Rede Gregor Gysıs Plenardebatte'Aufschwung für Deutschland'
Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun Dr. Gregor Gysi, Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundesminister Glos, ich muss sagen: Der Aufschwung in Deutschland hat eine Spur mehr Elan als Sie.
(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)
Ich hätte mir gewünscht, dass Sie das hier etwas mehr zum Ausdruck bringen. Herr Stiegler, ich war sehr verwundert, als Sie sich über den Neid der Besitzlosen aufgeregt haben. Früher hat die SPD die Interessen der Besitzlosen vertreten.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir haben einen wirtschaftlichen Aufschwung; das stimmt. Aber man muss sich einmal ansehen, für wen sich dieser Aufschwung positiv auswirkt. Was ist denn von 2000 bis 2006 passiert? Die Einkommen aus Vermögen und Gewinnen sind um 161 Milliarden Euro gestiegen, das heißt um 38 Prozent. Von den 206 Milliarden Euro, die mehr erwirtschaftet worden sind, gingen 161 Milliarden Euro an diese Bevölkerungsgruppe. Sie macht 10 Prozent der Bevölkerung aus. Sie machen also einen Aufschwung für 10 Prozent der Bevölkerung; 90 Prozent haben nichts davon. Das ist das eigentliche Problem.
(Beifall bei der LINKEN)
Das war in der alten Bundesrepublik Deutschland anders. In den 50er-Jahren, in den 60er-Jahren, in den 70er- Jahren, selbst in den 80er-Jahren hat ein Aufschwung immer dazu geführt, dass es auch Rentnerinnen und Rentnern, Beschäftigten, Kranken etc. besser ging. Heute kann davon überhaupt keine Rede mehr sein. Mit dieser Veränderung der Politik müssen wir uns auseinandersetzen.
(Beifall bei der LINKEN)
Die Veränderung begann mit der Regierung von SPD und Grünen und setzt sich jetzt in der Großen Koalition von Union und SPD fort. Das heißt, das galt unter Schröder und gilt auch jetzt unter Frau Merkel. Schauen wir uns die einzelnen Gruppen an! In den letzten zehn Jahren gab es einen Rückgang der Löhne und Gehälter der abhängig Beschäftigten – ich möchte Sie daran erinnern – von 5,1 Prozent. Wenn man die Preissteigerung in Höhe von 10 Prozent berücksichtigt, macht der Rückgang 6 Prozent aus. In allen anderen Industriegesellschaften – USA, Großbritannien und Frankreich – gab es Lohnsteigerungen. Nur in Deutschland gab es einen Rückgang von 6 Prozent.
(Otto Fricke [FDP]: Wollen Sie amerikanische Verhältnisse?)
Schauen wir uns einmal den Aufschwung in diesem Jahr an! Die neuen Lohnabschlüsse gleichen nicht einmal die Verluste der letzten zehn Jahre aus. Von Aufschwung kann in diesem Zusammenhang überhaupt keine Rede sein.
(Beifall bei der LINKEN)
Sagen Sie den 50 000 Mitarbeitern der Telekom doch einmal, dass sie einen Aufschwung erleben! Der Aufschwung besteht darin, dass sie ausgegliedert werden und pro Woche vier Stunden länger arbeiten müssen, ohne dafür einen einzigen Cent mehr Lohn zu erhalten. Das ist unverschämt, und das hat mit Aufschwung nichts zu tun.
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das ist ja ganz schlimm! – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Oh ja! Ganz schlimm! Eine Erhöhung von 34 auf 38 Stunden!)
Nun komme ich auf die Rentnerinnen und Rentner zu sprechen. Sie hatten seit vier Jahren Nullrunden zu verzeichnen. Sie wissen ganz genau: In Anbetracht der Preissteigerungen sind Nullrunden in Wirklichkeit Minusrunden. Nun kam es zu einer Steigerung von ‘gewaltigen’ 0,54 Prozent. Dem ist gegenüberzustellen, dass die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung und zur Pflegeversicherung steigen werden. Dabei müssen auch die Mehrwertsteuererhöhung und die Inflationsrate berücksichtigt werden. Wenn man all das einbezieht, stellt man fest: Für die Rentnerinnen und Rentner kommt wiederum eine Minusrunde heraus, nichts anderes.
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Genau!)
Das ist der Aufschwung für die Rentnerinnen und Rentner.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich möchte noch etwas weiter in die Vergangenheit blicken. Unter Kanzler Kohl wurde die alte Rentenformel verändert. Nach der alten Rentenformel wurden die Rentnerinnen und Rentner an Lohnsteigerungen und an Produktivitätssteigerungen beteiligt. Union und FDP beschlossen damals eine neue Formel. Dann kam eine neue Regierung unter Kanzler Schröder – damals war Oskar Lafontaine, wenn ich Sie daran erinnern darf, übrigens noch Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und Bundesfinanzminister -, und siehe da: Was beschloss die damalige Koalition? Sie beschloss, die neue Rentenformel nicht in Kraft treten zu lassen, sondern es bei der alten Formel zu belassen, um die Rentnerinnen und Rentner weiterhin an Lohnsteigerungen und Produktivitätssteigerungen zu beteiligen.
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Allerdings! Das war einer der großen Fehler von Lafontaine!)
Nachdem etwas Zeit vergangen war, stellte sich Herr Schröder allerdings hier hin, entschuldigte sich bei Union und FDP dafür, dass er die neue Kohl’sche Rentenformel zurückgenommen hatte, und führte sie wieder ein. Seitdem werden die Rentnerinnen und Rentner an Lohn- und Produktivitätssteigerungen nicht mehr beteiligt.
(Beifall bei der LINKEN)
Deshalb erleben sie keinen Aufschwung. Korrigieren Sie das, wenn Sie diesen Zustand ändern wollen!
(Ludwig Stiegler [SPD]: Die Sache mit der Rentenformel haben Sie wirklich nicht verstanden!)
- Sie haben etwas geändert. Sie haben dafür gesorgt, dass man heutzutage noch später als früher Rente bekommt. Dazu kann ich nur sagen: Das ist ja ein toller Aufschwung!
(Beifall bei der LINKEN)
Insofern verstehe ich nicht, wie Sie, Herr Stiegler, darauf kommen, dass hier kein Sozialabbau stattgefunden habe. Lohnkürzungen sind Sozialabbau. Rentenkürzungen sind Sozialabbau. Die Belastungen der Kranken, die aus Ihren Gesetzen resultieren, sind Sozialabbau. Sie können doch nicht so tun, als hätte es all das nie gegeben.
(Beifall bei der LINKEN)
Jetzt frage ich Sie: Gibt es einen Aufschwung für die Kranken? Die Praxisgebühren und die Zuzahlungen zu Medikamenten bleiben. Nichts hat sich für die Kranken verbessert. Selbst die ehemaligen Härtefallregelungen haben Sie aufgehoben. Wir werden beantragen, dass Sie die Härtefallregelungen, durch die Patienten von Zuzahlungen befreit werden, in der gleichen Form wie früher wieder einzuführen. Ich bin sehr gespannt, ob Sie die Kranken zumindest insoweit am Aufschwung teilnehmen lassen oder nicht.
(Beifall bei der LINKEN)
Jetzt komme ich auf die Zahl der Arbeitslosen zu sprechen, auf die Zahl, auf die Sie immer stolz hinweisen. Das Schicksal derjenigen, die heute arbeitslos sind, verbessert sich um keinen Deut. Gibt es eine einzige Entscheidung von Ihnen, die zur Folge hat, dass die Vermittlung verbessert wird, die Weiterbildungsmöglichkeiten erweitert werden oder die materielle Ausstattung der Arbeitslosen verbessert wird? Gibt es eine einzige Entscheidung von Ihnen, die dazu führt – das wurde sogar aus den Reihen der Union gefordert -, dass jemand, der 25 Jahre oder länger in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat, auch länger Arbeitslosengeld I bekommt? Nichts dergleichen! Sie beschließen nicht eine einzige Verbesserung für Arbeitslose. Deshalb nehmen sie am Aufschwung nicht teil.
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Doch! Das tun sie! Wir schaffen nämlich mehr Arbeitsplätze!)
- Das ist mir klar; dazu sage ich jetzt etwas. Zum Rückgang der Zahl der Arbeitslosen. Die eine Hälfte derjenigen, die gegenwärtig beschäftigt sind, arbeitet im Unterschied zu ihrer vorherigen Situation in Mini- und Midijobs. Keiner von uns würde je einem solchen Job nachgehen; denn dann wären wir nicht mehr in der Lage, unsere Familien zu versorgen.
(Beifall bei der LINKEN)
Die andere Hälfte derjenigen, die nun beschäftigt sind, ist sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Dabei handelt es sich um mehr als 500 000 Personen. Zu den 500 000 Personen, die sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, möchte ich Ihnen zwei Dinge sagen: Erstens sind unter ihnen viele, die sich in Leiharbeitsverhältnissen befinden. Das ist eine moderne Form der Sklaverei, die wir überwinden müssen;
(Beifall bei der LINKEN)
diese Arbeitsverhältnisse drücken übrigens auch auf die Situation der anderen Beschäftigten. Zweitens werden viele von ihnen extrem schlecht bezahlt. Sie bekommen nur 800 oder 900 Euro netto und leben am Existenzminimum. Darauf kann man nicht so stolz sein, wie Sie es sind.
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Aber auf die Arbeitslosen, oder was?)- Nein, das habe ich nicht gesagt. Wir sollten uns darum kümmern, dass die Leute anständig und würdig bezahlt werden. Führen Sie einen gesetzlichen Mindestlohn von 8 Euro brutto pro Stunde ein! Dann wären wir viele Probleme in Deutschland los.
(Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund [CDU/CSU]: Fangen Sie damit doch bei den Mitarbeitern Ihrer Fraktion an!)
Unerfreulich ist außerdem, dass die Zahl der Langzeitarbeitslosen so gut wie gar nicht zurückgegangen ist. Das sind gerade jene, die Hartz IV beziehen.
(Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Auch das ist falsch! Sie haben überhaupt keine Ahnung!)
- Es sind rund 2,4 Millionen geblieben, Herr Meyer. Sie
können die Tatsachen hier nicht einfach wegreden.
(Beifall bei der LINKEN – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Und so jemand war in Berlin Wirtschaftssenator!)
Für die haben Sie keine einzige Verbesserung beschlossen.
(Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Keine Ahnung! Wer hier so redet, hat das letzte Mal vor vier Wochen Zeitung gelesen!)
Es gibt einen Effekt des Aufschwungs – das ist wahr -: Die Zahl der ALG-I-Empfänger ist deutlich gesunken. Die Bundesagentur für Arbeit verfügt daher über Überschüsse. Nun ist die spannende Frage: Was machen wir mit diesem Geld? Da streitet sich die Koalition. Die einen möchten, dass der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung gesenkt wird; dann wissen wir nachher wieder nicht, wie wir die Arbeitslosen bezahlen sollen. Herr Steinbrück schlägt vor, die Überschüsse für den Bundeszuschuss zur Krankenversicherung zu verwenden. Ich sage: Beides geht nicht. Wir fordern stattdessen, mit den Überschüssen statt Arbeitslosigkeit Arbeit zu finanzieren. Wir brauchen einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor,
(Beifall des Abg. Oskar Lafontaine [DIE LINKE])
und zwar in erster Linie, damit wichtige Tätigkeiten auf den Gebieten der Ökologie, der Bildung und der Kultur endlich verrichtet werden, aber auch damit die Arbeitslosigkeit endlich abgebaut werden kann.
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der FDP: Endlich wieder volkseigene Betriebe!)
Herr Müntefering hat diesbezüglich einen guten Vorschlag gemacht. Er hat gesagt, er will den Kommunen Geld geben, damit die Kommunen Leute öffentlich gefördert beschäftigen etc. Wir leugnen nicht, dass dieser Vorschlag gut ist. Er hat allerdings zwei extreme Schönheitsfehler: Der eine ist, dass Herr Müntefering sagt: Wer drei Jahre gefördert beschäftigt wurde, bekommt, wenn er arbeitslos wird, kein Arbeitslosengeld I. Das müssen Sie korrigieren. Sonst bekommt das wieder einen unmenschlichen Zug.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Der andere ist, dass er sagt: Das meiste müssen natürlich die Kommunen bezahlen. Der Bund bezahlt nur das, was wir bei Hartz IV einsparen. – Auch das ist nicht gerecht. Der Bund kann sich nicht zulasten der Kommunen aus seinen Aufgaben herausstehlen.
(Beifall bei der LINKEN)
Aber die Idee ist vernünftig. Wir brauchen einen solchen, öffentlich geförderten Beschäftigungssektor. Dann stellen wir noch die spannende Frage, ob Ostdeutschland von dem Aufschwung etwas hat. Wie sieht es aus? Kein einziger Vorschlag von Ihnen, damit Ostdeutsche endlich den gleichen Lohn für gleiche Arbeit in gleicher Arbeitszeit erhalten! Kein einziger Vorschlag von Ihnen, damit Rentnerinnen und Rentner im Osten für die gleiche Lebensleistung endlich die gleiche Rente erhalten! Kein einziger Vorschlag von Ihnen, damit im Osten Deutschlands und in strukturschwachen Regionen Westdeutschlands die Kommunen Investitionsmittel erhalten, um eigene Wirtschaftskreisläufe in Gang zu setzen! Menschen im Osten und in strukturschwachen Regionen spüren vom Aufschwung nichts. Der Aufschwung, den wir jetzt haben, wird hauptsächlich durch den Export getragen; das festzuhalten ist wichtig. Die Exporte haben im letzten Jahr um 12,5 Prozent zugenommen, die Exporte nach China und Russland sogar um etwa 30 Prozent. Übrigens nahmen die Exporte in die USA erstmalig ab; auch darüber lohnt es sich nachzudenken. Zugenommen haben auch die Investitionen in Anlagen und Ausrüstung und im Bau. Aber jetzt kommt das Spannende: Die Steigerung der Ausgaben für den privaten Konsum in Deutschland liegt bei 0,4 Prozent; sie findet so gut wie überhaupt nicht statt. In diesem Jahr wird sie noch niedriger sein, weil im Januar die Mehrwertsteuererhöhung hinzukam. Nun müssen Sie wissen, dass vier Fünftel der Unternehmen in Deutschland von der Binnenkonjunktur leben. Nur ein Fünftel lebt vom Export und von den anderen Bereichen. Für vier Fünftel gibt es also keinen oder nur einen geringen Aufschwung. Selbst in der Wirtschaft geht es extrem ungerecht zu.
(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der CDU/CSU: Absoluter Schwachsinn! Stimmt nicht! 40 Prozent!)
Vier Fünftel der Wirtschaft und die große Mehrheit der arbeitenden und arbeitslosen Bevölkerung haben vom Aufschwung wenig oder nichts. Ich nenne Ihnen zwei Zahlen – die können Sie nicht leugnen -: – –
Präsident Dr. Norbert Lammert: Vielleicht sollten Sie sich auf eine beschränken.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Aber die gehören eng zusammen, Herr Präsident, die wollen Sie beide hören. Dann schließe ich auch.
(Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert: Nein.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Von Januar bis Mai 2007 hatten wir im Einzelhandel einen ‘Aufschwung’ von minus 1,5 Prozent, bei großen Warenhäusern sogar von minus 8,4 Prozent. Das ist die Realität. Sorgen Sie endlich dafür, dass es einen Aufschwung gibt, der zu mehr Wohlfahrt für die breite Mehrheit der Bevölkerung führt! Aber das scheinen Sie konsequent zu verhindern. Das ist Ihr Problem, und deshalb wächst Ihre Akzeptanz nicht, und zwar zu Recht.
(Beifall bei der LINKEN)