Über die TGH

Rede von Professor Dr. Hakkı Keskin in Hamburg anlässlich des dreißigsten Jubiläums der Türkischen Gemeinde Hamburg (TGH).

Hamburg, 7. Juli 2016

Meine Damen und Herren, Liebe Freundinnen und Freunde,

Çok değerli TGH`lı Dostlarım, hepinizi dostça selamlıyorum.

Am 30. Gründungsjahr der Türkischen Gemeinde in Hamburg und Umgebung ist ein kurzer Rückblick angebracht.

Am Weihnachtsabend 1985, bei einer Geburtstagsfeier erfuhren wir, dass Ramazan Avcı, ein 26 Jahre alter junger Türke, seiner schweren Verletzungen in Folge eines Überfalls von Skinheads, im Krankenhaus gestorben ist. Wir waren stark erschüttert.

Dies war die Ermordung eines weiteren Türken binnen von sechs Monaten durch Neo-Nazis. Dies wollten wir nicht tatenlos hinnehmen. Wir gründeten ein Komitee, in dem verschiedene politische Richtungen Hamburger Türken vertreten waren.

Die Arbeit sollte von drei gewählten Sprechern dieser Aktion geleitet werden.

Wir haben eine Reihe Protestaktionen durchgeführt, die breite Zustimmung der Medien und auch der deutschen Bevölkerung erfuhren.

Wir haben in einer Trauerdemonstration zu Ehren von Ramazan Avci seinen Leichnam in Begleitung eines großen Autokonvois zum Hamburger Flughafen begleitet. Diese in der Bundesrepublik ungewöhnliche Form der Demonstration fand bei den Medien eine große Resonanz.

Am 7. Januar 1986 führten wir im Hamburger Rathaus eine Pressekonferenz durch. Wir hatten die Gründung einer Untersuchungskommission in der Bürgerschaft sowie eine breite öffentliche Diskussion über die Ursachen der Ausländerfeindlichkeit sowie über die erforderlichen Gegenmaßnamen gefordert.

Am 12. Januar 1986 fand dann eine der bis dahin größten Protestdemonstrationen der Hamburger Türken statt. An dieser Protestaktion nahmen rund 15.000 Menschen, Deutsche, Türken sowie andere Nichtdeutsche teil.

Ich hatte die Ehre, bei dieser Protestdemonstration gegen die Ermordung von Ramazan Avci eine Rede zu halten. Unter anderem habe ich gezielte Maßnahmen gegen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus gefordert.

In dieser Rede betonte ich: „Eine glaubwürdige und zukunftsorientierte Ausländerpolitik kann nicht mehr vom Verständnis ausgehen, wir, die Ausländer seien hier provisorisch. Sie muss vielmehr uns, die Einwanderer, als einen festen Bestandteil dieser Gesellschaft akzeptieren. Sie muss den Einwanderern die Wege zur Gleichstellung in allen Bereichen, und zwar zur praktizierten Gleichstellung, freimachen.

So wird es möglich sein, Freundschaft statt Feindschaft zu ernten. Nur so wird es möglich sein, Deutsche und nationale Minderheiten – trotz unterschiedlicher Kulturen und Religionen – solidarisch, gut nachbarschaftlich in der Bundesrepublik Deutschland zusammen leben zu lassen. Nur so wird es möglich sein, rassistischen und ausländerfeindlichen Tendenzen den Boden zu entziehen.“

Meine Rede wurde damals in der Wochenzeitung „Die Zeit“ in vollem Wortlaut veröffentlicht.

Die Resonanz in den Medien war groß.

Hamburger Türken wehren sich der Mordfall Avci drängt Rivalitäten in den Hintergrund“, so die Frankfurter Rundschau.

Ramazans tot weckt Willen zum Widerstand“, Kölner Stadtanzeiger.

15.000 bei Trauer-Demo in Hamburg, große Protestzüge für den ermordeten Ramazan Avci.“ Taz.

Wir waren der Überzeugung, dass Hamburger Türken, um ihre berechtigten Interessen wahrnehmen zu können, eine vereinte und starke Vertretung, eine Dach-Organisation brauchten. Nach langen Diskussionen haben wir in den konstituierenden Sitzungen am 28. Februar und 4. März 1986 die Gründung des „Bündnis Türkischer Einwanderer – Hamburg“ (TGB) beschlossen.

Diese pluralistisch orientierte Organisationsform war unter den Türken ein Novum. Diesem Beispiel folgten in anderen Bundesländern ähnliche Vereinsgründungen.

Schon der Name „Einwanderer“ war vor 30 Jahren, für uns ein Programm. Wir wollten, dass die Bundesrepublik Deutschland die längst vollzogene Realität akzeptiert und sich als Einwanderungsland versteht. Denn nur mit diesem neuen Verständnis hätte sie eine grundlegende neue Migrations- und Integrationspolitik einleiten können.

Die Bundesregierung hat dieser Realität leider erst 20 Jahre danach im Januar 2005 mit in Kraft getretenem neuem Zuwanderungsgesetz und nicht einmal mit voller Überzeugung entsprochen.

Am 5. Dezember 1995 gründeten wir gemeinsam mit anderen Landesverbänden hier in Hamburg in der Patriotischen Gesellschaft „Die Türkische Gemeinde in Deutschland“ (TGD). Maßgeblich mitgetragen vom „Bündnis Türkischer Einwanderer in Hamburg und Umgebung“ (TGB).

Die TGD, dessen Bundesvorsitzender ich 10 Jahre lang war, ist heute für die Bundesregierung, Parteien und Medien eine wichtige Adresse in Fragen Migration, Integration und in Anliegen von Deutschlandtürken.

Den Namen „Bündnis Türkischer Einwanderer in Hamburg und Umgebung“ haben wir der „Türkischen Gemeinde in Deutschland“ angepasst und diesen in „Türkische Gemeinde Hamburg und Umgebung“ (TGH) umbenannt.

Die Türkische Gemeinde in Hamburg ist die mit Abstand wichtigste Migrantenorganisation in Hamburg geworden. Mit ihrer soliden, beharrlichen und konsequenten Orientierung hat sie, davon bin ich überzeugt, das Umdenken in Migrations- und Integrationsfragen maßgeblich beeinflusst. Sie hat den Beweis geliefert, dass ein breites Bündnis, trotz unterschiedlicher politischer Ausrichtungen, für die Wahrnehmung und Durchsetzung gemeinsamer Interessen und Ziele der Deutschland-Türken möglich und notwendig ist.

Mit großer Genugtuung kann ich sagen, dass ich stolz darauf bin, Mitbegründer und mehr als 13 Jahre lang Vorsitzender dieser Organisation gewesen zu sein. Viele Freunde sind heute immer noch aktiv, mit denen ich 20 Jahre, bis ich nach Berlin als Bundestags Abgeordnete ging, eng und solidarisch zusammengearbeitet habe. Dafür danke ich allen, um wenige namentlich zu nennen, Ali Kurtuldu, Olgay Sadak, Gökten Küçük, Azmi Akgül, für diese engagierte ehrenamtliche Arbeit.

Wie hat sich Deutschland in diesen 30 Jahren, flüchtlings-, migrations- und integrationspolitisch entwickelt. Aus Zeitgründen werde ich mich in diesem Bereich auf wenige Bemerkungen beschränken.

Die NSU-Morde, die  Serie von Tötungsdelikten an Männern mit Migrationshintergrund, wurden in den Jahren 2000 bis 2006 in verschiedenen Großstädten Deutschlands aus rassistischen Motiven verübt. Türkische Zeitungen berichteten wiederholt über diese Mordfälle und verlangten darüber Aufklärung.

Bekanntlich waren die Opfer Kleinunternehmer, die alle am Arbeitsort hinrichtungsartig erschossen wurden. Acht von ihnen stammen aus der Türkei und einer aus Griechenland.

Nicht selten wurde gemutmaßt, dass diese Morde unter eigenen Landsleuten aus Rache- oder Rivalitätsgründen verübt wurden. An Täterschaft von Rassisten wurde überhaupt nicht gedacht.

Am 20.4.2007 hatte ich als Abgeordneter des Bundestages unter der Überschrift: “Ungeklärte Mordfälle unter Gewerbetreibenden türkischer bzw. griechischer Herkunft“, eine kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt.

Die Antwort der damaligen Bundesregierung auf meine ganz konkreten acht Fragen war höchst bezeichnend:
„Wegen der ungeklärten Mordfälle an Gewerbetreibenden türkischer bzw. griechischer Herkunft führen Staatsanwaltschaften in Bayern, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Hessen und Nordrhein-Westfallen Ermittlungsverfahren. Zu Ermittlungsverfahren nimmt die Bundesregierung nicht Stellung.“

Als ob es nicht auch die Aufgabe der zuständigen Bundesstellen und der Bundesregierung wäre, hierbei tätig zu sein. Auch hier hat man sich offensichtlich an Formalien gehalten. Wie fahrlässig diese Argumentation und diese Politik waren, ist jedem inzwischen klar geworden.

Hierbei habe ich eine verantwortungslose Politik und eine abwertende Haltung gegenüber den Opfern gespürt und beobachtet.

Bis zum Auffliegen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) im November 2011 hätten die Behörden solche illegalen Operationen von Rechtsterroristen nicht für möglich gehalten. „Das war ein Irrtum“, räumte der langjährige Verfassungsschutzchef Heinz Fromm ein”, erst im Februar 2016.

Die erste bekannte Tat ereignete sich am 9. September 2000, die letzte am 6. April 2006. Erst seit November 2011 werden die Verbrechen der rechtsextremen Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) zugeordnet.

Höchst skandalös war auch, dass der NSU-Mordprozess ohne Botschafter der Türkei und ohne türkische Presse begann, obwohl 8 von 10 Opfern türkischer Herkunft sind.
Dies dürfte weltweit ein einmaliger Vorgang sein. Platzmangel und Formalien werden als Begründung vorgeführt. Als ob zwei Plätze für die türkische Botschaft und drei Plätze für türkische Medien bei vielen Hunderten Plätzen, nicht möglich wären.

Nein, das ist nicht nur fehlende Sensibilität, sondern eine bewusste Ignoranz-, ja Ablehnungs- und Diskriminierungspolitik gegen Deutschlandtürken und gegen die Türkei, die in Teilen der Gesellschaft, Politik und Justiz seit Jahrzehnten zu beobachten ist.

Wenn so etwas Ähnliches in der Türkei gegen Deutsche passiert wäre: welche Reaktionen und massiven Proteste dann in Deutschland der Fall wären, können Sie sich vorstellen.

Meine Damen und Herren, Liebe Freundinnen und Freunde,

Der erster Verhandlungstag des NSU Prozesses war am 6. Mai 2013, also vor genau 30 Monaten. Was ist das Ergebnis, ich frage Sie, was kam heraus?

Die Hauptangeklagte Zschäpe stellt einen Befangenen Antrag gegen ihren Richter und will ihre Anwählte loswerden. Sie verhält sich wie eine Schauspielerin und will offensichtlich Zeit gewinnen. Wie lange noch soll das Gericht dieses Affentheater mitmachen?

Beate Zschäpe – Königin von Stadelheim” “Forsch und dominant soll sich Beate Zschäpe im Gefängnis verhalten – und dabei andere Frauen einschüchtern und manipulieren. Das berichtet nun eine Mitgefangene über die Hauptangeklagte im NSU-Verfahren.” Schreibt die Journalistin KARIN TRUSCHEIT am.12.05.2016.

Dieses Theaterspiel muss mit einem ordentlichen Prozess ein Ende finden, um mit rassistischem Motiv bestialisch getöteten Opfern und ihren massiv leidenden Angehörigen Gerechtigkeit zukommen zu lassen.

Mit großer Sorge und Empörung nehme ich die Berichte über rassistische und fremden- und ausländerfeindliche Anschläge und Angriffe gegen Flüchtlinge und Nichtdeutsche war.

Sie zündeln, sie werfen Steine und sie prügeln – es ist ein erschreckendes Ausmaß der Gewalt in Deutschland!

Die Täter: Organisierte Rechtsextreme, Neonazis und solche, die sich von deren dumpfen Hetzparolen anstecken lassen. Die Opfer: Flüchtlinge, die hier Schutz vor Gewalt, Hass und Krieg suchen!

Seit 2014 hat sich die Anzahl solcher Angriffe nahezu verdoppelt!

Laut Statistik wird jeden Tag ein Mensch durch rechte Gewalt verletzt: bis einschließlich September bereits 300 Personen.

Flüchtlingsunterkünfte wurden bis Mitte Dezember viermal so häufig angegriffen wie im Vorjahr – bis zum 14. Dezember 2014 in 850 Fällen. Für mindestens 763 Attacken waren rechtsmotivierte Täter verantwortlich (Behördenangaben).

Traurige Realität: Viele Flüchtlingsheime müssen durch die Polizei geschützt werden.” So die Bild Zeitung vom 4. Juli 2016.  

Aus den oben genannten Fehlern im Falle der NSU-Morde muss man lernen und konsequent handeln. Deutschland ist, davon bin ich überzeugt, in der Lage diesem beschämenden rassistischen Trend ein Ende zu bereiten. Notwendig ist Entschlossenheit und Umdenken in der Gesamtpolitik über Flüchtlinge, Migration und Integration.

Deutschland als ein gereifter demokratischer Rechtsstaat und als eine Gesellschaft mit kultureller Vielfalt braucht eine neue Kultur des Umgangs mit seinen kulturellen Minderheiten.

In zahlreichen Publikationen, in hunderten Vorträgen und Gesprächen mit Medien habe ich meine Vorschläge und Position zu den Themen Migration, Integration, Flüchtlingsfragen und Rassismus wiederholt dezidiert dargelegt (sehe: www.keskin.de).

Danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Hakkı Keskin