Argumente der Befürworter des Präsidialsystems und die Tatsachen

Die „Ja“-Sager des Präsidialsystems, geführt von Staatspräsident Erdoğan und  Ministerpräsident Yildırım behaupten, dadurch „eine starke Türkei“, „Einstimmigkeit in der Führung“ und „Gewährung der Stabilität“ erreichen zu wollen. Und zwar durch ein Präsidialsystem, welches in keinem demokratischen Land existiert. Die Grundvoraussetzung einer Demokratie, die Gewaltenteilung, wird beseitigt; die Legislative, Exekutive und Judikative  wird in die Hand einer Person übertragen.

Seit ihrer Gründung hat die Große Nationalversammlung der Türkei (das Parlament) allein das Recht, die Gesetze anzunehmen oder abzulehnen, das Gesetz über den Jahres-Eta des Landes anzunehmen und darüber die Kontrolle zu haben. Diese fundamentalen Rechte werden dem Parlament genommen und dem Präsidenten gegeben.

Der Jahres-Etat  der Türkei für 2017 sieht beispielsweise Ausgaben in Höhe von 645,1 Milliarden und Einnahmen in Höhe von 598,3 Milliarden Türkische Lira (YTL) vor. Dieser Etat wird im Auftrag des Parlaments vom Rechnungshof kontrolliert. Im vorgesehenen Präsidialsystem jedoch wird dieses hohe Recht an den Staatspräsidenten abgegeben. Somit wird ein System geschaffen, welches keine Kontrolle vorsieht. Selbst die staatlichen Ausschreibungen, bei denen Korruptionen sehr oft vorkommen, werden dem Präsidenten übertragen.

DAS PRÄSIDIALSYTEM DER USA WIRD ALS BIESIPEL GENANNT

Die Führung der AKP führt das Präsidialsystem der USA in ihrer Argumentation als Beispiel vor. Hier ein Vergleich beider Systeme.

In den USA werden die Gesetze vom Kongress vorgelegt, nicht vom Präsidenten. Der Präsident kann dagegen von seinem Vetorecht Gebrauch machen, jedoch kann der Kongress das Veto des Präsidenten zurückweisen. Der Kongress hat das Recht den Etat und die Regierungsgeschäfte zu kontrollieren. Der Präsident wählt die Mitglieder seiner Regierung. Der Senat hat jedoch das Recht, seine Zustimmung den vorgeschlagenen einzelnen Ministern zu verweigern. Der Präsident ernennt die Mitglieder des höchsten Gerichtes (Supreme Court). Der Senat kann jedoch den Einzelnen seine Zustimmung verweigern. Der Supreme Court kontrolliert, ob die Regierung verfassungsgemäß arbeitet und ob die Gesetze des Kongresses verfassungskonform sind. Der Präsident hat kein Recht den Kongress aufzulösen.

Wie zu sehen ist, existiert in den USA ein starker und vom Präsidenten völlig unabhängiger, und die Entscheidungen des Präsidenten kontrollierender, im nötigen Falle sogar verhindernder Kongress. Der Präsident ist jedoch befugt, allein über Kriege zu entscheiden, die jedoch wie die Kriege in Vietnam, Afghanistan und Irak belegen, fatale Folgen für die USA hatten und noch haben.

Bei dem Referendum über die vorgelegte Verfassungsänderung, wird dem Parlament der Türkei das Recht entzogen, über Gesetze, über den Jahres-Etat, über die Bestätigung der Mitglieder der Regierung zu entscheiden und über ein Misstrauensvotum diese zum Rücktritt zu zwingen. Der Präsident erhält sogar das Recht, das Parlament aufzulösen und einen Krieg auszurufen. Nur mit Stimmen von 400 Abgeordneten (mit einer Zweidrittelmehrheit) können gegen den Präsidenten Ermittlungen eingeleitet werden. Selbst dies kann er jedoch mit Auflösung des Parlaments verhindern.

Der Präsident wird zugleich Vorsitzender seiner Partei und wird die einzelnen Kandidaten der Abgeordneten selber bestimmen. 12 der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichtes werden vom Präsidenten und 3 vom Parlament gewählt, in der auch seine Partei die Mehrheit hat. Auch das höchste Gericht der Türkei wird somit vom Präsidenten kontrolliert.

Diese unbegrenzte und völlig unkontrollierte Machtkonzentration in der Hand einer Person, bei dem Staatspräsidenten, kann ganz erhebliche Gefahren für die Türkei  mit sich bringen. Wie ist es möglich, dies nicht einzusehen und zu verstehen?

DIE BEHAUPTUNGEN DER „JA“-SAGER ZU DEM REFERENDUM UND DIE FAKTEN

Erdoğan regiert die Türkei als Ministerpräsident und als Staatspräsident, basierend auf der Mehrheit seiner Partei AKP, bereits seit 15 Jahren. Seine alleinige Herrschaftsweise und Entscheidungen wurden von seiner Partei in diesen 15 Jahren immer akzeptieret. Die Gesetzesinitiativen, Vorschläge und Kritiken seitens der Oppositionsparteien wurden von der AKP-Mehrheit im Parlament stets zurückgewiesen.

Aus diesen Gründen ist die Behauptung, die Türkei brauche „Einstimmigkeit in der Führung“ und „Gewährung der Stabilität“ völlig unbegründet und lächerlich. Um diese Behauptungen zu glauben, muss man fanatischer und unwissender Anhänger dieser Politik sein. Diese auf eine Partei und auf eine Person basierende Politik hat bislang „eine starke Türkei“ nicht realisieren können. Im Gegenteil, die Fehler dieser Politik führte das Land in mehrfacher Hinsicht in eine Sackgasse.

Das Land wurde in eine große Wirtschaftskrise geführt. Betrugen die Auslandsschulden der Türkei 2002  rund 130 Milliarden US$,  stiegen diese bis 2016 um 225 Prozent an und betrugen 421,4 Milliarden US$. Im gleichen Zeitraum nahmen die Schulden der Personen bei den Banken um das 64-fach  zu und erhöhten sich von 6,6 auf 426 Milliarden  Türkische Lira.  Die YTL  verlor im gleichen Zeitraum gegenüber US $ um 226 Prozent an Wert; sie fiel von 1,59 TL auf nur noch 3.60 TL. Die Zahl der Leiharbeiter stieg von 300 Tausend im Jahre 2002 auf 4 Millionen im Jahre 2016. Die offiziell angegebene Arbeitslosigkeit nahm zu und erreichte in diesem Jahr 12,7 Prozent.

Die Türkei wurde in den Sumpf des Syrischen Krieges hineingeführt. Mit allen Nachbarstaaten ist ein Bündel von Problemen entstanden. Dem außenpolitischen Ansehen des Landes  wurde großer Schaden  zugefügt.

Terroranschläge der PKK gingen 2002 auf null Prozent zurück. Mit dem sogenannten „Lösungsprozess“ nahmen sie massiv zu und führten zum Tode  von Tausenden von Menschen.  Dazu kam noch der Terror von IS und PYD aus Syrien. Mit der Terrororganisation der Gülen Bewegung arbeitete die AKP bis 2014 in allen Bereichen Hand in Hand und gerade in dieser Regierungszeit wurde geduldet, dass diese Terrororganisation in allen Ämtern und Bereichen des Staates aktiv tätig war.

In der 15-jährigen Regierungszeit der AKP hat sich in breiten Teilen der türkischen Bevölkerung und in der Weltöffentlichkeit der Eindruck verfestigt, dass die Türkei in vielen Bereichen in eine tief beunruhigende politische Lage abgeglitten ist: sozialer Frieden, Demokratie, Rechtstaatlichkeit, unabhängige Justiz, Presse- und Meinungsfreiheit und der Laizismus – als Zement des Landes-  ist ernsthaft gefährdet.

Das ist die reale Lage, die Erdoğan und seine Partei AKP nach 15 jähriger Amtszeit als „starke Türkei“ verantworten. Aus diesen Gründen sehe ich es als dringende, patriotische Aufgabe eines jeden Staatsbürgers, bei diesem Referendum mit NEIN zu stimmen.

 

Nazi-Vergleich Erdoğans

Die Absagen von Wahlkampfauftritten türkischer Minister in Deutschland, kann kritisiert werden. Dies jedoch mit Methoden aus der Nazi-Zeit zu vergleichen, ist unerhört und inakzeptabel. Staatspräsident Erdogan sollte erst einmal in der Türkei dafür sorgen, dass manche der „NEIN“-Befürworter des Referendums über das Präsidialsystem nicht schikaniert und die Vermietung der Veranstaltungsräume  an sie nicht mehr untersagt werden. Deutsch-türkische Beziehungen sollten innerparteilichen Erwartungen nicht geopfert werden.

 

Argumente der Befürworter des Präsidialsystems und die Tatsachen.pdf