Rede bei der Versammlung der Cem Vakfı in Istanbul

Versammlung der Cem-Stiftung der Aleviten in Istanbul

Sehr geehrter Vorsitzender der Cem Vakfı, Herr Prof. Dr. İzettin Doğan, Sehr geehrter Herr Minister, Sehr geehrte Mitglieder des Stiftungsrates, Sehr geehrte Presse- und Medienvertreter, Sehr geehrte Teilnehmer und Teilnehmerinnen,

Ich bin geehrt, an dieser wichtigen Versammlung der Cem Vakfı teilnehmen zu können. Denn, unter der Anleitung unseres werten Gelehrten Prof. İzettin Doğan

  • leistet die Cem Vakfı seit Jahren und mit viel Geduld eine äußerst wertvolle Arbeit für die Brüderlichkeit, Einheit und Gleichheit des türkischen Volkes,
  • kämpft die Cem Vakfı tatkräftig für die Weiterentwicklung der Republik Türkei als ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat,
  • geht die Cem Vakfı entschieden und wirksam gegen die separatistisch motivierten Intrigenspiele vor, die vor allem im Ausland gegen alevitischen Bürger initiiert werden.

Die PKK versucht seit Jahren vor allem kurdischstämmige Aleviten mit der Behauptung auf ihre Seite zu ziehen, sie würden in der Türkei nicht gleichberechtigt behandelt. In diesem Punkt verzeichnete die PKK durchaus gewisse Erfolge, auch wenn diese nur sehr beschränkt sind.

Obwohl die Gründe dafür mir nicht bekannt sind, habe ich den Eindruck, dass die äußerst achtenswerte Arbeit der Cem Vakfı von den politischen Entscheidungsträgern nicht in gebührendem Maße geachtet und ausreichend unterstützt wird.

Nach meiner Meinung besteht der gravierende Unterschied zwischen der Politik in der Türkei und der in den westeuropäischen Ländern in folgenden Punkten:

• In der Türkei wird die Tagesordnung weitgehend von aktueller Politik bestimmt. Politische, soziale und wirtschaftliche Probleme, die mittel- und langfristiger Lösungen bedürfen, werden nicht in erforderlichem Maße und rechtzeitig behandelt. Lösungsvorschläge und -ansätze für diese Probleme können nicht rechtzeitig entwickelt werden. • Demgegenüber stehen in westeuropäischen Ländern gesellschaftliche Probleme, die mittel- und langfristige Lösungen brauchen, oft im Mittelpunkt des Interesses. Lösungsorientierte Diskussionen werden geführt, Lösungsvorschläge werden entwickelt.

Ein treffendes Beispiel dafür ist die Nichtberücksichtigung der berechtigten Forderungen der alevitischen Bevölkerung in der Türkei bis heute. Es ist nicht verständlich, dass die politischen Parteien und die Regierung in dieser äußerst wichtigen Frage in diesem Maße gleichgültig bleiben.

Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer,

In ihrer weitesten und am meisten verbreiteten Definition ist die Demokratie eine Herrschaftsform, in der die Macht von der freien Entscheidung des Volkes ausgeht.

Die vom Volk mit der Regierung beauftragten Repräsentanten sind verantwortlich dafür, dass die berechtigten Forderungen des Volkes innerhalb einer angemessenen Zeit erfüllt werden.

• In einer Demokratie sind die Politiker zur Erfüllung der berechtigten Forderungen nicht nur der Mehrheit verpflichtet, sondern auch solche zahlenmäßiger Minderheiten. • Die politischen Autoritäten müssen dies tun, um innerhalb der Gesellschaft die Gleichheit, die Gleichbehandlung, die Brüderlichkeit, die Solidarität zwischen den Individuen und den sozialen Frieden zu gewährleisten und dauerhaft zu erhalten. Anderenfalls kann die Demokratie nicht auf einem soliden Fundament gedeihen, sie kann sogar durch den stetigen Vertrauensmangel in Turbulenzen geraten. • Die Gleichheit und die Gleichbehandlung eines jeden Bürgers bilden die elementaren Grundlagen der Demokratie und des Rechtsstaates. • In diesem Zusammenhang ist es essenziell, dass die Bürger auch in ihrer Religion und ihrem Glauben gleichbehandelt werden und allen Bürgern die gleichen gesetzlichen Rechte und Möglichkeiten eingeräumt werden. • Diese Gleichberechtigung und Gleichbehandlung müssen in einem Rechtsstaat durch gesetzliche Garantien gewährleistet werden.

Das Thema der heutigen Versammlung lautet:

„Die verfassungsrechtliche Absicherung der Glaubensfreiheit für Bürger, die das Islamverständnis der Aleviten, der Bektaschis oder der Mawlawis teilen und die Gewährung der substanziellen Rechte für „Dede“ und „Baba“, so dass sie ihre Aufgaben als religiöse Führer wahrnehmen können.

Ich werde auf die sechs Forderungen eingehen, die 632 alevitische Institutionen und Glaubensführer zum Ausdruck gebracht haben. Gestatten Sie mir jedoch, vorerst folgendes festzuhalten:

• Religiöse Glaubensrichtungen dürfen nicht als richtig oder falsch kategorisiert werden. Sie sollten dies auch nicht. • So wie wir nicht akzeptieren können, dass unser Glaube von Anhängern anderer Glaubensrichtungen als der falsche Glaube betrachtet wird, so müssen wir auch wissen, dass es uns nicht zusteht, den abweichenden Glauben anderer als falsch anzusehen. • Die Achtung und Toleranz, die wir dem Glauben anderer entgegenbringen, ist die Voraussetzung für die Achtung und Toleranz, die wir von anderen für unseren Glauben erwarten. • Aus diesem Grunde ist es meiner Ansicht nach eine zentrale Aufgabe aller politischen Parteien, vor allem aber der Regierung, gesetzliche Sicherheiten zur Gleichbehandlung aller Glaubensrichtungen innerhalb unserer Gesellschaft unverzüglich zu erlassen.

Sehr verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer,

Die Cem Vakfı stellt eine Chance für die Türkei dar. Auch der sehr geehrte Herr Prof. Dr. İzzettin Doğan stellt eine Chance für die Türkei dar. Die alevitische Bevölkerung hat trotz aller Existenz bedrohender Provokationen, denen sie sich von Zeit zu Zeit ausgesetzt sieht, eine äußerst friedliche, das Zusammenleben fördernde und moderate Haltung gezeigt.

Lassen Sie uns nun die sechs Hauptforderungen näher betrachten, die von der Cem Vakfı und 632 alevitischen Institutionen und Glaubensführern aufgestellt wurden. Auch hier sehen wir, mit welchem Mäßigungs- und Verantwortungsgefühl diese Forderungen formuliert wurden.

1- Bei der Verteilung der für Religionsangelegenheiten vorgesehenen Ressourcen aus dem Staatsetat müssen Aleviten dem ihnen zustehenden Anteil entsprechend berücksichtigt werden.

2- Unabhängig davon, ob in Schulen „Religionskultur und Ethik“ als Pflicht- oder Wahlfach angeboten wird, müssen im Unterrichtsfach alle Glaubensrichtungen einschließlich des Alevitentums neutral behandelt werden.

3- Allen Glaubensrichtungen muss ihrem Bevölkerungsanteil entsprechend die Möglichkeit gegeben werden, sich in staatlichen Rundfunk- und Fernsehprogrammen auszudrücken.

4- Der Bau auch von Cem-Häusern muss durch Bereitstellung von Grundstücken und finanzieller Unterstützung gefördert werden.

5- Zwecks Ausbildung von Personen, die in Fragen der Religionsausübung kompetent sind und CEM-Rituale leiten können, müssen Schulen eröffnet und Fachgebiete für Sufismus an unseren Universitäten eingerichtet werden.

6- Das Spielen auf der Langhalslaute „Saz“, eines der ergänzenden Elemente des Glaubens und der Kultur in der Volkstradition, sollte in den Schulen gefördert werden.

Meinem Empfinden nach gibt es keinen Hinderungsgrund, der der Erfüllung dieser äußerst vernünftigen, mit Bedacht formulierten und durch und durch gerechtfertigten Forderungen entgegenstehen würde.

Es ist das natürliche Recht der Bürger alevitischen Glaubens, die einen bedeutenden Teil der Bevölkerung in der Türkei ausmachen, dass sie sehen und erleben können, dass sie auch im Bereich des Glaubens gleichbehandelt und nicht diskriminiert werden.

Mit meinem Brief vom 24. November 2008 an den Staatspräsidenten, den Ministerpräsidenten, den Oppositionsführern und den zuständigen Ministern in der Türkei habe ich diesem meinem Wunsch Ausdruck verliehen. Ich bat sie darum, diesen äußerst gerechtfertigten Forderungen unverzüglich zu entsprechen.

Zu dieser Frage führte ich auch ein Gespräch mit dem Staatsminister Yazıcıoğlu in Berlin. Er ist zuständig für Religionsangelegenheiten. Er brachte dabei zum Ausdruck, dass er diesen Forderungen mit Wohlwollen gegenübersteht. Vor einigen Tagen führten wir miteinander ein Telefongespräch zu diesem Thema. Dabei machte er deutlich, dass die in der Presse veröffentlichte Nachricht über ihn nicht der Wahrheit entspreche.

Bevor ich zum Schluss komme, bitte ich Sie, mir die Gelegenheit zu geben, folgendes deutlich zu machen. Ich stamme aus einer Familie in Trabzon mit sunnitischem Glauben, ich bin also selbst kein Alevit.

Allerdings fühle ich als Politikwissenschaftler und als türkischstämmiger deutscher Parlamentarier eine große Verantwortung auch in dieser Hinsicht.

Ich rufe alle politischen Parteien, vor allem die Regierung, auf, diese äußerst wichtige Aufgabe zur Herstellung des sozialen Friedens ohne weitere Verzögerungen zu erfüllen.

Ich rufe die Presse auf, diese äußerst berechtigten Forderungen der alevitischen Gemeinde entschieden zu unterstützen.

Ich gratuliere der Cem Vakfı nochmals für ihre patriotische und den Frieden fördernde Arbeit. Lieber Herr Prof. İzzettin Doğan, Ihnen und der Cem Vakfı wünsche ich auch in Zukunft viel Erfolg.

Hakkı Keskin