Yekta Güngör ÖZDEN Verfassungsgerichtsvorsitzender a.D.
Übersetzt aus dem Türkischen von Dursun ATILGAN
Wie könnte man dieses Bild nicht bedauern? Die -angeblich im Namen der Demokratie eingeschlagene – Vorgehensweise der jetzigen türkischen Regierung gegenüber den Bereichen Justiz, Universität und Militär macht deutlich: Die Worte Politik, Demokratie, Justiz, Freiheit, Neutralität werden in ihrer Bedeutung verändert oder beginnen gar, ihre Bedeutung zu verlieren.
Die schon vor der Kommunalwahl begonnenen Bemühungen der Regierungspartei, einige Gouverneure von ihrer eigentlichen – juristischen – Aufgabe abzuziehen und in die Politik einzuspannen, haben gegenwärtig einen Grad an Deutlichkeit erreicht, der einen düsteren Schatten auf das Bild des Staates wirft.
Jüngstes Beispiel dafür ist, dass die Regierung mit Hilfe der ihr freundlich gesinnten Presse und mit Hilfe von Geschäftemachern und anderen Verbündeten, etwa Anhängern von Scharia oder Sekten, versucht, maßgebenden Einfluss auf die Arbeit des Leitungsgremiums der Richter und Staatsanwälte zu nehmen – und dabei, die persönliche Ehre des Einzelnen verletzend, großen Druck ausübt.
Die nach In-Kraft-Treten der Verfassung vom 12. September 1982 sich zeigenden Rechtsbeugungen sind auf die mangelnde Qualität des Leitungsgremiums der Richter und Staatsanwälte, genauer: auf labile, beeinflussbare Mitglieder zurückzuführen. Nach Paragraph 143 der Verfassung von 1961 werden aus dem Senat der Republik und der Großen National-Versammlung sowie aus Richtern, die an Obersten Gerichten tätig waren beziehungsweise die Voraussetzungen für eine solche Tätigkeit erfüllen, jeweils drei Vollmitglieder und ein Ersatzmitglied gewählt – also insgesamt 18 Voll- und 5 Ersatzmitglieder. Der Vorsitzende wurde aus den eigenen Reihen gewählt. Der Justizminister nahm an den Versammlungen teil, aber nicht an den Abstimmungen. Nach der Verfassungsänderung von 1971 wurde die Wahl von Parlamentsmitgliedern aufgehoben. Die vom Obersten Gerichtshof und vom Oberverwaltungsgericht zu wählenden Mitglieder bestanden nunmehr aus 11 Voll- und 3 Ersatzmitgliedern. Wenn der Justizminister es für angebracht hielt, konnte er der Versammlung vorsitzen.
Wie das Leitungsgremium der Richter und Staatsanwälte gemäß der Verfassung von 1982 vorgesehen und formiert wurde und was ich und ein befreundeter Anwalt , der dem damaligen Justizminister nahestand, alles dagegen ins Feld geführt haben, auch wie ich später das Rücktrittsschreiben des Ministers abfasste, ist mir heute noch in sehr guter Erinnerung. Die Beibehaltung des Leitungsgremiums und seiner Struktur, die zweifelsfreie Eigenständigkeit der Justiz, die Aufrechterhaltung des Glaubens an ihre Unabhängigkeit habe ich in einem ausführlichen Brief vom 8. Dezember 1980, durch Herrn Necdet CALP (mittlerweile verstorben) dem damaligen Ministerpräsidenten Bülent ULUSU unterbreitet. Zum gleichen Thema schrieb ich an den damaligen Staatschef Kenan EVREN am 20. Mai 1981 und am 4. Oktober 1982 . Diese Briefe sind in meinem Buch ‘Respekt vor der Unabhängigkeit der Justiz’ (erschienen in Bilgi Yayinevi 1990 und 1996) veröffentlicht worden. Unsere sorgfältigen und in gutem Glauben unternommenen Bemühungen wurden seinerzeit von manchen rückständigen Journalisten als ‘abergläubische Bevormundung’ bezeichnet. 1995 aber wurden wir von denselben Journalisten mit den Worten beglückwünscht: ‘Sie haben den Staat beschützt’. Der von der heutigen Regierung beschrittene Weg ist schlecht, er ist bedenklich, ja gefährlich. Um das zu verdeutlichen, führe ich zwei Feststellungen Mustafa Kemal Atatürks an: ‘Beim Aufbau eines Staates ist in der Verfassung die erste Voraussetzung die Unabhängigkeit der Justiz. Da die Freiheit des Volkes davon abhängt, kann eine Nation, in der die Justiz nicht frei entscheiden kann, nicht als Staat gelten.’ (1920) ‘Die Gesetze bilden die Grundlage der Republik’. (1922)
Es ist etwas anderes, ob man Mitglied des Verfassungsgerichts oder ob man Vorsitzender des Obersten Gerichtshofes ist. Man weiß, wie für RTÜK (den Obersten Rat der Rundfunk- und Fernsehanstalten in der Türkei) oder andere Leitungsgremien Mitglieder gewählt werden. Und wir verfolgen heute mit großer Sorge, wie die Rektoren ernannt werden, wie die Anhängerschaft der Regierungspartei und die Personalveränderungen zu deren Gunsten sich mehren, wie Versuche, weitere politische Abhängigkeiten zu schaffen, Anlass zu Klagen geben.
Es sollte darauf geachtet werden, alles fernzuhalten, was die Unabhängigkeit der Leitungsgremien gefährden, das Vertrauen in sie erschüttern könnte. Die Machenschaften der sich einschmeichelnden Anhänger derjenigen, die gegen den demokratischen Staat und gegen den Staatsgründer sind, lassen uns Geschehnisse erleben, die an den Satz denken lassen. ‘Der Nachfolger lässt den Vorgänger vermissen’. Diejenigen, die fälschlicherweise der Regierung eine stärkere Position, eine Position über der Justiz zusprechen, sind die Quelle des Übels und Grund zur Klage. Die Ergebnisse der fehlenden Berücksichtigung der Immunität sollten jedem zu denken geben, die Ehre des Staats muss über allem stehen. Bei der Änderung der Verfassung muss die Struktur des Leitungsgremiums der Richter und Staatsanwälte und die Abgrenzung von politischer Vormundschaft zuerst bedacht werden, in dem Gesetz Nr. 2461 des Leitungsgremiums der Richter und Staatsanwälte müssen entsprechende Regelungen eingeführt werden. Mit der Justiz und der Gerichtsbarkeit zu spielen ist das deutlichste Anzeichen von Ungerechtigkeit , ist die schwerwiegendste Tat gegen die Menschlichkeit. Der beharrliche Versuch der Regierung, durch das Justizministerium und den Staatssekretär die Arbeit des Leitungsgremiums der Richter und Staatsanwälte zu behindern, muss unterbunden werden. Das Spielen mit ‘Erziehung und Bildung’ und ‘Justiz und Gerichtsbarkeit’, wie die jetzige Regierung es praktiziert, ist ein Ruin und eine Katastrophe.