Die Eröffnungsrede des Bundesvorsitzenden der 'Türkischen Gemeinde in Deutschland', Prof. Dr. Hakkı Keskin, auf dem Symposium am 30. und 31. Mai 1996 in Berlin. Thema: 'Die Stellung der türkischen Bevölkerung Deutschlands nach 35 Jahren Migration - Bilanz und Perspektiven'.
Sehr geehrter Herr Staatssekretär Lintner Sehr geehrter Herr Generalkonsul sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, meine verehrten Damen und Herren von der Pres-se, liebe Freunde!
Vor 35 Jahren wurde der bilaterale Vertrag zwi-schen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei zur Anwerbung türkischer Arbeiter unter-zeichnet. Aus der Idee einer zeitlich beschränkten Beschäftigung ist für den größten Teil der Ange-worbenen von damals sowie der dann nachfolgen-den Familienangehörigen heute eine dauerhafte Niederlassung hier in Deutschland entstanden.
Eine vor kurzem von mir durchgeführte Erhebung unter älteren türkischen Arbeitnehmern machte die Diskrepanz zwischen den ursprünglichen Plänen und der realen Entwicklung sehr deutlich. 85% der Befragten, die heute alle älter als 50 Jahre sind, wollten zunächst lediglich 2 bis 4 Jahre in Deutsch-land arbeiten und dann in die Türkei zurückkehren. Nun haben viele von ihnen bereits das Rentenalter hier in Deutschland erreicht.
Auch die Unternehmer und schon gar nicht die Poli-tik waren anfänglich auf eine längerfristige Beschäf-tigung der angeworbenen Arbeiter eingerichtet. Nicht ohne Grund trat das Ausländergesetz erst 1996 in Kraft, als klar war, daß der Bedarf an aus-ländischen Arbeitnehmern ein nicht nur vorüberge-hender sein würde.
Die jungen, gesunden, arbeitswilligen und mobilen türkischen wie auch die anderen ausländischen Ar-beitnehmer haben einen beachtlichen Beitrag zum wirtschaftlichen Aufschwung und zum Wohlstand Deutschlands geleistet. Erst heute können wir er-messen, wie grundlegend insbesondere die günsti-ge Altersstruktur der nichtdeutschen Bevölkerung jahrzehntelang für die Sanierung der Rentenkassen war.
Bestand die türkische Bevölkerung anfangs noch fast ausschließlich aus Arbeitern, so ist ihre Zu-sammensetzung heute weitaus vielfältiger gewor-den. Auf diesen Punkt wird Prof. Þen sicherlich spä-ter in seinem Vortrag zu sprechen kommen.
Die Türken in Deutschland haben sich nicht zuletzt auch deshalb hier dauerhaft niedergelassen, weil ihnen selbst, besonders aber ihren Kindern und En-keln Deutschland mehr soziale und ökonomische Sicherheit bietet als die Türkei.
Gleichwohl müssen wir feststellen, daß die ‘Deutschland-Türken’ in vielen Lebensbereichen keineswegs den deutschen Nachbarn gleichgestellt sind und daher vielerorts Handlungsbedarf besteht.
1. Der aufenthaltsrechtliche Status der Deutsch-land-Türken ist unbefriedigend. Nach wie vor sind diese Menschen, und mögen sie auch bereits in der dritten Generation hier leben, rechtlich eben Ausländer mit minderen Rechten. Viele von ihnen besitzen immer noch keine Aufenthaltsberechti-gung, also nicht einmal ein gesichertes Bleibe-recht.
2. Bekanntlich haben die Türken als ‘Nicht-EU-Staatsbürger’ nicht einmal das kommunale Wahlrecht. Ohne den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft sind sie zu politischer Un-mündigkeit verurteilt. Ich persönlich habe mit 50 Jahren zum ersten Mal in meinem Leben wählen beziehungsweise gewählt werden dürfen.
3. Die türkische Bevölkerung Deutschlands ist pro-zentual am Höchsten von Arbeitslosigkeit betrof-fen.
4. Trotz mancher Verbesserungen in den letzten Jahren ist die schulische Situation türkischer Kin-der im Vergleich zu ihren deutschen Kameraden immer noch defizitär. Dementsprechend ist der Anteil türkischer Jugendlicher ohne einen Be-rufsschulabschluß und ohne Arbeit sehr hoch.
5. Die türkische Bevölkerung ist von ausländerfeind-lichen und rassistisch motivierten Diskriminierun-gen und Anschlägen am häufigsten betroffen.
Ziel dieses Symposiums ist es daher, jeweils nach einer analytischen Bewertung über konkrete Vor-schläge zu diskutieren und die Ergebnisse nach Möglichkeit im Austausch mit der Bundesregierung und den politischen Parteien als Lösungsansätze zu verwenden.
Die Türkische Gemeinde in Deutschland hat sich nach ihrer Konstituierung am 2. Dezember 1995 in Hamburg auf mehreren Tagungen eingehend mit ihrem Arbeitsprogramm und ihren gesellschaftspoli-tischen Zielvorstellungen befaßt und diese zur wei-teren Diskussion und zur Umsetzung in praktische politische Arbeit an seine Ausschüsse überwiesen.
Die rechtliche Gleichstellung und die Gleichbehand-lung von ‘Deutschland-Türken’ wie auch der übri-gen Einwandererbevölkerung bleibt für uns die zentrale Forderung. Deutschland ist, und dies un-terstreiche ich immer wieder, die Heimat unserer Kinder und damit auch unsere neue Heimat. Aus diesem Verständnis heraus ist es dann auch völlig inakzeptabel, in dieser Heimat unter einem Sonder-recht, dem sogenannten ‘Ausländerrecht’ zu le-ben, also mindere Rechte zu haben.
Für dieses Problem muß dringend eine Lösung ge-funden werden, birgt doch die Situation vieler türki-scher Jugendlicher ohnehin reichlich Sprengstoff. Es ist auch nicht damit getan zu sagen, die große Mehrheit der hier dauerhaft lebenden Türken könne doch die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben und damit auch alle Rechte. Diese Sicht ist nur dann zulässig, wenn vorher alle Hemmnisse für den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft aus dem Wege geräumt sind; und das Haupthindernis ist nun einmal die dafür als Voraussetzung erzwungene Aufgabe der bisherigen Staatsbürgerschaft.
Es kann auch nicht im wohlverstandenen Eigeninte-resse Deutschlands liegen, auf Dauer sieben Millio-nen Bürgern, das sind z.B. 25% der Frankfurter o-der 15% der Hamburger – um nur zwei Beispiele zu nennen – ihre politischen Rechte vorzuenthalten, weil sie durch ein weltweit einmaliges Verständnis der Staatszugehörigkeit zu Ausländern gemacht wurden.