JUGENDGEMEINSCHAFTSDIENSTE FÜR TÜRKISCHE JUGENDLICHE IN DEUTSCHLAND

Leider liegen bis heute noch keine Untersuchungen über Jugendgemeinschaftsdienste in Bezug auf türkische Jugendliche vor. Deshalb kann ich hier lediglich die Lage türkischer Jugendlicher in Deutschland beschreiben.

Um jedoch die Situation türkischer Jugendlicher verstehen zu können, bedarf es zunächst einer Analyse der Lebenslage ihrer Eltern. Ohne diese bliebe jeder Versuch, die Lebensverhältnisse dieser Personengruppe zu beschreiben, nur Stückwerk.

Allgemeiner Überblick

Am 30. Oktober 1961, also vor rund 37 Jahren wurde der bilateraler Vertrag zur An-werbung türkischer Arbeiter zwischen Deutschland und der Türkei unterzeichnet. Deutschland brauchte, junge, gesunde, flexible, in allen notwendigen Arbeitsberei-chen einsetzbare Arbeitskräfte. Daher wurden mit einer Reihe von Staaten Verträge zur Anwerbung von Arbeitskräften abgeschlossen, und zwar 1955 mit Italien 1960 mit Spanien und Griechenland 1961 mit der Türkei 1963 mit Marokko 1964 mit Tunesien 1968 mit Jugoslawien.

Je nach Bedarf des deutschen Arbeitsmarktes wurden aus diesen Ländern Arbeiter bis zum Anwerbestop im September 1973 geholt oder ins Herkunftsland zurückge-schickt. Auch die Angeworbenen selbst empfanden ihren Aufenthalt in Deutschland zunächst als vorübergehend. Den Arbeitern folgten nach vielen Jahren die Ehegatten und die Kinder. Mit dem An-werbestop begann ein deutlicher Trend zum Daueraufenthalt.

  • Ausländische Arbeiter waren wegen der Struktur der deutschen Arbeitslosen (Gesundheit, Alter, Bereitschaft zur Teilzeitarbeit und Flexibilität) kaum ersetzbar,
  • Sie haben einen beachtlichen Beitrag zum raschen Aufbau Deutschlands zu einer Wirtschaftsmacht, zu einem hohen Lebensstandard und damit zu den Vorausset-zungen eines Wohlfahrtsstaates geleistet.
  • Wegen der jüngeren Altersstruktur haben sie bis heute maßgeblich zur Finanzie-rung der Renten beigetragen.

Dank der Einwanderung hat sich Deutschland positiv verändert, es ist demogra-phisch jünger, gesellschaftlich bunter und vielfältiger, kulturell reicher geworden.

Die Eingewanderten sind faktisch längst ein fester Bestandteil der deutschen Gesell-schaft geworden. Sie stehen aber rechtlich und politisch außerhalb der Gesellschaft und finden keine gleichberechtigte Aufnahme in ihr. Selbst wenn diese Menschen also seit 20 oder mehr Jahren in Deutschland leben, haben sie

  • rein rechtlich immer noch einen Ausländerstatus,
  • keine politischen Rechte, selbst das kommunale Wahlrecht wurde ihnen höchst-richterlich wieder abgesprochen,
  • weiterhin Erschwernisse bei der Einbürgerung, vor allem ist hier die erzwungene Aufgabe der bisherigen Staatsbürgerschaft zu nennen.

Wir müssen selbst heute noch konstatieren, daß die nichtdeutsche Bevölkerung im Aufenthalts- wie im Arbeitsrecht sowie in politischer und sozialer Hinsicht nach wie vor einer ungleichen Behandlung ausgesetzt ist. Dies hat negative Folgen für das alltägliche Leben dieser Menschen, denn

  • von Arbeitslosigkeit und fehlenden Ausbildungsplätzen sind Türken doppel so hoch betroffen wie ihre deutschen Nachbarn. Bei ihnen betrug die Arbeitslosen-quote im Januar 1998 25,5% gegenüber 11,4% bei den deutschen Altersgenos-sen. Diese extrem hohe Arbeitslosigkeit türkischer Jugendlicher ist nicht allein aus strukturellen Gründen oder durch unterschiedliche Qualifikation erklärbar. Wie Untersuchungen belegen, werden türkische Arbeitssuchende auch wegen ih-rer Herkunft diskriminiert. So wurden bei gleicher Qualifikation insbesondere tür-kische Bewerber um einen Arbeitsplatz massiv benachteiligt, und zwar bei mittle-ren Berufen um 19%, im Dienstleistungssektor zu 23.1% und bei Jobs im Außen-dienst gar zu 40,9%. Auf dem Wohnungsmarkt ist die Benachteiligung noch gravierender. Bei gezielten Testaktionen zur Wohnungssuche wurde festgestellt, daß Menschen, die aufgrund ihrer Sprache bereits am Telefon als Immigranten identi-fizierbar waren, in 90% aller Fälle abgewiesen wurden, auch wenn die Wohnung noch nicht vermietet war.
  • Von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus ist die türkische Bevölkerung Deutsch-lands weit mehr betroffen als Einwanderer aus den meisten anderen Ländern.

Bezogen auf Straftaten mit speziell türkenfeindlichem Hintergrund werden keine Statistiken geführt; nach Auskunft des Bundesinnenministeriums gab es in den Jahren 1991 bis 1996 insgesamt 23.674 Straftaten mit fremdenfeindlichem Hin-tergrund. Im Zuge der ersten Einwanderungswelle in den 60er Jahren kamen meist junge Männer mit einem unterdurchschnittlichen Bildungsniveau nach Deutschland. Seit-dem hat sich jedoch die türkische Bevölkerungsstruktur stark verändert:

  • Aus reinen Arbeitsmigranten wurden Einwanderer. Die jungen Männer holten ihre Frauen nach Deutschland und gründeten Familien, so daß heute besonders in den großen Städten ein beachtlicher Teil der Schulkinder aus der Türkei kommt.
  • Mittlerweile gibt es rund 17 000 Studierende türkischer Herkunft an deutschen Hochschulen,
  • in 55 Wirtschaftsbereichen sind rund 44.000 türkische Selbständige in Deutsch-land tätig, bei denen 200.000 Personen beschäftigt sind. Diese erwirtschaften ei-nen Jahresumsatz von über 36 Mrd. DM.
  • Die Beiträge von Türken zur Rentenversicherung betrugen 1994 über 2,5 Mrd. DM, sie zahlten rund 8,5 Mrd. DM an Lohn- und Einkommensteuer.
  • Weit über 1000 türkische Ärzte und 4000 Lehrer, hunderte von Wissenschaftlern sind in Deutschland beschäftigt.

Trotz der bestehenden Schwierigkeiten nimmt die Zahl derjenigen, die die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben, zu, ca. 9% der Türken, das sind gut 200.000 Perso-nen, haben bereits die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten: Die in mehr als 35 Jahren geschaffenen Realitäten können weder durch Ignoranz noch durch konsequentes Leugnen der Tatsachen aus der Welt geschafft werden. 8,8% der Bevölkerung Deutschlands sind inzwischen Einwanderer und ihre Nach-kommen. Diese Menschen werden dauerhaft in ihrer neuen Heimat Deutschland le-ben, mit ihrer unterschiedlichen Kultur und Religion.

Es kann heute nur darum gehen, das gemeinsame Leben der deutschen Bevölkerung mit den kulturellen Minder-heiten so zu gestalten, daß ein gleichberechtigtes, friedliches und gutnachbarliches Zusammenleben auf Dauer gesichert wird.

Türkische Jugendliche in Deutschland ‘Man fühlt sich heimatlos, man weis nicht, wohin man gehört. In der Türkei bin ich ein Deutschtürke, hier bin ich Türke. In Kreizberg lene ich seit 24 Jahren. Also bin ich Kreuzberger.’ Diese Äußerung eines 24-jährigen Türken, der vier Jahre seines Lebens im Gefäng-nis verbrachte, weil als Mitglied einer türkischen Gang an Gewaltaktionen beteiligt war, beschreibt im Grunde zutreffend die allgemeine Situation vor allem türkischer Jugendlicher. Weder in Deutschland noch im Herkunftsland ihrer Eltern werden sie als zugehörig akzeptiert.

Die Türkei kann, selbst wenn sie es wollte, das Bedürfnis dieser Menschen nach Heimat, nach einem Ort also, an dem ihr Aufenthalt nicht infrage gestellt wird, nicht erfüllen. Menschen wie er, die ihren Lebensmittelpunkt weitgehend in Deutschland hatten, deren kindliche und jugendliche Sozialisation also maßgeblich von einer deutschen Umgebung, Schule, Nachbarschaft, von deutschen Ausbildungs- und Ar-beitsorten geprägt wurde, werden sich in der Türkei stets fremd vorkommen und dort eben auch als Fremde eingestuft werden.

Der Sozialisationsprozeß ist, wie Heitmeyer dazu richtig schreibt, von zahlreichen Anforderungen begleitet. ‘Die personale Identität eines ‘wer bin ich?’ und die sozia-le Identität ‘wozu gehöre ich?’ müssen ausbalanciert werden, um eine eigenständige Identität auszubilden.’

Heinz Kuhn, langjähriger Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und erster Ausländerbeauftagter der Bundesregierung, machte gerade für die Integration der zwei-ten Generation (die dritte hat es damals noch nicht gegeben) in seinem Memoran-dum vom September 1979 weitreichender Vorschläge. Schon damals forderte er

  • Rechtliche Gleichstellung durch Einbürgerung ‘per Postkarte’,
  • Schulische und berufliche Integration durch weitreichende Fördermaßnahmen.

Das Gefühl, nicht in diese Gesellschaft aufgenommen zu sein, vielmehr von ihr dis-kriminiert zu werden, führt als Reaktion zu einer Ghettoisierung. Diese Absonderung und Abschottung führt dazu, daß sich die Minderheit von der Gesellschaft des neuen Heimatlandes abwendet und sich allein zu den eigenen Wurzeln hingezogen fühlt, oft um den Preis einer radikalen Orientierung. Die deutsche Politik hat es leider versäumt, diese sehr konkreten Vorschläge eines erfahrenen Politikers als ein Gesamtpaket umzusetzen. Bis heute, zwanzig Jahre nach diesem Memorandum, sind viele seiner Vorschläge leider immer noch nicht realisiert worden.

Seit den Anschlägen von Rostock, Mölln, Solingen und Lübeck, vor allem aber, seit wir eine andauernde Massenarbeitslosigkeit in Deutschland haben, hat sich die ge-samtgesellschaftliche Atmosphäre stark verändert. Die allgemeine wirtschaftliche Unsicherheit macht sich nur allzu oft Luft durch durch einen verstärkten Druck auf Minderheiten, und diese spüren den Druck durch Diskriminierung. Jeder dritte türki-sche Jugendliche gibt an, bereits ganz konkrete Erfahrungen mit diskriminierender Behandlung gemacht zu haben.

Das berechtigte Gefühl vieler türkischer Jugendlicher nicht gleichberechtigt in die deutsche Gesellschaft aufgenommen zu sein, überdies noch im Alltagsleben diskri-miniert zu werden, führt zur Distanz zu eben der Gesellschaft, der sie sich eigentlich zugehörig fühlen sollten.

Auf der anderen Seite vollziehen Kinder und Jugendliche aus türkischen Familien ihre Sozialisation in einer Gesellschaft, deren Werteorientierung sich erheblich von der ihrer Familie unterscheidet. Daher erfahren sie in der eigenen Familie keine An-erkennung für etwas, was nach den Maßstäben der Mehrheitsgesellschaft durchaus anerkennenswert wäre. Mehr als ein Drittel der türkischen Jugendlichen votieren da-her auch für einen anderen Erziehungsstil als den der Eltern. Der Titel einer Berliner Ausstellung aus dem Jahre 1981 beschreibt dieses Gefühl genau: ‘Morgens Deutschland, abends Türkei’.

In diesem Vakuum, weder der deutschen noch der türkischen Gesellschaft richtig anzugehören, leben aber die meisten türkischen Kinder und Jugendlichen in Deutschland.

Diejenigen von ihnen, die in der Schule erfolgreich sind, die danach einen Ausbil-dungs- oder Arbeitsplatz bekommen, können die dadurch entstehende Orientie-rungslsigkeit wenigstens teilweise kompensieren. Wer aber bereits die Schule ohne Abschluß verläßt, wer danach auf dem Ausbil-dungs- und später dann auf dem Arbeitsmarkt ohne Chancen dasteht, bei ihm verstärkt sich die beschriebene Orientierungslosigkeit hin zur Perspektivlosigkeit. Zwar sind auch die deutschen Jugendlichen vom Problem Arbeitslosigkeit, von ei-nem mangelnden Angebot an Ausbildungsplätzen betroffen. Im Vergleich zu den nichtdeutschen Altersgenossen stellt sich ihre Lage aber vergleichsweise harmlos dar. Dies ist sicherlich auch eine Folge mangelnder schulischer Erfolge: Verließen im Jahre 1995 8,0% der deutschen Kinder die Schule ohne Abschluß, so waren es bei den nichtdeutschen Kindern fast doppelt so viele, nämlich 15,4%. Erhielten 25,9% der deutschen Schüler des gleichen Jahrgangs die Hochschulreife, so lag dieser prozentsatz bei nichtdeutschen Schülern bei 8,9% , bei türkischen Schülern sogar nur bei 6,6%. Diese Ergebnisse liegen weit hinter den Erwartungen türkischer Ju-gendlicher an sich selbst. Danach wollen Laut Aussage von Berufsberatungsstellen in Hamburg erhielt 1996 jeder zehnte nichtdeutsche Bewerber keinen Ausbildungsplatz, bei den deutschen Jugendlichen nur jeder zwanzigste. Der Zug ist noch nicht abgefahren! Eine Reihe oft zusammentreffender Faktoren wie Integrationsdefizite, Perspektivlosigkeit machen viele türkische Jugendliche empfänglich für Gruppen, die der deutschen Gesellschaft skeptisch wenn nicht gar feindlich gegenüberstehen. Sollte es auf Dau-er nicht gelingen, die Mehrheit der türkischen Jugendlichen von diesen Gruppen fernzuhalten, so würden daraus meiner Überzeugung nach ernsthafte Gefahren für den sozialen Frieden wenn nicht gar für die Demokratie erwachsen.

Prof. Dr. Hakkı Keskin, Hochschullehrer Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland e.V.