Deutschland erlebt das Zusammenwachsen nach der Wiedervereinigung in einer Zeit beginnender politischer Einheit Europas.
Verschärfte weltweite Konflikte und regionale Kriege auch in Europa erwarten von Deutsch-land als einer der einflußreichsten Nationen des Konti-nents eine besonders sensible Verantwortlichkeit. Der Bundespräsident ist zwar von seinem verfassungsmä-ßigen Auftrag her nicht für die Außenpolitik verantwort-lich, er vertritt Deutschland aber als dessen höchster Repräsentant im Ausland und kann, ja sollte sogar im richtigen Augenblick mahnend und warnend seine Stimme erheben, um für eine Politik des Augenmaßes Signale zu setzen.
Er ist auch nicht Gestalter der Innenpolitik, sollte aber als allseits respektierte moralische Instanz, als eine Art ‘Gewissen der Nation’ Partei für die Benachteiligten, die Schwächeren und Diskriminierten in diesem Lande ergreifen. Die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre hat in unserer Gesellschaft mit einer Arbeitslo-sigkeit beunruhigenden Ausmaßes, mit andauernder Wohnungsnot, mit zunehmender Polarisierung zwi-schen Arm und Reich, mir beängstigender Zunahme der Individualisierung und Abnahme der Bereitschaft zur Solidarisierung und schließlich mit zunehmender Gewaltbereitschaft vor allem gegen die nichtdeutsche Bevölkerung bleibende Spuren hinterlassen. Rassis-mus, Antisemitismus und Fremdenhaß haben im letz-ten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts überall in Europa und besonders in Deutschland alarmierend zugenom-men. Mitten in dieser konfliktreichen Phase seiner Ent-wicklung ist Deutschland und ist das deutsche Volk dabei, eine neue Orientierung zu finden und eine neue Identität als wiedervereinigter Staat zu entwickeln.
Gerade deshalb und gerade jetzt ist das scheinbar einflußlose Amt des Bundespräsidenten als hohe mora-lische Autorität für die innere und äußerer Integrität Deutschlands, als Partei für Randgruppen und Unter-privilegierte, als unbequemer Mahner für mehr Gerech-tigkeit und Solidarität von größter Bedeutung. Der scheidende Präsident, Richard von Weizsäcker ist der Fülle dieser Aufgaben in hohem Maße gerecht gewor-den und verdient daher unseren Dank und Respekt. Ob Roman Herzog sich nicht nur als Präsident aller Deut-schen, wie dies in den Kommentaren stets zu hören war, sondern auch als Präsident aller Einwohner die-ses Landes hervortun wird, werden wir sehen. Im Ge-gensatz zu seinen Äußerungen zur Doppelstaatsbür-gerschaft erwarten die rund sieben Millionen Nichtdeut-schen auch in dem neuen Bundespräsidenten einen Fürsprecher für ihre Belange und berechtigten Forde-rungen. Im Interesse von uns allen wünsche ich mir dies sehr.
Zusatz:
Unsere parlamentarische Demokratie mit den begrenz-ten Befugnissen und daher einer indirekten Wahl des Bundespräsidenten hat sich bewährt. Daran müßte nichts geändert werden, selbst dann nicht, wenn uns auch künftig nicht erspart bleibt, daß bei der Wahl nicht die Person sondern die Koalitionsaussage maßgeblich ist.