BDV – Zusammenleben gestalten Rede Hakk

Als vor bald 40 Jahren die ersten Vereine von Türken in Deutschland gegründet wurden, hat man dort fast ausschließlich Fragen und Ereignisse diskutiert, die sich mit den politischen und kulturellen Ereignissen im Herkunftsland Türkei befassten.

Doch bereits vor mehr als 20 Jahren haben wir erkannt, dass sich die meisten Eingewan-derten in Deutschland niederlassen werden. Vor diesem Hintergrund war es klar, dass sich auch der Charakter der Vereinsarbeit dieser Entwicklung anzupassen hat-te.

Verfechter dieser Auffassung haben sich im Laufe der Jahre in den einzelnen Bun-desländern in pluralistischen Länderverbänden organisiert. Als ein Zusammen-schluss von Vereinen und Verbänden ganz unterschiedlicher politischer Auffassun-gen und Arbeitsschwerpunkten entstand dann vor rund vier Jahren die Türkische Gemeinde in Deutschland. Heute sind in ihr rund 200 Vereine, darunter die Bundes-fachverbände ‘Föderation Türkischer Elternvereine’, ‘Bund Türkischer Akademi-kervereine’, ‘Bundesverband Türkischer Studierendenvereine in Deutschland’ so-wie die Landesverbände organisiert.

Die Türkische Gemeinde in Deutschland versteht sich als eine parteipolitisch unab-hängige Interessenvertretung von Deutschlandtürken. Unsere Grundziele können wir in zwei Punkten zusammenfassen:

1. Die Bundesrepublik Deutschland ist die neue Heimat der ersten und zweiten Einwanderergeneration und die Heimat ihrer hier geborenen Kinder und Enkel. Wir wollen in allen Bereichen der Gesellschaft mit vollen Bürgerrechten als ein integrierter Bestandteil der deutschen Gesellschaft solidarisch in ihr leben und Gleichberechtigung erfahren.

2. Wir wollen zugleich unsere eigene kulturelle Identität bewahren wie auch durch Einflüsse der deutschen Kultur weiterentwickeln. Gleichzeitig wollen wir auch die deutsche Kultur mit neuen Elementen und Farben bereichern. In Übereinstimmung mit diesen Zielen findet unsere Bundesdelegiertenversammlung unter dem Motto:

‘Gleichberechtigung schaffen – das Zusammenleben gestalten’

statt. Unsere vor 20 Jahren getroffene Feststellung hat sich voll und ganz bewahrhei-tet: Lebten 1980 rund 4,5 Mio. Einwanderer in Deutschland, so sind es heute rund 7,3 Mio. Etwa 40% der Eingewanderten leben bereits länger als 20 Jahre hier.

Ein großer Teil der Migrantenkinder sind gebürtige Bundesrepblikaner. Fakt ist:

  • Die Migranten, ihre Kinder und Enkel sind ein fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft geworden, es hat eine dauerhafte Niderlassung und familiäre Ver-wurzelung in Deutschland stattgefunden.
  • Fakt ist auch, dass eine Gleichberechtigung ohne den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft nicht möglich ist.

Nach dem neuen Staatsbürgerschaftsrecht erhalten in Deutschland geborene Kinder von Nichtdeutschen automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft. Für Kinder bis zu 10 Jahren kann diese auch rückwirkend beantragt werden. Diese wichtige Neuerung begrüßen wir!

Wird das neue Staatsbürgerschaftsrecht aber auch den Weg zur rechtlichen Gleich-stellung für die mehr als 85% der 7,3 Millionen Einwanderer freimachen, die älter als 10 Jahre sind?

Deutschland hat europaweit unter den Ermessenseinbürgerungen neben Österreich und Luxemburg die niedrigsten Einbürgerungsquoten.

Der Grund hierfür ist uns allen bekannt, es ist die erzwungene Aufgabe der alten Staatsbürgerschaft. Aus diesem Grunde verzichten fast alle anderen westeuropäi-schen Staaten auf diese Voraussetzung bei der Einbürgerung. Und genau aus die-sem Grunde wollten Sie, Herr Bundesinnenminister, in ihrem ersten Entwurf zur Re-form des Staatsbürgerschaftsrecht die Tolerierung der doppelten Staatsbürgerschaft ermöglichen.

Dieses Vorhaben ist leider nach den Wahlen in Hessen fallen gelassen worden.

Heute herrscht in der Öffentlichkeit der Eindruck vor, nach Inkrafttreten des neuen Staatsbürgerschaftsrechts liege es nunmehr bei den Nichtdeutschen, sich einbürgern zu lassen. Wir brauchen keine Propheten zu sein, um zu wissen, dass die Unions-parteien die Nichtdeutschen verantwortlich dafür machen werden, wenn die Einbür-gerungen bei der ersten und zweiten Generation den Erwartungen nicht einmal an-nähernd gerecht werden. Die erste und zweite Einwanderergeneration wird, wie wir dies seit Jahren wissen, ihre bisherige Staatsbürgerschaft nicht aufgeben wollen, um die deutsche zu erwerben. Dafür haben sie eine Reihe von nachvollziehbaren Grün-den:

Die Staatsbürgerschaft ist ein Teil der Identität. Die Aufgabe dieser Identität kann nicht befohlen werden, weil sie in Folge eines langen Sozialisationsprozesses ent-standen ist.

Eine verantwortliche Politik darf sich nicht den Luxus leisten, einen wichtigen Teil der Wohnbevölkerung Deutschlands von Bürgerrechten und somit vom politischen Wil-lensbildungsprozess dauerhaft auszuschließen. Knapp ein Drittel der Wohnbevölke-rung von Frankfurt, ein Viertel von München und Stuttgart, ein Fünftel von Köln, Düs-seldorf und Ludwigshafen sowie ein Sechstel von Wiesbaden, Duisburg, Augsburg oder Hamburg darf seit Jahrzehnten nicht wählen und gewählt werden. Wie lange noch kann sich unser demokratischer Staat Deutschland diesen Zustand leisten?

Gleichberechtigung schaffen bedeutet nach meiner Auffassung, auch den sogenann-ten ‘Ausländern’ der ersten und zweiten Einwanderergeneration die rechtliche und politische Gleichstellung zu ermöglichen. Die Lösung dieser Frage liegt weiterhin in unmittelbarer Verantwortlichkeit der deutschen Politik.

Die Gestaltung des Zusammenlebens, und damit meine ich ein gleichberechtigtes, gut nachbarliches, ein solidarisches Zusammenleben, ein Leben nicht nebeneinan-der sondern miteinander, ist nicht nur mit Hilfe von Gesetzen allein zu regeln. Diese Art des Zusammenlebens bedarf eines neuen Klimas, eines besseren Verständnis-ses seitens der deutschen Politik und der Gesellschaft überhaupt.

In Deutschland haben sich – wie in fast allen Länder dieser Erde – Millionen Men-schen aus anderen Ethnien und Kulturen niedergelassen. Diese gesellschaftliche Vielfalt, diese Multikulturalität der deutschen Gesellschaft muss als faktisch vollzoge-ne und unumkehrbare dauerhafte Realität anerkannt und akzeptiert werden.

Die Gestaltung des Zusammenlebens und des Miteinanders muss ein neues Klima des gegenseitigen Verständnisses und eines rücksichtsvollen Umgangs miteinander schaffen.

  • Die Nichtdeutschen sollten mit eigenem Empfinden, mit eigener Überzeugung sagen dürfen, wir gehören zu diesem Lande, Deutschland ist unsere Heimat. Diese Regierung und diese Fußballnationalmannschaft sind auch unsere.
  • Die Nichtdeutschen sollten erleben, dass ihre Muttersprache, ihre Kultur und Religion in der Gesellschaft, in der Schule und in der Nachbarschaft nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung empfunden und gefördert wird.
  • In diesem neuen Klima sollten manche der politischen Parteien aufhören, die Nichtdeutschen für ihre Wahlzwecke zu instrumentalisieren und sie als Sün-denböcke für die Engpässe in der Gesellschaft verantwortlich zu machen, wie wir dies nicht zuletzt bei den Wahlen in Hessen haben erleben müssen.

Das Zusammenleben gestalten heißt aber auch:

  • Wir müssen für eine sozial friedliche, tolerante, vorurteilsfreie und dialogfähige Gesellschaft der Zukunft investieren. Die Kindertagesstädten, Schulen und Hochschulen könnten hierfür zu den wichtigsten Säulen in der Gesellschaft gemacht werden. Die Konzepte für eine interkulturelle Erziehung und Bildung liegen seit Jahren auf dem Tisch und werden in manchen Schulen auch an-satzweise angewendet. Die Bildungseinrichtungen sollten zu Orten des sozia-len Lernens, der besseren Verständigung, der Offenheit und Toleranz zwi-schen Kindern, Jugendlichen und auch Erwachsenen aus unterschiedlichen Kulturen entwickelt werden.
  • Intensivere Begegnung und Kommunikation zwischen der deutschen und der Einwandererbevölkerung muss gefördert werden. Auch die Türkische Ge-meinde müsste auf diesem Gebiet viel mehr tun, als es bislang geschehen ist.
  • Nur wenn wir unser ‘Anderssein’ nicht als Bedrohung, sondern vielmehr als Normalität, vielleicht sogar als Bereicherung empfinden, werden wir das Selbstbewusstsein entwickeln können, diese Herausforderung zu bestehen.
  • Und nur so werden wir mittel- und längerfristig Antisemitismus, Rassismus und Ausländerhass den Boden dauerhaft entziehen können.

Das Zusammenleben gestalten heißt auch:

  • Chancengleichheit in der Bildung, Ausbildung und im Berufsleben für die Kinder und Enkel der Einwanderer zu ermöglichen. Wir können eine Situation nicht ak-zeptieren, wenn beispielsweise nur jede/r 10. Schüler/in türkischer Herkunft in Hamburg die Hochschulreife erreicht, bei ihren deutschen Schulfreunden jedoch jede/r 3.

Beim Erlernen eines Berufs ist die Situation nicht anders:

Chancengleichheit darf nicht nur bedeuten, dass formell jedes Kind den ungehinder-ten Zugang zu jeder Schul-, Ausbildungs- und Berufsart hat, sondern auch, dass den Kindern, die aus vielerlei Gründen schlechtere Startchancen hatten als andere, durch Fördermaßnahmen geholfen wird, um eine tatsächliche Chancengleichheit herzustel-len.

  • Die Türkische Gemeinde hat vor einigen Monaten eine bundesweite Kampagne be-gonnen, um die türkischen Eltern zu informieren und zu motivieren, ihre Kinder spätestens nach dem dritten Lebensjahr in Kindertagesstätten zu schicken, damit sie mit guten Deutschkenntnissen in die Schule kommen.
  • Wir sind noch weit davon entfernt, von Chancengleichheit im Berufsleben spre-chen zu dürfen. Vor allem im öffentlichen Dienste müssen wesentlich mehr Kinder von Einwanderern beschäftigt werden. Besonders dort, aber auch im privaten Dienstleistungsbereich sind die Nichtdeutschen im Vergleich zu ihrem Bevölkerungsanteil weiterhin stark unterrepräsentiert. Hier können wir noch viel von unseren Nachbarländern wie den Niederlanden oder Großbritannien lernen, wo mit gutem Erfolg versucht wird, durch sogenannte ‘positive Aktio-nen’, dort ‘positive Diskriminierung’ genannt, also mit gezielter Förderung der Benachteiligten zu mehr Chancengleichheit zu gelangen.

Und zuletzt heißt für uns ‘das Zusammenleben gestalten’ selbstverständlich auch:

  • dass wir selbst zu den Mitgestaltern gehören. Wir können eine Vorge-hensweise nicht akzeptieren, wo wir nur als Objekte des Wollens und Handelns von Politikern betrachtet und behandelt werden.
  • Das Zusammenleben müssen wir zusammen gestalten. Als die direkt betroffe-nen befassen wir uns naturgemäß viel intensiver mit den Fragen, die eben dieses Zusammenleben und somit auch uns betreffen. Zu den hier genannten aber auch anderen Fragen und Problemstellungen, über die ich aus Zeitgrün-den nichts habe sagen können, haben wir vielerlei Konzeptionen erarbeitet.
  • Wir wollen in diesem auch unserem demokratischen Staat als Gesprächspartner mit unseren Organisationen ernst genommen und gerade auch in unserer Arbeit im Interesse dieses Landes unterstützt werden.

Für ihre Aufmerksamkeit danke ich ihnen.

Prof. Dr. Hakkı Keskin Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland

Sperrfrist: 22.1.2000 – 11.00 Uhr