Als Politikwissenschaftler und Abgeordneter des Deutschen Bundestages mit türkischer Herkunft verfolge ich mit großem Interesse und sehr genau die aktuellen Geschehnisse in der Türkei. Die tiefe Besorgnis über die aktuellen Entwicklungen haben mich veranlasst, diesen offenen Brief an Sie zu verfassen. Ich hoffe, er wird eine angemessene Beachtung finden.
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
ich kann nicht behaupten, besonders erfreut gewesen zu sein, als Sie aus der Wahl 2002 als Sieger hervorgingen und Ihnen anschließend das Amt des Ministerpräsidenten übertragen wurde. Nichtsdestotrotz sprach ich mich stets aufrichtig dafür aus, dass man dieses Wahlergebnis respektieren und Ihnen eine gebührende Chance einräumen müsse. Ich vertrat die Meinung, man müsse abwarten, inwieweit die von den meisten meiner Freunde von Anfang an gegen Sie gehegten Vorbehalte berechtigt seien oder nicht. Aus diesem Grunde schloss ich mich dem Ruf nach vorgezogenen Wahlen nicht an und unterstützte in den ersten Jahren Ihrer Amtszeit die Reformen und die Wirtschaftspolitik, die Ihre Regierung realisierte und einleitete. Diese Haltung habe ich in meinen in den Jahren 2005 und 2006 auf Deutsch veröffentlichten Büchern und Schriften auch unmissverständlich publiziert.
Ich bekannte mich zu dieser Meinung, obwohl ich ein politisch links stehender, aufgeklärter Kemalist bin und den Laizismus als die wichtigste Errungenschaft der Türkei und als den Zement ihres Zusammenhaltes erachte. Nicht wenige meiner Freunde und Gesinnungsgenossen konstatierten schon früh, dass wir gemeinsam erleben würden, wie sehr ich mich mit dieser Einschätzung Ihrer Politik irren sollte.
In der Tat musste ich – vor allem aufgrund der von Ihnen seit Anfang 2007 verfolgten Politik – zunehmend einsehen, dass meine Freunde Recht behalten sollten.
Nach meinem Dafürhalten besteht der größte von Ihnen, Herr Ministerpräsident, sowie auch von Ihrer Partei begangene Fehler darin, dass Sie die türkische Gesellschaft in eine extreme Polarisierung führen. Noch will ich nicht daran glauben, dass Sie dies vorsätzlich und wissentlich tun. Was auch immer die wahren Beweggründe sein mögen, bleibt festzuhalten, dass Ihre Regierung die Verantwortung dafür trägt, dass die türkische Gesellschaft sich gegenwärtig in einer ebensolchen Situation befindet.
Die im Gefolge dieser überaus besorgniserregenden Entwicklungen gegen angesehene und patriotisch gesinnte Bürger der Türkei eingeleiteten Repressionen und Unterdrückungsmaßnahmen sind nicht hinnehmbar, zumal sie auf undemokratischen und unrechtmäßigen Mitteln basieren. Es ist offensichtlich, dass mit den Operationen im Rahmen des so genannten „Ergenekon-Prozesses“ primär das Ziel verfolgt wird, regierungskritische Hochschulangehörige, Medienvertreter sowie Befürworter einer laizistischen und modernen Gesellschaftsordnung mit Verleumdungen zu diskreditieren, sie festzunehmen, ja sie sogar ohne konkrete Anschuldigungen zu verhaften. Zweifelsohne wird dies der kritischen Öffentlichkeit in den westlichen Ländern nicht mehr lange verborgen bleiben. Offen betrachtet kann kein Zweifel daran bestehen, dass es sich bei diesen Repressionen um Vergeltungs- und Racheakte der Befürworter eines „Scharia-Staates“ handelt, die gegen aufrecht kemalistisch, aufgeklärt und laizistisch denkende Menschen gerichtet sind.
Unbestritten bleibt, dass jene Militärs und Zivilisten, die mit staatlicher Unterstützung ungesetzliche Handlungen begingen und begehen, mit aller Entschlossenheit zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Dagegen wird niemand, außer den Straftätern selbst, etwas einzuwenden haben. Es ist jedoch geradezu infam, die Mitglieder der sogenannten „Ergenekon“- Organisation, denen Putschversuche, Rassismus, Nationalismus und die Beteiligung an Morden vorgeworfen wird, mit Bürgern in Verbindung zu bringen, die in keinster Weise eine wie auch immer geartete ideologische, politische oder ethische Nähe zu diesem Personenkreis aufweisen. Zu allem Überfluss geschieht dies im Rahmen eines Rachefeldzuges, der wissentlich im Namen einer angeblich unabhängigenJustiz geführt wird.
Gesetzt den Fall, diese Operationen würden tatsächlich von der sogenannten unabhängigen Justiz durchgeführt, so wäre dies mit den Prinzipien eines wahren Rechtsstaats keinesfalls vereinbar. Ein wahrer Rechtsstaat lässt nicht zu, dass Telefone von hunderttausenden von Menschen ohne Gerichtsbeschluss abgehört werden. In einem wahren Rechtsstaat dürfen ohne richterlichen Beschluss keine Wohnungen durchsucht werden, können ohne zwingenden Beweis keine Menschen mitten in der Nacht aus ihren Betten heraus festgenommen und der herbeizitierten Presse wie Kriminelle vorgeführt werden. Wenn sich die Türkei als Rechtsstaat begreift, dann müssen diese Vorgehensweisen als ungesetzlich und nicht verfassungskonform eingestuft werden. Sollte jedoch diese Vorgehensweisen gesetzeskonform im Sinne der gültigen Gesetze sein, so wären diese mit einem wahren Verständnis von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie nicht in Einklang zu bringen.
Es ist mit dem Prinzip eines Rechtstaates in keinster Weise zu vereinbaren, wenn etwa die Wohnung der krebskranken Professorin Türkan Saylan durchsucht wird, die ihr Leben lang dafür gekämpft hat, Kindern und Jugendlichen aus armen Familien eine Ausbildung zu ermöglichen, wenn die Verantwortlichen des Vereins zur Unterstützung einer modernen Lebensweise („ Çağdas Yaşamı Destekleme Derneği“) vernommen werden, oder wenn Universitätsrektoren, Hochschullehrer oder Medienvertreter, so geschehen mit dem 83-jährigen angesehenen Journalist İlhan Selçuk, wie gewöhnliche Kriminelle verhaftet und verhört werden.
Sehr verehrter Herr Ministerpräsident, aus der Sicht eines Politikwissenschaftlers und Politikers möchte ich zum Ausdruck bringen, dass die soeben geschilderten Zustände in der Türkei zu äußerst Besorgnis erregenden und kritischen Entwicklungen führen könnten, die auch von Ihnen nicht intendiert sein können. Es obliegt zuvorderst Ihrer Verantwortung, die Türkei so schnell wie möglich aus dieser Polarisierung herauszuführen und den sozialen und politischen Frieden wieder herzustellen. Ebenfalls ist es die genuine Aufgabe Ihrer Regierung, die Tugend und die Toleranz an den Tag zu legen, Kritik gegen Sie und gegen Ihre Regierung nicht als eine Straftat, sondern als ein Bürgerrecht und eine Bürgerpflicht anzusehen, auch wenn es sich bei diesen Kritikern um Ihre politischen Gegner handelt. Die ungerechtfertigte und unfundierte Beschuldigung von aufgeklärten, progressiven und laizistischen Denkern, Schriftstellern, Journalisten, Universitätsangehörigen sowie von Nichtregierungsorganisationen und Berufsverbänden muss unterbunden werden.
Ich appelliere an Sie, ohne weiteren Verzug alle nötigen Maßnahmen für das Wohlergehen, den gesellschaftlichen Frieden und die Brüderlichkeit des türkischen Volkes zu ergreifen und in diesem Sinne auch der zur Zeit in der Türkei herrschenden Polarisierung ein Ende zu bereiten. Seien Sie versichert, Sie selbst werden davon am meisten profitieren.
Hochachtungsvoll Prof. Dr. Hakkı Keskin
Dateien:
offener_brief_an_premierminister_erdogan_17.04.2009_deutsch.doc
basbakan_erdogan_a_acik_mektup_17.04.2009.doc
reaktionen_auf_den_erdogan_brief.doc