Hamburg
Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Schnieber-Jastram, sehr geehrter Herr Präsident der Hamburgischen Bürgerschaft, Herr Röder, sehr geehrter Herr Minister Prof. Mehmet Aydın, sehr geehrte Frau Beck, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, sehr geehrter Herr Andres, Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Ar-beit sowie Vorsitzender der Koordinierungsgruppe der Türkei im SPD-Parteivorstand, Sehr geehrter Herr Dr. Onur Öymen, stellv. Vorsitzender der Republikanischen Volkspar-tei und ehemaliger Botschafter in Deutschland, Sehr geehrter Herr Polenz von der CDU und Herr Schulz von der SPD, seien Sie uns herzlich willkommen! Ebenso herzlich möchte ich die Abgeordneten des Bundestages und der Hamburgischen Bürgerschaft und die Damen und Herren von der Presse begrüßen! Liebe Freundinnen und Freunde und liebe Delegierte der Türkischen Gemeinde in Deutschland, ich darf Sie alle sehr herzlich zu unserem Bundeskongress willkommen heißen. Seit Gründung der Türkischen Gemeinde in Deutschland im Dezember 1995 arbeiten wir ganz entschieden für die Integration der hier dauerhaft lebenden Eingewanderten und ihrer Nachkommen in die Deutsche Gesellschaft. Als Grundvoraussetzung hierfür sehen wir jedoch die rechtliche, politische und soziale Gleichstellung und Gleichbehandlung der kulturellen Minderheiten in Deutschland. Als bewusst gewollten und gewählten Auftrag der Satzung der Türkischen Gemeinde benennen wir Deutschland als unsere neue Heimat und als Heimat unser Kinder und Enkel. Eine Heimat muss jedoch den Millionen von Menschen, die sich so eindeutig zu Deutschland bekennen, auch als Heimat entgegentreten und ihren heimatlichen Pflichten genügen. Dazu gehört, diese Manschen als festen Bestandteil der Gesellschaft wohlwollend zu akzeptieren. Menschen, die sich seit Jahrzehnten in Deutschland niedergelassen, die stets ihre Pflichten erfüllt haben, sollen an sich selbst erfahren, dass die Heimat sie als gleichberechtigten Teil akzeptiert und aufnimmt. Die Grundvoraussetzung der Gewäh-rung der vollen Bürgerrechte ist nur mit dem Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft möglich. Heimat bedeutet in türkischer Sprache im übertragenen Sinne vor allem Geborgenheit, Umarmung, Zuversicht, Schutz, Verlässlichkeit und Liebe. Etwa wie eine Mutter, die ih-ren Kindern zu ihrem Wohlbefinden alles gibt, was nötig und möglich ist. Im türkischen wird das Wort Heimat zumeist mit dem Zusatzwort ‘Anavatan’ verwendet, wobei ‘Ana’ ‘Mutter’ bedeutet. Genau so wollen wir von Deutschland aufgenommen, umarmt und behandelt werden. Erfüllt Deutschland zumindest annähernd in diesem von uns verstandenen Sinne seine Heimatpflicht? Kommt Deutschland für ihre Eingewanderten, für die neuen ‘Mitbürger’, wie sie neuer-dings heißen, Ihrer Pflicht als Heimat nach? Können wir, ich frage Sie alle, können wir diese Frage mit gutem Gewissen bejahen? Wer von uns kann das? Objektiv betrachtet leider niemand!
Meine Damen und Herren, Eine der wichtigsten Aufgaben der Türkischen Gemeinde sehen wir unter anderem auch darin, zur Entwicklung bestmöglicher Beziehungen zwischen unserem Herkunftsland Türkei und unserer neuen Heimat Deutschland, aber auch zwischen der EU und der Tür-kei beizutragen. Dies liegt ohne Zweifel im unmittelbaren Interesse der Deutschland- und EU-Türken. Eine EU-Mitgliedschaft der Türkei wird die Lebenssituation der Deutschland-Türken und das Zusammenleben der Deutschen und Deutschland-Türken positiv beeinflussen. Bekanntlich haben die Staatsbürger aus den EU-Mitgliedstaaten außer dem allgemeinen Wahlrecht fast die gleichen Rechte wie deutsche Staatsbürger. Nach nur dreimonatigem Aufenthalt haben die EU-Staatsbürger beispielsweise das kommunale Wahlrecht, was die übrigen Migranten/innen selbst nach 40 Jahren nicht erhalten, es sei denn, sie wer-den eingebürgert. Auch in den sozialen, aufenthaltsrechtlichen und bildungspolitischen Bereichen haben nur die Bürger der EU-Staaten weitestgehend die gleichen Rechte wie deutsche Staats-bürger. Schon aus unmittelbarem Interesse ist die Türkische Gemeinde deshalb an einer EU-Mitgliedschaft der Türkei sehr stark interessiert. Diese wird auch das Verhältnis der Deutschen gegenüber den zukünftigen türkischen EU-Staatsbürgern im positiven Sinne maßgeblich beeinflussen. Durch eine zukünftige EU-Mitgliedschaft der Türkei werden auch die Türken und die Türkei als gleichberechtig-te Mitglieder in der EU und in Deutschland betrachtet und wahrgenommen, nicht mehr als Außenstehende und nicht dazugehörige. Der Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wird somit den Integrationsprozess von Deutschland- und EU-Türken ein ganz entscheidender Beitrag sein. Deshalb lehnen wir eine Sichtsweise, nach der die Türkei aus kulturellen, religiösen, ge-schichtlichen oder geographischen Gründen nicht der EU angehöre, entschieden ab. Wenn die Türkei als ein demokratischer und laizistischer Rechtsstaat mit ihrer mehrheit-lich islamischen Bevölkerung nur deshalb der EU nicht angehören soll, weil diese eine christliche Gemeinschaft sei, dann ist dies eine ganz offene und klare Abschottungs- und Absonderungspolitik gegenüber den hier lebenden 2,6 Millionen Deutschland-Türken, von denen bereits rund 700.000 die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. In einem Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in dem durch den Prozess der Globa-lisierung nicht nur Wirtschaftspolitik, Kapital und Finanzströme stark miteinander ver-wachsen und gebündelt sind, sondern ebenso die unterschiedlichen Kulturen und Religi-onen, ist eine solche Politik völlig inakzeptabel und absurd. In Europa leben bereits mehr als 15 Millionen Moslems, darunter mehr als 3 Millionen in Deutschland. Deutschland oder gar die EU als ein kulturell und religiös christlich-homogenes Land zu betrachten, widerspricht jeglicher Vernunft wie auch den Tatsachen. Mit den Worten Immanuel Kants, dessen 200. Todestag wir am 12. Februar gedacht ha-ben, wäre dies eine ‘unendliche Dummheit’. Wir treten aber auch deshalb entschieden für die EU-Mitgliedschaft der Türkei ein, weil sie seit dem Assoziierungsabkommen mit der EU vor 40 Jahren ein begründetes, ver-traglich vorgesehenes Recht darauf hat. Seitdem sind eine Reihe weiterer Vereinbarungen getroffen worden. 1996 wurde die Tür-kei in die Zollunion der EU aufgenommen – ein weitreichender Schritt Richtung EU-Mitgliedschaft. Schließlich wurde der Türkei 1999 auf dem Gipfeltreffen in Helsinki von allen 15 Staats- und Regierungschefs der EU der Kandidatenstatus zuerkannt. Für den Beginn der Bei-trittsverhandlungen muss die Türkei jedoch bis Ende 2004 die politischen Teile der ‘Ko-penhagener Kriterien’ erfüllen. Die Türkei hat in den letzten vier Jahren mit weitreichenden Verfassungs- und Gesetzes-änderungen und schließlich mit dem letzten Reformpaket Anfang Mai dieses Jahres rein rechtlich die Kopenhagener Kriterien bereits erfüllt. Bis Ende dieses Jahres muss auch die Umsetzung all dieser Reformen erfolgen. Sowohl die Regierung als auch die Opposi-tion in der Türkei sind hierzu fest entschlossen. Nach alledem nun aufgrund kultureller, religiöser oder geographischer Unterschiede der Türkei eine Absage zu erteilen oder ihr einen Status unterhalb einer Mitgliedschaft mit dem Etikettenschwindel ‘Privilegierte Partnerschaft’ anzubieten, ist inakzeptabel und indiskutabel.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
Bezüglich einer EU-Mitgliedschaft der Türkei – und bei der Entscheidung Ende dieses Jahres geht es ja um den Beginn von EU Beitrittsverhandlungen und nicht um eine bal-dige Mitgliedschaft – wird fast ausschließlich über die möglichen Probleme und Schwie-rigkeiten einer solchen Mitgliedschaft diskutiert. Welche mittel- und längerfristigen Vorteile die feste Anbindung der Türkei für Europa mit sich bringt, wird dabei weitgehend ignoriert. Es ist falsch, eine finanzielle Rechnung über die Vor- und Nachteile allein aufgrund der heutigen Zahlen vorzunehmen. Vielmehr müsste es bei dieser Diskussion um die globalpolitische Ziele und Projektionen Europas für Übermorgen und für die Zukunft gehen. Globalpolitische Gestaltungsmöglichkeiten und Einflussnahmen wird Europa als eigen-ständiger Machtfaktor neben den USA und Südost-Asien, also China und Japan, ohne die Türkei kaum haben. Die Türkei ist nicht nur wegen ihrer geostrategischen Lage von Bedeutung, sondern vielmehr als die wichtigste regionale Macht im Nahen Osten gerade für die EU unverzichtbar. Nur gemeinsam mit der dortigen Regionalmacht Türkei kann die EU – wenn überhaupt – ein gewichtiger Faktor bei der Lösung der Probleme werden. Wir alle wissen sehr wohl, dass es bei den andauernden Konflikten im Nahen-Osten vor allem um die Einflussnah-me und Kontrolle über die Energie-Ressourcen geht. Sehr offen und undiplomatisch ausgesprochen möchte ich unterstreichen: die EU darf die Türkei schon aus ureigenem Interesse weder den USA allein noch der islamisch-arabischen Welt überlassen. Eine weitere ganz zentrale Bedeutung kommt der EU-Mitgliedschaft der Türkei gerade auch wegen ihrer Besonderheit als einzigem Land mit größtenteils islamischer Bevölke-rung zu. Welche Bedeutung einer durchgreifenden Demokratisierung gerade der islamischen Länder zukommt, müsste angesichts der Ereignisse seit dem 11. September jedem poli-tisch interessierten Menschen klar sein. Die Türkei als ein rechtstaatlicher, demokratischer und laizistischer Staat wird mit ihrer mehrheitlich islamischen Bevölkerung als zukünftiges EU-Mitglied eine große Ausstrah-lungskraft für viele islamische Länder haben. Die Türkei wird für diese Länder ein erfolgreiches Modell darstellen und belegen, dass Islam und demokratischer und laizistischer Rechtsstaat durchaus zu vereinbaren sind. Wenn sich dieses Modell unter Einbeziehung der Bevölkerung auch auf andere islami-sche Länder übertragen ließe und damit zu mehr Stabilität und zu einer besseren Befrie-dung der Bevölkerung beitrüge, wäre dies von unschätzbarer Bedeutung. Dies wäre auch der wichtigste Beitrag zur Bekämpfung von Terrorismus und Gewalt in dieser Region. Wir brauchen zukunftsorientierte Visionen für die EU. Hierbei braucht die EU die Türkei und die Türkei braucht die EU.