Die Situation türkischer Kinder im deutschen Schulsystem

Meine Damen und Herren, Frau Ministerin Ute Erdsiek-Rave,
Mit großem Interesse und Respekt habe ich das im August diesen Jahres veröffentlichte 'Konzept der Landesregierung zur Integration von Migrantinnen und Migranten in Schleswig-Holstein' gelesen.

Zum ersten Mal trägt hierbei eine Landesregierung, geführt durch die zuständigen Ministerien, für eine der gesellschaftlichen Realität Deutschlands voll Rechnung, ohne Versteckspiel mit Begriffen und mit längst vollzogenen Realitäten. Ein ganz mutiges Integrationskonzept, insbesondere im Bereich Bildung und Erziehung. Dazu möchte ich der Landesregierung Schleswig-Holstein und allen Mitwirkenden gratulieren.

In diesem Zusammenhang darf ich jedoch dem ersten Ausländerbeauftragten der Bundesregierung Ministerpräsident a.D. Heinz Kühn kein Unrecht tun. Er hatte nämlich bereits im September 1979, also vor 23 Jahren, in seinem bekannten Memorandum mit dem Titel ‘Stand und Weiterentwicklung der Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien in der Bundesrepublik Deutschland’ eine sehr weitsichtige und mutige Analyse mit klaren Vorschlägen der Bundesregierung und der Öffentlichkeit vorgelegt. Darin wurden sowohl in Bezug auf die schulische Integration der Einwandererkinder als auch über die allgemeinen Rahmenbedingungen zukunftsgerichtete Vorschläge gemacht. Leider wurden die meisten dieser Ideen bis heute nicht umgesetzt.

Als Vertreter einer der größten Migrantenbevölkerung, nämlich von Deutschlandtürken, kann ich die Feststellungen der Landesregierung Schleswig-Holstein, die als Bestandsaufnahme, Bewertungen und Umsetzungen in dem Konzept gemacht werden, im großen und Ganzen unterschreiben und mittragen.

In einigen Bereichen, insbesondere in Detailfragen, beispielsweise was das Erlernen der deutschen Sprache vor dem Schulbeginn und was die Eingliederung der türkischen Sprache als Muttersprache und als einer der wählbaren Fremdsprachen in das deutsche Bildungssystem anbetrifft, habe ich eine Reihe Ergänzungsvorschläge.

Gestatten Sie mir bitte in diesem Zusammenhang gleich zu unterstreichen: Schleswig-Holstein hat, insbesondere was den muttersprachlichen Unterricht anbetrifft, beispielsweise bei Kindern mit Türkisch als Herkunftssprache noch einen erheblichen Nachholbedarf. Es wurden bis heute nur wenige Lehrerinnen und Lehrer von der Landesregierung für diese Aufgabe eingestellt. Ich bin der Meinung, dass sogar der über die Konsulate angebotene Unterricht in Herkunftssprache mittelfristig von der Landesregierung übernommen werden sollte. Auf diese Weise könnte die Integration dieses Unterrichts in den regulären Unterrichtsprogramm gut erfolgen und die Qualität besser beobachtet werden.

Außerdem kann ich nicht verstehen, weshalb die Türkei, die im eigenen Land besonders im Bildungsbereich so viel Nachholbedarfe hat, die Lehrkräfte für den Türkischunterricht in Deutschland finanzieren sollte.

In dem Konzept der Landesregierung Schleswig-Holstein werden die Bedarfe bei der Umsetzung konkret genannt, was sehr zu begrüßen ist. ‘Die Umsetzung bleibt weit hinter den Anforderungen und Gestaltungsmöglichkeiten’ (S.13), so das Konzept.

Im Konzept vermisse ich allerdings Angaben über die Finanzierung dieser Maßnahmen. Ohne entsprechende Mobilisierung der Finanzierung werden diese sehr guten Ideen leider nur auf dem Papier bleiben müssen. Wenn also das Konzept ernst gemeint ist, müssen die Mittel der Finanzierung sicher gestellt werden.

Meine Damen und Herren,

nach diesen Eingangsbemerkungen möchte ich nun zu dem eigentlichen Thema kommen: die Situation türkischer Kinder im deutschen Schulsystem.

Durch die PISA-Studie wurde belegt, dass es dem deutschen Schulsystem unter anderem nicht gelungen ist, sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche gezielt zu fördern. Zu dieser Gruppe zählen auch Kinder türkischer Herkunft.

Die Sprachstandserhebung ‘Bärenststark’ in den vier Innenbezirken von Berlin unter den Vorschulkindern stellt fest,

•dass zwei von drei Kindern, die im Herbst 2002 eingeschult werden, Förderunterricht in Deutsch brauchen.

•36% von ihnen benötigen sogar eine intensive, individuelle Deutsch-Förderung.

Eine Erhebung von Prof. Reich im Auftrage der Schulbehörde von Hamburg Anfang 2000 belegt die Defizite türkischer Kinder vor dem Schulbeginn. Demnach beträgt

•der Anteil der Kinder, die kein oder sehr wenig Deutsch sprechen 21 %,

•der Anteil der Kinder, die nur über einfache Deutschkenntnisse verfügen 23 %.

Mit anderen Worten verfügen

•44 % der türkischen Kinder bei dem Schulbeginn über gar keine, sehr wenige oder nur einfache Deutschkenntnisse.

Dieser Zustand hat uns, die Türkische Gemeinde in Deutschland und die Schulbehörde in Hamburg alarmiert. Gemeinsam haben wir Ende März 2000 eine Reihe von Informations- und Aufklärungsarbeiten organisiert. Alle türkischen Eltern mit Vorschulkindern bekamen von uns einen Brief und die notwendigen Informationen, mit der Bitte ihre Kinder spätestens ab dem 4. Lebensjahr zum Kindergarten zu schicken.

Die Türkische Gemeinde in Deutschland hat gemeinsam mit ihren Fachverbänden ‘Föderation Türkischer Elternvereine in Deutschland’ und ‘Bund der türkischen Lehrervereine in Deutschland’ bereits vor drei Jahren eine vielseitige Bildungskampagne unter dem Motto ‘Schulsprache Deutsch – Muttersprache Türkisch – Das ist eine Bereicherung – Recht auf Muttersprache !’ gestartet. Mit Hilfe der Öffentlichkeitsarbeit, Veranstaltungen, Plakaten versuchen wir die türkischen Eltern über die Bedeutung des Kindergartenbesuchs ihrer Kinder zu informieren. Dies sehen wir als eine Daueraufgabe.

Ungleiche Startchancen türkischer Kinder insbesondere wegen nicht ausreichender Sprachkenntnisse bei Schulbeginn, begleiten viele von ihnen durch ihre gesamte Schullaufbahn.

Die Folgen sind dramatisch:

•Fast doppelt so viele nichtdeutsche, Schüler wie ihre deutschen Altersgenossen bleiben ohne Hauptschulabschluss.

•Und nur knapp 10 Prozent der nichtdeutschen Kinder erreichen die Hochschulreife. Bei den deutschen Schülern sind es 30 Prozent. Diese Zahlen fallen bei türkischen Kindern sogar noch ungünstiger aus.

Hier einige statistische Angaben, um die Situation nichtdeutscher Schüler im Vergleich zu den deutschen Schülern im deutschen Bildungssystem deutlich zu machen.

•Zeige Tabelle 1: Absolventen in allgemein bildender Schulen 1999/2000.

•Zeige Tabelle 2 :Schulabgänger in Schleswig-Holstein und Hamburg.

•Zeige Tabelle 3 : Jugendliche ohne Berufsausbildung.

Für die türkischen Dachverbände kommt der Beherrschung der deutschen Sprache eine ganz zentrale Bedeutung zu. Ohne Zweifel sind gute, zumindest aber ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache Grundvoraussetzung für gleiche Start- und Bildungschancen, wie später für erfolgreiche Schulabschlüsse.

Ein ganz wesentlicher Grund der geringen Deutschkenntnisse ist dadurch zu erklären, dass jene Kinder gar nicht oder nur im geringen Umfang vorschulische Einrichtungen besuchen. Erfahrungen zeigen, dass Kinder nichtdeutscher Eltern nach zweijährigem Besuch von Kindertagesstätten ihre sprachlichen Defizite beheben können. Deshalb sind dringend Maßnahmen erforderlich, um Defizite bei der deutschen Sprache bis zum Schulbeginn zu beheben, zumindest aber zu verringern. Nach intensiven Beratungen und Diskussionen mit vielen Expertinnen und Experten in zahlreichen Seminaren haben wir die ‘Türkische Gemeinde in Deutschland’ (TGD) sowie ihre zuständigen Fachverbände ‘Föderation Türkischer Elternvereine in Deutschland’ (FÖTED), ‘Bund der türkischen Lehrervereine in Deutschland’ (ATÖF), ‘Bund Türkischer Akademikervereine in Deutschland’ (ATAK) und ‘Bundesverband Türkischer Studierendenvereine’ (BTS) ein gemeinsames Memorandum ausgearbeitet und beschlossen.

Für das Erlernen der deutschen Sprache vor dem Schulbeginn schlagen wir folgende Maßnahmen vor:

1.Die Kinder türkischer Herkunft sind Teil der deutschen Gesellschaft. Ihre Zukunft liegt in der Bundesrepublik. Deshalb ist es unabdingbar, dass sie mit guter deutscher Sprachkompetenz in die Schule eintreten. Voraussetzung hierfür ist die frühzeitige Begegnung mit der deutschen Sprache und Kultur durch den Besuch von Kindertagesstätten.

2.Insbesondere die nichtdeutschen Eltern sollten motiviert werden, ihre Kinder spätestens ab dem vierten Lebensjahr in Kindertagesstätten zu schicken.

3.Mit diesem Ziel sollte eine enge Zusammenarbeit der türkischen Eltern- und Lehrervereine und der Gemeinden mit den Schulbehörden erfolgen. Hierfür sollten die türkischen Eltern durch Briefe, Informationsveranstaltungen, Öffentlichkeitsarbeit und Beratungen vor allem in den Schulen und Vorschuleinrichtungen sowie den türkischen Vereinen informiert werden.

4.In den Kindertagesstätten sollte den Kindern ohne deutsche Muttersprache ein Platz gesichert werden, selbst dann wenn ein Elternteil nicht berufstätig ist.

5.In den Kindertagesstätten und Vorschulklassen sollten geeignete Rahmenbedingungen geschaffen werden, mit dem Ziel, die sprachliche Kompetenz der Kinder gezielt zu fördern.

6.Hierfür sollte die sprachliche Förderung dem Alter und den Bedürfnissen der Kinder entsprechend angeboten bzw. ausgeweitet werden. Die Vermittlung der deutschen Sprache sollte durch geschulte und kompetente Pädagoginnen und Pädagogen erfolgen. Hierzu bedarf es der Qualifizierung der im Elementarbereich tätigen Lehrkräfte. Die Bemühungen und Fördermaßnahmen sollten sich vor allem in die Stadtteile konzentrieren, in denen der Anteil der Kinder ohne deutsche Muttersprache hoch ist.

7.Darüber hinaus wäre zu überlegen, in wieweit zumindest ein einjähriger obligatorischer Besuch von Einrichtungen im Elementarbereich aller Kinder, deutscher und nichtdeutscher Herkunft, möglich ist. Dieses ‘Vorschuljahr’ könnte beispielsweise unmittelbar vor Schulbeginn erfolgen.

8.Als einer der wichtigsten Gründe für das schlechte Abschneiden des deutschen Bildungssystems im internationalen Vergleich -das zeigt die PISA-Studie deutlich- ist die ungenügende Förderung gerade sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher durch das deutsche Schulsystem. Deshalb sollten besonders diese Schüler gezielt durch Verkleinerung der Schülerzahl in den Klassen und durch gezielten Nachhilfeunterricht gefördert werden

9.Da die sozial- und bildungsschwachen Eltern nicht in der Lage sind, ihren Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen, soll den Kindern verstärkt Hausaufgabenhilfe angeboten werden. Elternvereine, die Hausaufgabenhilfe und Nachhilfe für SchülerInnen anbieten, sollen finanziell unterstützt werden.

Zusammengefasst fordern wir: Das Erlernen der deutschen Sprache vor dem Schulbeginn zu ermöglichen, und zwar

•Kinder sollten ab dem vierten Lebensjahr Kindertagesstätten besuchen,

•Dafür sollten Informationsveranstaltungen, Öffentlichkeitsarbeit und Beratungen organisiert werden,

•den Kindern ohne deutsche Muttersprache einen Platz im Kindergarten sichern,

•In den Kindertagesstätten, Vorschulklassen und Schulen sprachliche Kompetenz der Kinder fördern.

•dafür geschulte und kompetente Pädagoginnen und Pädagogen einstellen,

•ein einjähriges obligatorisches ‘Vorschuljahr’ organisieren

•sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche durch gezielten Nachhilfeunterricht und Hausaufgabenhilfe unterstützen.

Wie durch die sprachwissenschaftliche Forschung in einigen Ländern und in Deutschland bereits untermauert, ist die optimale sprachliche Entwicklung der Kinder auch von der Beherrschung der Muttersprache abhängig. Deshalb sollte der Zweisprachigkeit, dem Erlernen der Muttersprache neben der Schulsprache Deutsch, sowohl in den Vorschuleinrichtungen als auch in den Schulen die notwendige Bedeutung beigemessen werden.

Hierbei gewinnt die Zeugnis- und Versetzungsrelevanz der schulischen Leistungen im muttersprachlichen Unterricht eine besondere Beachtung.

Unsere Feststellungen, Vorschläge und Forderungen zum Erlernen und zur Relevanz der türkischen Sprache sind folgende:

Diese Forderungen sind übrigens in einigen Bundesländern teilweise bereits gängige Praxis, in den meisten Bundesländern besteht jedoch weiterhin ein großer Nachholbedarf.

1.Die Kinder sollten zugleich in türkischer und deutscher Sprache und Kultur sozialisiert werden. Deshalb ist für ihre kognitive und emotionelle Entwicklung auch die Förderung ihrer Muttersprache und Kultur unverzichtbar. Türkisch als Muttersprache ist erforderlich, damit die türkischen Kinder ihre Persönlichkeit und ihre deutsch-türkische Identität und Kultur weiter entwickeln und festigen können. Türkisch ist auch als Kommunikationssprache mit den Eltern, Großeltern und den Verwandten in Deutschland und in der Türkei unverzichtbar.

Der muttersprachliche Unterricht

•stellt Beziehungen zwischen zwei und mehr Sprachen her und erzieht zur Mehrsprachigkeit;

•reflektiert lebendige Mehrsprachigkeit als eine Chance;

•setzt interkulturelle Ziele, um junge Menschen auf ihr Leben in einer kulturell pluralistischen Gesellschaft vorzubereiten.

2.Türkisch ist nach Deutsch die in Deutschland am meisten verbreitete Muttersprache. Weltweit wird Türkisch von mehr als 300 Millionen Menschen gesprochen. Neben der Türkei ist das Türkische in weiteren sechs Ländern Staatssprache bzw. Verkehrssprache.

Dieser Realität wird im deutschen Bildungssystem nicht die erforderliche Bedeutung beigemessen. Sie wird in Deutschland in keinem Bundesland als eine der wählbaren Fremdsprachen durchgängig angeboten. Dies stellt auch angesichts der Tatsache, dass mehr als eine halbe Million Kinder aus dem türkischen Sprachraum an deutschen Schulen unterrichtet werden, eine Diskriminierung türkischer Sprache und Kultur dar. Dabei kann Türkisch für das Ergreifen eines Berufes in einem der vielen tausend deutschen und türkischen Unternehmen in Deutschland und in der Türkei von großem Vorteil sein.

Deshalb fordern wir als bildungspolitische Neuerung, dass Türkisch sowohl als Muttersprache angeboten, als auch als zweite, dritte und / oder vierte Fremdsprache nunmehr in den Fremdsprachenkanon aufgenommen wird, da der von türkischen Behörden angebotene Türkischunterricht in seiner bisherigen Form diesen Forderungen nicht entspricht.

3.Ab der ersten Klasse sollte das Fach ‘Türkische Muttersprache und Kultur’ neben der Schul- und Amtssprache Deutsch in den Schulen als wählbares zeugnisrelevantes Regelfach angeboten werden. Der Türkischunterricht ist in der ersten und zweiten Klasse mit fünf und in den folgenden Klassen mindestens mit drei Wochenstunden anzubieten. Grundvoraussetzung hierfür ist eine interkulturelle Erziehung in den Vorschulen und Kindertagesstätten.

4.In den Hauptschulen soll Türkisch in den Klassen 7 bis 10 als muttersprachlicher Unterricht erteilt werden. Die erste Fremdsprache Englisch bleibt hiervon unberührt.

5.In den Real- und Gesamtschulen und den Gymnasien sollte Türkisch als eine der als zweite wählbaren Fremdsprache und somit als Leistungskurs und Prüfungs-/Abiturfach angeboten.

6.Auch in Fachoberschulen, höheren Handels- und Berufsschulen sollte Türkisch im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts angeboten werden.

7.Die Lehrkräfte, die das Fach ‘Türkische Muttersprache und Kultur’ unterrichten, werden unter Berücksichtigung der kulturellen Besonderheiten und der multikulturellen Lebensbedingungen der Kinder fortgebildet.

8.Für die Ausbildung des Lehrpersonals für den Türkischunterricht wird an den Universitäten das Studienfach ‘ Lehramt für Türkisch’ eingerichtet. (Dem Beispiel der Gesamthochschule Essen, wo seit 1995/96 ‘Türkisch’ als Fach für das Lehramt eingerichtet wurde, sollten andere Universitäten und Hochschulen folgen. Das Hauptziel dabei sollte sein, den Bedarf an Lehrer/Innen für den Türkischunterricht grundsätzlich mit Hochschulabsolventen aus Deutschland zu decken.) Hierbei sollten Austauschprogramme zwischen den deutschen und türkischen Hochschulen durchgeführt werden.

Die Studierenden dieses Fachbereichs, aber auch die der Erziehungswissenschaften im allgemeinen, sollten während des Studiums mit einem interkulturellen Ansatz ausgebildet und mit der multikulturellen Wirklichkeit vertraut gemacht werden.

9.Die Bücher und die Lehrmaterialien, die im Fach ‘Türkische Muttersprache und Kultur’ eingesetzt werden sollen, sind mit einem interkulturellen Ansatz sorgfältig aufzubereiten, um damit den multikulturellen Lebensrealität in der Bundesrepublik Deutschland Rechnung zu tragen.

10.Der muttersprachliche Unterricht muss aus der Ebene der Erlasse emanzipiert und als ein fester Bestandteil der interkulturellen Erziehung auf die Ebene einer Regelung durch Schulgesetze gehoben werden. Wohlgemerkt: vor allem im Interesse der bildungspolitischen Aufgaben Deutschlands und der deutschen Gesellschaft. ‘Deutschland ist unumkehrbar ein Einwanderungsland geworden’, sagte der erste Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Heinz Kühn, bereits 1979 in seinem Memorandum zur Ausländerpolitik. Heute nach mehr als 40 Jahren Migration ist Deutschland unumkehrbar eine multikulturelle Gesellschaft geworden. Diese Realität verlangt es, endlich auch bildungspolitisch aus dieser Entwicklung Konsequenzen zu ziehen. Es ist hohe Zeit zu handeln!

Zusammengefasst fordern wir, Türkisch als in den Stundenplan integriertes Regelfach einzuführen, und zwar

 unter deutscher Schulaufsicht,  als muttersprachlichen Unterricht,  mit fünf Wochenstunden,  auch als zweite, dritte oder vierte Fremdsprache,  mit Abwahlrecht durch die Eltern  versetzungsrelevant,  erteilt von durch deutsche Behörden eingestellte Lehrkräfte,  nach in Deutschland erarbeiteten Lehr- und Lernmaterialien,  nebst Einrichtung eines Lehramtes für Türkisch,

In den letzten Jahren wurde und wird heftig über einen islamischen Religionsunterricht kontrovers diskutiert. Die oben genannten Dach- und Fachverbände haben auch zu diesem Thema nach langer Diskussion folgenden Beschluss gefasst.

STANDPUNKTE UND FORDERUNGEN ZUR RELIGIÖSEN UNTERWEISUNG VON TÜRKISCHEN KINDERN IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND

Die Religions- und Glaubensfreiheit ist ein universelles Menschenrecht. Artikel 4 Grundgesetz gewährleistet die Religionsfreiheit, Artikel 7 GG bestimmt, dass Religionsunterricht an öffentlichen Schulen in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechts als ordentliches – freiwilliges – Lehrfach anzubieten ist. Diese im Grundgesetz aufgeführten Rechte gelten für alle Menschen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit.

In der Bundesrepublik Deutschland leben weit mehr als drei Millionen Menschen islamischen Glaubens, rund 2,5 Millionen stammen aus der Türkei. Die islamische Unterweisung ihrer Kinder an den Schulen wird in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich gehandhabt, aber keine entspricht den Anforderungen einer zeitgemäßen religiösen Unterweisung. Deshalb sehen sich viele Eltern gezwungen, ihre Kinder in Kurse mit zweifelhaften Trägern und Inhalten zu schicken, um eine religiöse Unterweisung ihrer Kinder zu gewährleisten. Die gläubigen Muslime in der Bundesrepublik Deutschland verlangen, dass ihren Kindern, wie es bei christlichen Kindern der Fall ist, innerhalb der Schule eine zeitgemäße religiöse Erziehung angeboten wird.

Unsere Vorschläge hier für sind folgende:

1. In den Bundesländern sollte als ordentliches Wahlfach ‘Islamische Religionskundliche Unterweisung’ angeboten werden.

2.Dieses Fach sollte originell für in der Bundesrepublik lebende Schülerinnen und Schüler entwickelt werden.

3.Da der Islam keine kirchenähnliche Organisationsstruktur kennt, sollte einen repräsentativen ‘Ansprechpartner’ gefunden werden. Gegebenenfalls ist Artikel 7 (2) GG, das von den Strukturen des Christentums ausgeht, entsprechend ergänzt werden.

4. Anstelle des ebenfalls aus der Entwicklungsgeschichte des Christentums entstandenen konfessionsgebundenen Religionsunterrichts sollte eine dem Wesen des Islam entsprechende, die wichtigsten Strömungen im Islam berücksichtigende ‘ Islamische Religionskundliche Unterweisung’ angeboten werden.

5. Zu Erarbeiten der Curricula sind bundesweit oder in den einzelnen Bundesländern Kommissionen einzusetzen. Diese sollen sich aus Religionsexperten und Wissenschaftlern aus der Bundesrepublik und dem Ausland mit einer säkularen zeitgemäßen Einstellung zusammensetzen. Die notwendigen Beschlüsse und Entscheidungen müssen von einer Kommission gefällt werden, die sich aus Vertretern der Kultusverwaltung, der gesellschaftlichen Organisationen und der Wissenschaft bildet. Die Lehr- und Lernmaterialien sind entsprechend herzustellen.

6. Die ‘Islamische Religionskundliche Unterweisung’ muss von Lehrkräften mit islamischer kultureller Sozialisation, die von den Kultusbehörden einzustellen sind, erteilt werden.

Hierbei ist dreistufig zu verfahren:

a)Die zur Zeit im Dienst der Kultusbehörden befindlichen Lehrkräfte sollten gegebenenfalls nach einer Fortbildung für diese Aufgabe eingesetzt werden.

b)Bei Bedarf können Lehrkräfte aus dem Ausland geholt werden, diese müssen aber perspektivisch in der Bundesrepublik Deutschland leben.

c)Die bundesdeutschen Universitäten sollten Lehrkräfte für die ‘Islamische Religionskundliche Unterweisung’ ausbilden.

7. Die Frage, ob dieser Unterricht in deutscher oder türkischer Sprache erteilt werden soll, ist Gegenstand intensiver Diskussionen. Zwei unterschiedliche Auffassungen in dieser Frage werden wie folgt begründet:

a)Religion ist ein untrennbarer Bestandteil der Kultur, reflektiert Glauben und Emotionen. Die Sprache wiederum ist der Träger der Kultur. Zudem ist die Türkei das einzige islamische Land, das eine Laizistische Staatsordnung hat. Deshalb erscheint es geboten, die ‘ Islamische Religionskundliche Unterweisung’ auf Türkisch zu erteilen.

b)Alle monotheistischen Religionen haben sich auf Grundlage der Glaubensgemeinschaften und nicht auf nationaler Grundlage entwickelt. Deshalb erscheint es geboten, dass alle Kinder muslimischen Glaubens gemeinsam auf Deutsch unterrichtet werden. In welcher Sprache die ‘ Islamische Religionskundliche Unterweisung’ erteilt wird, ist entsprechend den Gegebenheiten in dem jeweiligen Bundesland zu entschieden. Eine in diesem Rahmen zu erteilende ‘ Islamische Religionskundliche Unterweisung’ wird den Integrationsprozess in die bundesdeutsche Gesellschaft fördern. Einerseits wird dadurch einem berechtigten Anliegen der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Muslime Rechnung getragen und ihre Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft dokumentiert. Andererseits wird gewährleistet, dass der in der Schule anzubietende Islamunterricht frei von unzeitgemäßen und integrationshindernden Inhalten bestimmt ist.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich bitte zum Schluss einige allgemeine Bemerkungen machen, die ich trotz der Gefahr mancher Widerholungen für sehr wichtig erachte.

Die Bundesrepublik Deutschland ist längst und umumkehrbar eine multikulturelle Gesellschaft geworden. Mehr als 7,4 Mio. Menschen nichtdeutscher Herkunft haben sich mit ihren unterschiedlichen Kulturen hier größtenteils dauerhaft niedergelassen. Viele ihrer Kinder sind hier geboren oder aufgewachsen, gehen hier zur Schule oder erlernen einen Beruf. Diese ethnisch-kulturellen Minderheiten – immerhin ca. 9% der Gesammtbevölkerung – prägen das Leben überall: auf den Straßen, in den Verkehrsmitteln, Läden, Restaurants, Betrieben, Schulen und Kindertagesheimen. Alle Großstädte und Metropolen Europas, seien es Paris, London, Brüssel, Amsterdam, Wien, Istanbul, Berlin oder Frankfurt, sie alle sind dauerhaft multikulturell geworden. Diese multikulturelle Realität müssen die Bildungseinrichtungen als Herausforderung und Chance verstehen und, wie seit Jahren von zahlreichen namhaften Pädagoginnen und Pädagogen gefordert, die interkulturelle Erziehung im Vorschul-, Schul- und Hochschulbereich als Prämisse einer neuen Erziehungs- und Bildungspolitik akzeptieren.

Das gegenwärtige deutsche Erziehungs- und Bildungssystem ist heute noch in der Regel monolingual und monokulturell ausgerichtet. Dies ist nicht zeitgemäß. Es reflektiert das existierende Gesellschaftsbild in unserem Land nicht.

Die Bildungseinrichtungen müssen sich der kulturellen Vielfalt als Realität stellen. Die vorschulischen Erziehungseinrichtungen und Schulen sollten -ausgehend aus der Tatsache der Multikulturalitätt und Mehrsprachigkeit- reformiert werden.

Interkulturelles Lernen muss als Arbeits- und Bildungsprinzip in die Konzepte und das Denken der Pädagogen/innen integriert werden. Interkulturelles Lernen ist stets ein Lernen mit und aus Konflikten. Das interkulturelle Lernen ermöglicht Einblicke in die anderen Kulturen und gleichzeitig auch in die eigene Kultur. Das eigene ‘Ich’ lernt der Mensch besser über Kommunikation mit anderen kennen. Mit Hilfe des interkulturellen Lernens könnten die Menschen als Träger der Kultur den Schritt vom Nebeneinander zu einem Miteinander der Kulturen bei sich selbst erleben, um sich mit den Problemstellungen und Chancen dieses Wandels identifizieren und auseinandersetzen zu können. Interkulturelle Erziehung ist eine neue, ergänzende Betrachtung der allgemeinen Pädagogik, die die Überwindung der kulturellen Schranken als ihre Hauptaufgabe betrachtet. Ein Ziel dieses Ansatzes ist, mit anderen Kulturen besser umgehen zu lernen und dadurch einen kooperativen Umgang mit diesen zu ermöglichen. Ein weiteres Ziel ist, das Fremde verstehen und begreifen zu lernen, was auch zu einem besseren Verständnis der eigenen Kultur führt. Durch die Vermittlung von Wissen über fremde Kulturen sollen Dialogbereitschaft und Toleranzfähigkeit im Umgang mit diesen bei allen Beteiligten erweitert und verbessert werden. Diese Erziehung müsste bereits in den Kindergärten beginnen. Bekanntlich wirken die Vorurteile der Eltern und des Umfelds bereits recht früh auf die anfangs vorurteilsfreien Kinder. Deshalb sollte die interkulturelle Erziehung in den Vorschul- und Schuleinrichtungen bei den Elternabenden und Festen mit pädagogischen Mitteln auch die Eltern erfassen. Interkulturell bedeutet also:

•voneinander lernen, Dialog und Austausch im Sinne gegenseitigen Verstehens, Entgrenzung und Erziehung zur Solidarität;

•Umgang mit kulturellen Unterschieden, die Anerkennung der Lebensformen, der Verschiedenheit des Verhaltens und der Werte der kulturellen Minderheiten, ihre Bedeutsamkeit und ihre Funktionsweisen. Ziele der interkulturellen Erziehung sind:

•soziales Lernen,

•bikulturelle Bildung, bessere Verständigung zwischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen aus unterschiedlichen Kulturen,

•Offenheit und Toleranz gegenüber dem Andersseienden,

•die Befähigung zu einer kritischen Prüfung und zum Abbau von Vorurteilen, um eine vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit anderen Kulturen zu erreichen,

•politische Bildung und antirassistische Erziehung.

Prof.Dr. HakkıKeskin Hamburg, 7.10.2002