliedschaft der Türkei gegenüberstellt, würden die Vorteile für die EU ganz eindeutig überwie-gen. Längerfristige wirtschaftliche, politische und sicherheitspolitische, soziale und kulturelle Interessen der EU sprechen eindeutig für die volle Integration gerade eines nicht christlichen Staates in die EU. Die Befürchtungen mancher EU-Staaten, dass die EU Mitgliedschaft eine große Zu-wanderung aus der Türkei in die EU mit sich brächte, wird höchstens für eine kurze Zeit zutreffen. Mittelfristig wäre nach der Verbesserung der ökonomisch-politischen Lage in der Türkei sogar mit großer Wahrscheinlichkeit eine beachtliche Rückwande-rung der in den EU-Staaten lebenden Türken in die Türkei zu erwarten. Dies haben wir auch bei den Einwanderern aus Italien, Spanien, Portugal und Griechenland nach ihrer EU-Mitgliedschaft erlebt.
Die Türkei ist von ihrer Fläche her eines der größten Länder Europas und mit nahezu 70 Millionen Einwohnern nach der Bundesrepublik Deutschland das bevölkerungs-reichste Land. Die Türkei ist kulturell eines der reichsten und vielfältigsten Länder der Erde. Dort stehen die Wiegen vieler Kulturen, darunter die der Hethiter, Seldschuk-ken und des osmanischen Reiches. Überdies beherbergt die Türkei auch zahlreiche bedeutende Hinterlassenschaften der Griechen und Römer. Sie hat eine junge, dy-namische und gut ausgebildete Bevölkerung. Trotz der Wirtschaftskrise der letzten Jahre nimmt sie den 22. Rang der wirtschaftlich stärksten Nationen der Welt ein. Das Wirtschaftswachstum der Türkei betrugt in den letzten 50 Jahren durchschnittlich 4 bis 5 Prozent. Die Türkei stellt eine geographische, ökonomische, und politische Brü-cke zu den türkischsprachigen Republiken Mittelasiens dar. Sie hat ihre traditionell guten Beziehungen zu diesen Ländern seit der Unabhängigkeit dieser Länder auch im wirtschaftlichen, politischen und militärischem Bereich weiter intensiviert, einer Region mit den größten Erdöl- und Erdgasreserven der Welt.
Gerade eine voll in die EU integrierte demokratisch und ökonomisch stabile Türkei würde auf die Menschen und Staaten vor allem im Nahen und Mittleren Osten, aber auch in anderen islamischen Staaten, als ein gelungenes Modell westlicher Prägung eine große positive Wirkung haben. Diese würde mittelfristig den Demokratisierungs-prozess und die Übernahme des parlamentarisch-demokratischen Systems in diesen Ländern befördern und zu mehr Stabilität, Sicherheit und wirtschaftlicher Prosperität führen, was auch der EU zu Gute käme.
Prof. Dr. Hakkı Keskin Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland
Zur Biographie Prof. Dr. Hakkı Keskin
Geboren 1943 in Maçka/TrabzonTürkei. Nach dem Abitur in Erzincan/Türkei Erlernen der deutschen Sprache nebst Erlangung der deutschen Hochschulreife 1965-1966 in Hamburg. Studium der Politikwissenschaften und Promotion in Politik- und Wirt-schaftswissenschaften an der Freien Universität Berlin zum Dr. rer. pol. in den Jah-ren 1967-1977. Studien über die Wirtschaftsentwicklung der Türkei und Planungsbe-rater im Stab der türkischen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit 1978-1980. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechts-pflege Berlin und Berater des Innensenators Peter Ulrich in Ausländerfragen 1980-1982. Seit September 1982 Professor für Politik und Migrationspolitik im Fachbe-reich Sozialpädagogik an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg. 1993-1997 als erster türkischer Abgeordneter in Deutschland im Landesparlament von Hamburg. Zahlreiche ehrenamtliche Tätigkeiten in Selbsthilfeorganisationen, seit Dezember 1995 Bundesvorsitzender der ‘Türkischen Gemeinde in Deutschland’ (www.tgd.de), ein Interessenverband der Türken mit über 200 Mitgliedsvereinen. Ei-ne Vielzahl von Veröffentlichungen vor allem über die Türkei und Migrationfragen (www.keskin.de).