Laßt uns versuchen, die Türkei zu verstehen
Noch nie waren die Beziehungen zwischen den in der Vergangenheit meist befreun-deten Staaten Deutschland und der Türkei so belastet wie heute. Die Äußerung des türkischen Ministerpräsidenten Mesut Yýlmaz, dem nach eigenem Bekunden die Be-ziehungen zu Deutschland sehr wichtig sind, wurde in den Medien fast einhellig mit Empörung aufgenommen und als unangemessene ‘Beschimpfung’ kommentiert. Deutschlands politische Priorität für die osteuropäischen Staaten kann sicherlich nicht geleugnet werden. Diese ist geographisch, sicherheitspolitisch, historisch, kul-turell und nicht zuletzt auch ökonomisch wohl verständlich. Diese Politik Deutsch-lands mit der ‘Lebensraum-Ideologie’ der Vergangenheit zu vergleichen, wenn dies tatsächlich so gemeint war, ist ohne Zweifel unangemessen und auch sachlich nicht richtig.
Allerdings zählt Mesut Yýlmaz nicht gerade zu den Politikern, denen unbedachte Äußerungen nachgesagt werden. Wenn er dennoch in bezug auf die deutsche Tür-kei-Politik solch eine harte Linie eingeschlagen hat, so muß dies hinterfragt werden. Die Türkei macht vor allem Bundeskanzler Kohl für die Luxemburger Entscheidung der EU von Mitte Dezember 1997 verantwortlich, die Türkei nicht in die Liste der Kandidaten für eine Erweiterung der EU aufzunehmen. Zuvor hatten die Regie-rungschefs der christlich-demokratischen Parteien erklärt, die Türkei könne schon deshalb kein Mitglied der EU werden, da sie als ein islamisch geprägter Staat andere kulturelle, humanitäre und religiöse Grundwerte vertrete als die anderen christlichen Mitgliedsstaaten.
Die Enttäuschung, ja Empörung in der Türkei ist insbesondere über diese Haltung sehr groß, da Deutschland stets als ein befreundetes Land angesehen wurde und immer noch wird, zu dem es daher besonders gute Beziehungen gab und weiterhin geben müßte. Während beispielsweise Frankreich, Großbritannien und Spanien der EU-Kandidatur der Türkei wohlwollend gegenüberstehen, ist der Türkei und den meisten Türken die ablehnende Haltung Deutschlands um so unverständlicher.
Aus der Sicht der Türkei ist die Entscheidung von Luxemburg falsch, ungerecht und in keiner Weise akzeptabel. Außer der Türkei sind 11 Länder als zukünftige Beitritts-kandidaten für die EU-Erweiterung vorgesehen. Mit diesen Länder werden mit einer klaren Perspektive Verhandlungen geführt. Keines dieser Länder erfüllt bereits heute die Kriterien für eine Vollmitgliedschaft in der EU. Da für kein Land ein fester Auf-nahmetermin vereinbart wurde, ist sicherlich die Frage erlaubt, warum der Türkei nicht die gleiche Möglichkeit wie den übrigen 11 Erweiterungskandidaten eingeräumt wurde, nämlich mit einer klaren Perspektive über eine EU-Mitgliedschaft zu verhan-deln. Die Mitgliedschaft hätte so lange verzögert werden können, bis alle Kriterien, realisiert worden wären, die auch für die übrigen Kandidaten gelten. Die Entschei-dung über die Aufnahme der Türkei läge damit nach wie vor in der Hand der EU. Die Türkei sieht sich genau hierbei als einzig islamisch geprägtes Land diskriminiert.
Die für die Entscheidung zu Ungunsten der Türkei von der EU in Luxemburg genann-ten Defizite in der wirtschaftlichen Entwicklung, in Menschenrechts- und Minderhei-tenfragen, bei der Demokratisierung; das ungelöste Kurdenproblem sowie eine Lö-sung des Zypernkonflikts mit Griechenland hätten bei den Verhandlungen mit der Türkei zur Bedingung für ihre Aufnahme in die EU gemacht werden könnten. Die Beseitigung dieser Defizite und Konflikte als Voraussetzung für die volle Mitglied-schaft in der EU werden auch von der türkischen Regierung nicht verneint.
Aus der Sicht der Türkei stellt sich jedoch die Frage, inwieweit ähnliche Defizite und Probleme nicht auch bei den meisten der übrigen Erweiterungskandidaten vorhan-den sind. Die Konstituierung nebst dem Reifeprozeß demokratischer Strukturen ist bekanntlich ein langer Prozeß. Die Türkei ist trotz mancher Unterbrechungen seit über einem halben Jahrhundert auf dem Wege zu einer weitgehenden Demokratisie-rung. Würden beispielsweise die baltischen Länder, Rumänien, Bulgarien oder Slo-wenien in Fragen der Demokratisierung, der Menschen- und Minderheitenrechte ei-ner objetiven Vergleichsprüfung mit der Türkei unterzogen, so könnten ähnliche De-fizite auch in diesen Ländern zu beobachten sein. Wirtschaftlich ist die Türkei sogar den meisten anderen Kandidaten überlegen.
Die Lösung des Zypernkonflikts liegt sicherlich nicht allein in der Hand der Türkei, dazu gehören die beiden Konfliktparteien Griechenland und die Türkei zusammen an den Verhandlungstisch. Die Politik der EU, die Lösung der griechisch-türkischen Streitfragen allein von der Türkei zu erwarten, erschwert eine Lösung, da Griechen-land bequem auf seinen Maximalforderungen beharren wird.
Für die Türkei kommt ein weiteres Argument hinzu. Im Unterschied zu den übrigen Erweiterungskandidaten ist sie seit 1963 ein der EG assoziiertes Land. Dem Assozi-ierungsabkommen folgten eine Reihe weiterer Verträge, zuletzt 1997 der Beitritt zur Zollunion, Abkommen, die nach türkischem Verständnis deutliche Hinweise auf eine spätere Vollmitgliedschaft darstellten.
Manche nennen auch die geographische Lage der Türkei als Hinderungsgrung, da der größte Teil des Landes in Asien liege. Auch dieses Argument ist kaum zwingend, gehört doch Zypern geographisch ebenfalls nicht zu Europa.
Angesichts dieser Überlegungen wäre ernsthaft zu fragen, was eigentlich der tat-sächlichen Grund dafür ist, aus 12 Kandidaten für eine EU-Mitgliedschaft allein die Türkei auszuschließen. Hier erhärtet sich der Eindruck, daß sich Europa offensicht-lich, wie auch von manchen Repräsentanten der EU gelegentlich zu hören war, als eine Vereinigung christlicher Staaten begreift, in der eine islamisch geprägte Türkei nichts zu suchen hat. Genau das aber führt für die seit über siebzig Jahren westlich orientierten Menschen in der Türkei, und das sind rund 80 Prozent der Bevölkerung, zu einer tiefen Empörung, Verbitterung und Verletzung. Diese Position der EU gibt den islamischen Fundamentalisten, die aus religiösen und kulturellen Gründen eben-falls gegen eine westlich orientierte Integration der Türkei sind, kräftigen Auftrieb. Ihre Behauptung, das christlische Europa werde die türkische Idendität vernichten und diese niemals als gleichberechtigtes Mitglied Europas anerkennen, wird damit bestätigt.
Appell zur Korrektur der Luxemburger Entscheidung
Die EU darf nicht als ein Christenclub verstanden werden. Eine laizistische, demo-kratische Türkei wäre als ein islamisch geprägtes Land für die mehrheitlich christlich geprägte EU in jeder Hinsicht eine Bereicherung. Bereits heute leben in den Staaten der EU weit über acht Millionen Immigranten islamischen Glaubens nebst ihren Kin-dern und Enkeln, und zwar keineswegs provisorisch sondern dauerhaft. Ihre Zahl beträgt allein in Deutschland rund drei Millionen. Diese kulturelle Vielfalt darf nicht als Bedrohung Deutschlands und EU verstanden werden, sondern als Bereicherung, als eine Chance für die Fähigkeit der EU-Staaten, auch andere Religionen und Kul-turen zu integrieren und als ein Teil von sich zu betrachten. Eine allein nach den Pri-oritäten der Religion und der Kultur definierte EU wäre im 21., dem Jahrhundert der globalen Verflechtungen, sicherlich unzeitgemäß.
Wie auch die sonstigen Erklärungen für den Ausschluß der Türkei bei dem Luxem-burger Beschluß sein mögen, sie sind nicht überzeugend. Deshalb muß diese Ent-scheidung überdacht und korrigiert werden. Für die mittel- und langfristigen Interes-sen der EU ist die Türkei als ein Stabilitäts- und Machtfaktor im Nahen Osten unver-zichtbar. Als ein der westlichen Zivilisation und dem westlichen Wertesytem verbun-denes laizistisches, gleichwohl islamisch geprägtes Land könnte die Türkei auch für die gesamte islamische Welt von rund anderthalb Milliarden Menschen einen Mo-dellcharakter haben und als Orientierung gegen fundamentalistische und dem Wes-ten feindlich gesinnte Bewegungen und Kräfte dienen.
Deutschland sollte zu einer Korrektur der Luxemburger Beschlüsse die Initiative er-greifen, damit die Belastungen der deutsch-türkischen Beziehungen beheben und dem traditionell freundschaftlichen Verhältnis zur Türkei einen unermeßlichen Dienst erweisen, nicht zuletzt auch im Interesse der in Deutschland beheimateten Türken.