Der Verbotsantrag gegen die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) wird die politische Agenda der Türkei für längere Zeit bestimmen, wie es zuvor die Verfassungsänderung bezüglich des Kopftuches getan hat.
Dabei wäre das bereits seit vielen Jahren bestehende Kopftuchproblem zu lösen gewesen, wenn man nach einem gesellschaftlichen Konsens gesucht und ihn gefunden hätte.
Der Laizismus ist die unverzichtbare, fundamentale Stütze der Republik Türkei, er ist der Zement, der sie zusammenhält. Die Sorgen in diesem Zusammenhang müssten und müssen auch in Zukunft von allen ernst genommen und unbedingt im Konsens behoben werden.
In gefestigten demokratischen Rechtsstaaten ist das Verbot von politischen Parteien ein Weg, der zu allerletzt beschritten wird. Das kann nur der Fall sein, wenn durch nachweisbare Ideologie, politische Ansichten, Taten und Aussagen das Ziel ersichtlich wird, dass die Zerstörung des auf nicht veränderbaren, ja nicht diskutierbaren Grundprinzipien der Republik beruhenden ‘demokratischen, laizistischen und sozialen Rechtsstaates’ beabsichtigt wird. In diesem Fall hat die Justiz allerdings zweifelsohne die Berechtigung und die Aufgabe, politische Parteien zu verbieten. Das Verfassungsgericht wird jetzt entscheiden, ob die gegen die AKP gerichteten Vorwürfe dahingehend berechtigt sind, dass ein Verstoß gegen die Verfassung vorliegt.
Als türkischstämmiger Parlamentarier empfinde ich die derzeitige Situation als höchst unglücklich für die Türkei. Ich habe die Befürchtung, dass durch dieses auf die Tagesordnung gebrachte Thema die Probleme der Türkei, die dringend auf Lösungen warten, in den Hintergrund geschoben werden und Zeit verloren geht.
Vor allem die AKP kann, ja sollte sogar, nun besonnen statt emotional reagieren und diese Situation als Chance für einen aufrichtigen Neubeginn nutzen.
Probleme, deren Lösung einen gesellschaftlichen Konsens voraussetzen, können nicht allein mit parlamentarischen Mehrheiten gelöst werden, so wie man es im Falle des Kopftuchproblems kürzlich erneut sehen konnte. Die Türkei steht vor einer wichtigeren Prüfung: Die Vorbereitung einer neuen Verfassung. Ein Konsens darüber kann nur erreicht werden, wenn der Entwurf der neuen Verfassung von der Großen Nationalversammlung der Türkei und einer Kommission gemeinsam vorbereitet wird, in der die unterschiedlichen politischen Ansichten innerhalb der Gesellschaft vertreten werden. Die Tatsache jedoch, dass der im Auftrag der Regierungspartei verfasste Entwurf als grundlegender Text für die Diskussion behandelt wird, gab jedoch von vornherein Anlass zu Auseinandersetzungen. Die auf diese Weise zu verabschiedende neue Verfassung würde keine Akzeptanz bei einem wesentlichen Teil des türkischen Volkes finden.
Die AKP sollte die neu entstandene Situation dazu nutzen, die Bildung von Vertrauen und eines möglichst flächendeckenden Konsenses aufrichtig in Angriff zu nehmen. Zu diesem Zweck sollte sie für die Vorbereitung der neuen Verfassung und zur Lösung des Kopftuchproblems den breitest möglichen Konsens herstellen. Eine solche Annäherung kann für die Türkei und für die AKP eine große Chance bedeuten. Auf diese Weise kann die AKP den besten Nachweis zur Beseitigung der gegen sie gerichteten und tatsächlich vorhandenen Befürchtungen im Zusammenhang mit dem Laizismus erbringen. Zweifelsohne entfallen in diesem Zusammenhang auch auf die Oppositionsparteien, vor allem die CHP eine große Verantwortung und Verpflichtung. Dadurch wird in der gelebten Realität ersichtlich werden, welch großer Gewinn und Reichtum die Konsenskultur für die Türkei und das türkische Volk darstellen würde.
Hakkı Keskin