Zwischen Integration und Selbstbehauptung

- Zur Situation der Türkischen Gemeinden in Deutschland.

Am 30. Oktober 1961, also vor rund 35 Jahren wurde der bilateraler Vertrag zur Anwerbung türkischer Arbeiter zwischen BRD und der Türkei unterzeichnet. Deutschland brauchte, junge, gesunde, flexible, in allen notwendigen Arbeitsbereichen einsetzbare Arbeitskräfte. Daher wurden mit einer Reihe von Staaten Verträge zur Anwerbung von Arbeitskräften abgeschlossen, und zwar

  • 1955 mit Italien
  • 1960 mit Spanien und Griechenland
  • 1961 mit der Türkei
  • 1963 mit Marokko
  • 1964 mit Tunesien
  • 1968 mit Jugoslawien.

Je nach Bedarf des deutschen Arbeitsmarktes wurden aus diesen Ländern Arbeiter bis zum Anwerbestop im September 1973 geholt oder ins Herkunftsland zurück-geschickt. Auch die Angeworbenen selbst empfanden ihren Aufenthalt in Deutschland zunächst als vorüberge-hend.

Den Arbeitern folgten nach vielen Jahren die Ehegatten und die Kinder. Mit dem Anwerbestop begann ein deutli-cher Trend zum Daueraufenthalt.

  • Ausländische Arbeiter waren wegen der Struktur der deutschen Arbeitslosen (Gesundheit, Alter, Be-reitschaft zur Teilzeitarbeit und Flexibilität) kaum ersetzbar,
  • Sie haben einen beachtlichen Beitrag zum raschen Aufbau Deutschlands zu einer Wirtschaftsmacht, zu einem hohen Lebensstandard und damit zu den Voraussetzungen eines Wohlfahrtsstaates geleis-tet.
  • Wegen der jüngeren Altersstruktur haben sie bis heute maßgeblich zur Finanzierung der Renten beigetragen.

Dank der Einwanderung hat sich Deutschland positiv verändert, es ist demographisch jünger, gesellschaftlich bunter und vielfältiger, kulturell reicher geworden.

Die Eingewanderten sind faktisch längst ein fester Be-standteil der deutschen Gesellschaft geworden. Sie ste-hen aber rechtlich und politisch außerhalb der Gesell-schaft und finden keine gleichberechtigte Aufnahme in ihr. Selbst wenn diese Menschen also seit 20 oder mehr Jahren in Deutschland leben, haben sie

  • rein rechtlich immer noch einen Ausländerstatus,
  • keine politischen Rechte, selbst das kommunale Wahlrecht wurde ihnen höchstrichterlich wieder abge-sprochen,
  • weiterhin Erschwernisse bei der Einbürgerung, vor allem ist hier die erzwungene Aufgabe der bisheri-gen Staatsbürgerschaft zu nennen.

Wir müssen selbst heute noch konstatieren, daß die nichtdeutsche Bevölkerung im Aufenthalts- wie im Ar-beitsrecht sowie in politischer und sozialer Hinsicht nach wie vor staatspolitisch gewollter Diskriminierung ausge-setzt ist. Dies hat negative Folgen für das alltägliche Le-ben dieser Menschen, denn- von Arbeitslosigkeit und fehlenden Ausbildungsplätzen sind Türken doppel so hoch betroffen wie ihre deut-schen Nachbarn. – von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus ist die türkische Bevölkerung Deutschlands weit mehr be-troffen als Einwanderer aus den meisten anderen Ländern.

Leider waren die vergangenen Jahre von unzähligen rassistisch motivierten Gewalttaten gegen die Einwanderer, vor allem aber gegen uns Türken, gekennzeichnet. Unvergeßlich, weil besonders grausam und barbarisch, werden für uns die Ereignisse von Mölln, Solingen, Rostock, Hoyerswerda und Lübeck bleiben. Wir haben durch unsere massenhaften Protestdemonstrationen, mit Hilfe zahlreicher Pressegespräche und -eklärungen versucht, die deutsche, die türkische und die Weltöffentlichkeit über die ernsten Gefahren und die Bedrohung für die nichtdeutsche Bevölkerung durch diese neue Gewalt aufmerksam zu machen. Wir haben konkrete Maßnahmen von den Regierungen gegen alle verlangt, die derartige Verbrechen begehen wie auch insbesondere gegen ihre geistigen Wegbereiter. Die Verabschiedung eines Antidiskriminierungsgesetzes, ähnlich denen in vielen anderen Staaten, gehört zu unseren Grundforderungen, um mit Hilfe dieses Gesetzes der Diskriminierung und der rassistischen Gewalt entschiedener entgegentreten zu können. Auch hierbei konnte eine gewisse Sensibilisierung der politisch Verantwortlichen erreicht werden. Die Verabschiedung eines solchen Gesetzes steht in der Kooperationsvereinbarung der Regierungsparteien wie auch in der Regierungserklärung des Senats von Hamburg und wurde auch bereits von der Bürgerschaft beschlossen. Wie ernst dies gemeint ist, werden wir noch sehen. Die GAL hat hierzu in der Bürgerschaft einen Gesetzentwurf eingebracht.

Im Zuge der ersten Einwanderungswelle in den 60er Jahren kamen meist junge Männer mit einem unter-durchschnittlichen Bildungsniveau nach Deutschland. Seitdem hat sich jedoch die türkische Bevölkerungsstruk-tur stark verändert:

  • Aus reinen Arbeitsmigranten wurden Einwanderer. Die jungen Männer holten ihre Frauen nach Deutschland und gründeten Familien, so daß heute besonders in den großen Städten ein beachtlicher Teil der Schul-kinder aus der Türkei kommt.
  • Mittlerweile gibt es rund 17 000 Studierende türkischer Herkunft an deutschen Hochschulen,
  • in 55 Wirtschaftsbereichen sind rund 37.000 türkische Selbständige in Deutschland tätig, bei denen 135.000 Personen beschäftigt sind. Diese erwirtschafteten ei-nen Jahresumsatz von ca. 31 Mrd. DM.
  • Der Rentenbeiträge der Türken betrugen 1994 über 2,5 Mrd. . DM, weiter zahlten sie rund 8,5 Mrd. DM an Lohn- und Einkommensteuer.
  • Weit über 1000 türkische Ärzte und 4000 Lehrer, hunderte von Wissenschaftlern sind in Deutschland beschäftigt.

Trotz der beschriebenen Schwierigkeiten nimmt die Zahl derjenigen, die die deutsche Staatsangehörigkeit erwer-ben zu:

  • 1991 3.529
  • 1992 7.377
  • 1993 12.915
  • 1994 19.390

1995 dürfte diese Zahl bereits über 25.000 liegen und in diesem Jahr noch deutlich darüber. Diese Entwicklung ist zu begrüßen, aber bei einer Bevölkerungszahl von mehr als 2,3 Mio. Türken in Deutschland weiterhin viel zu ge-ring.

Die in 35 Jahren geschaffenen Realitäten können weder durch Ignoranz noch durch konsequentes Leugnen der Tatsachen aus der Welt geschafft werden. 8,8% der Be-völkerung Deutschlands sind inzwischen Einwanderer und ihre Nachkommen. Diese Menschen werden dauer-haft in ihrer neuen Heimat Deutschland leben, mit ihrer unterschiedlichen Kultur und Religion. Es kann heute nur darum gehen, das gemeinsame Leben der deutschen Bevölkerung mit den kulturellen Minderheiten so zu ges-talten, daß ein gleichberechtigtes, friedliches und gut-nachbarliches Zusammenleben auf Dauer gesichert wird. Die von allen im Bundestag vertretenen politischen Par-teien seit Jähren propagierte Integration der hier dauer-haft lebenden nichtdeutschen Bevölkerung ist aus den oben genannten Gründen auf der Strecke geblieben. Un-ter Integration verstehe ich nicht Assimilation, d.h. die völlige Aufgabe der eigenen kulturellen Identität, des ei-genen ‘Ich’. Für mich bedeutet Integration vielmehr die Angleichung, Gleichstellung und Gleichbehandlung in rechtlicher, sozialer, politischer und kultureller Hinsicht. also die gleichberechtigte Aufnahme in die deutsche Ge-sellschaft. Integration sollte nicht die Aufgabe der eige-nen kulturellen Identität bedeuten.

Kulturelle Identität ist nicht etwas eingefrorenes, stati-sches, sondern vielmehr etwas dynamisches. Sie wird durch die Mehrheitskultur selbstverständlich weiter be-reichert und weiter entwickelt.

Die Aufnahme von kulturellen Minderheiten in die deut-sche Gesellschaft bietet eine Chance zu einer reicheren neuen Mischkultur. Die besseren Seiten beider Kulturen werden dabei übernommen und weiterentwickelt. Integ-ration ist ein zweiseitiger Prozeß. Beide Seiten, die Mehrheitsbevölkerung und die kulturellen Minderheiten, sollten tolerant, offen, dialogwillig und -fähig sein. Sie sollten versuchen, Vorurteile abzubauen, im Austausch miteinander voneinander zu lernen. Die Menschen aus unterschiedlichen Kulturen leben nicht nebeneinander, sondern miteinander, sie lernen sich kennen, sie tolerieren sich nicht nur, sie sind bereit, ihre Unterschiedlichkeiten zu akzeptieren, nämlich daß sie anders sind und seien dürfen.

Deshalb sprechen wir seit Jahren von einer interkulturel-len Erziehung. Wir haben die Chance, unsere Kinder in Schulklassen mit Kindern unterschiedlicher Herkunft und Kultur zu toleranten, dialogfähigen und vorurteilsfreien Menschen zu erziehen.

Deshalb sprechen wir auch seit Jahren von einer multi-kulturellen Gesellschaft in Deutschland. Unterschiedliche Kulturen sollten nicht als Bedrohung, sondern als Berei-cherung verstanden und betrachtet werden.

In ‘Die Zeit’ vom 23. August 1996 ist im Dossier unter den Überschriften ‘Zuflucht in der Moschee’ und ‘Zu-kunft in der Abkehr?’ eine ausführliche Analyse über türkische Jugendliche unter anderem von Prof. Heitmey-er erschienen. Man kann die Quintessenz dieser Aufsät-ze in aller Kürze auf den Nenner bringen: ‘Weil die türki-schen Jugendlichen in Deutschland nicht heimisch wer-den können, suchen sie Trost im Koran und Geborgen-heit im Islam.’ Es wird dargelegt, daß die Anfälligkeit für Fundamentalismus gerade bei diesen Jugendlichen sehr groß ist.

Wir haben jahrelang vor dieser Gefahr gewarnt. Es ist nicht verwunderlich, wenn in Hamburg geborene Men-schen, die hier zur Schule gehen und ihre Ausbildung machen, als Ausländer mit einem Sonderrecht und somit einem minderen Rechtsstatus behaftet werden, wenn diese Menschen sich von der Gesellschaft, die sie nicht anzunehmen bereit ist, entfernen.

Heinz Kuhn, langjähriger Ministerpräsident von Nord-rhein-Westfalen und erster Ausländerbeauftagter der Bundesregierung, machte gerade für die Integration der zweiten Generation (die dritte hat es damals noch nicht gegeben) in seinem Memorandum vom September 1979 weitreichender Vorschläge. Schon damals forderte er

  • Rechtliche Gleichstellung durch Einbürgerung ‘per Postkarte’,
  • Schulische und berufliche Integration durch weitrei-chende Fördermaßnahmen.

Das Gefühl, nicht in diese Gesellschaft aufgenommen zu sein, vielmehr von ihr diskriminiert zu werden, führt als Reaktion zu einer Ghettoisierung. Diese Absonderung und Abschottung führt dazu, daß sich die Minderheit von der Gesellschaft des neuen Heimatlandes abwendet und sich allein zu den eigenen Wurzeln hingezogen fühlt, oft um den Preis einer radikalen Orientierung.

Deshalb versuchen wir die Interessen der türkischen Be-völkerung durch eine demokratisch-pluralistische Orga-nisation zu vertreten. Daher haben wir am 2. Dezember 1995 die ‘Türkische Gemeinde in Deutschland’ gegrün-det. Dieser Dachverband vertritt unabhängig von der je-weiligen politischen und religiösen Überzeugung unter-schiedliche Vereine von rechtskonservativer, religiöser, liberaler und sozialdemokratischer Orientierung, von Ar-beitern und Akademikern bis zu Selbständigen und Un-ternehmensverbänden. Damit wollen wir die bislang meist ‘schweigende Mehrheit’ der türkischen Bevölke-rung, die sich zu den demokratischen und rechtsstaatli-chen Prinzipien der deutschen Gesellschaft bekennt und jede Form der Gewalt kategorisch ablehnt, aktiv in das politische Leben einbinden.

Vor genau 35 Jahren, am 30. Oktober 1961, wurde der bilaterale Vertrag zur Anwerbung türkischer ‘Gastarbei-ter’ zwischen Deutschland und der Türkei unterzeichnet. Doch immer noch haben die in den Deutschland leben-den Türken einen Ausländerstatus.

Wir, Einwanderer türkischer Herkunft in der Bundesrepu-blik Deutschland, wollen nichts anderes, denn als gleich-berechtigte Bürger in Deutschland zu leben. Deshalb tre-ten wir seit Jahren für eine erleichterte Einbürgerungspo-litik ein.

Die Vorstellung mancher politischen Kreise, mehr als 7 Millionen Menschen (das sind 8,8% der Bevölkerung!) auf Dauer als Ausländer, d.h. einem Sondergesetz mit minderen Rechten unterworfen, hier leben zu lassen, ist nicht nur perspektivlos, sie birgt auch in vielerlei Hinsicht ernsthafte Gefahren für ein friedliches Zusammenleben, ja sogar für die Demokratie in Deutschland. Die histori-schen Erfahrungen zeigen, daß ungleiche Behandlung von Millionen von Menschen letztlich zu Unruhen führt.

Ein nicht gleichberechtigtes Zusammenleben wird vor al-lem die zweite und dritte Generation der Einwanderer auf keinen Fall als Dauerzustand akzeptieren wollen. Wie auch immer die Begründung für eine solche ungleiche Rechtsstellung seitens mancher Politiker sein mag, dies werden Menschen, die in Deutschland geboren wurden, die in Hamburg, Berlin, Köln oder München groß gewor-den oder zur Schule gegangen sind, nicht hinnehmen. Gegenüber diesen Menschen, denen es schon heute teilweise schwer fällt, sich mit ihren Eltern in Türkisch, Griechisch, Italienisch oder Spanisch zu unterhalten, ist es nicht nur inhuman und unvernünftig, sie weiterhin als Ausländer zu behandeln, es ist provozierend. In einer derartigen Behandlung steckt ohne Zweifel ein großes Konfliktpotential.

Auf der anderen Seite lädt eine rechtliche Aussonderung der hier ansässigen ‘Ausländer’ in besonderem Maße zur Ausländerfeindlichkeit ein.

Der nach Arbeit und Wohnung suchende Deutsche, der die komplizierten Zusammenhänge der Gründe für seine Lage nicht verstehen kann, sieht in den rechtlich und po-litisch als Ausländer Ausgesonderten und somit nicht in die deutsche Gesellschaft Aufgenommenen die Ursache seiner Notlage. ‘Mit welchem Recht’, fragt sich daher mancher Deutsche, ‘soll ich ohne Arbeit und Wohnung sein, wo doch viele Ausländer beides haben?’ In dieser Haltung wird er von einigen Politikern gar noch bestätigt, obwohl er wissen sollte, daß die Türken von Arbeitslo-sigkeit doppelt so hoch betroffen sind wie ihre deutschen Kollegen. Auch auf dem freien Wohnungsmarkt haben sie meist sehr große Probleme bei der Wohnungssuche, weil sie vielfach durch Sprache und Aussehen als ‘Aus-länder’ erkennbar sind.

Wie aber wäre es, wenn diese sogenannten Ausländer deutsche Staatsbürger wären und auch von der Politik als gleichberechtigte Bürger behandelt würden? Es ist uns durchaus bewußt, daß Ausländerfeindlichkeit nicht allein mit dem Rechtsstatus der Einwanderer zu erklären oder gar zu lösen ist. Wir sind jedoch der festen Über-zeugung, die meisten derer, die für Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot die Ausländer verantwortlich machen, würden dies nicht tun, wenn sie es mit deutschen Staatsbürgern zu tun hätten.

Selbstverständlich wird die deutsche Staatsbürgerschaft allein die Ausländerfeindlichkeit nicht beseitigen können, ihr Nährboden könnte dadurch jedoch maßgeblich ein-geengt werden.

Deutschland steht nun vor der entscheidenden Frage, wie der Realität der Arbeitsimmigration, wie der vollzo-genen und nicht mehr umkehrbaren Einwanderung der letzten vier Jahrzehnte Rechnung getragen werden soll. Welche Lösungsvorschläge sind wirklich geeignet, die rechtliche Angleichung der Einwanderer an die Einheimi-schen zu ermöglichen?

Mit dieser Frage haben wir uns im letzten Jahrzehnt sehr intensiv auseinandergesetzt.

Antworten, die nicht die völlige rechtliche Gleichstellung der Einwanderer zum Ziel haben, bieten auf Dauer keine Lösung. Wenn wir von Menschen sprechen, die dauer-haft in der Bundesrepublik bleiben wollen, und von de-nen ist hier die Rede, so können und wollen diese Men-schen den immer noch bestehenden Status mit einge-schränkten staatsbürgerlichen Rechten nicht mehr hin-nehmen. Auch die Türkische Gemeinde und ihre Mitglie-derorganisationen werden sie in dieser Haltung bestär-ken.

Weshalb die doppelte Staatsbürgerschaft?

Bei der Durchsetzung der völligen rechtlichen Gleichstel-lung zwischen der deutschen und der Einwandererbevöl-kerung sehen wir zur Einbürgerung keine Alternative. Unbestritten erschweren jedoch eine Reihe von Hürden die Einbürgerung. Das Haupthindernis bei der Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft ist ohne Zweifel die erzwungene Aufgabe der Staatsbürgerschaft des Her-kunftslandes. Eine Reihe durchaus nachvollziehbarer Gründe aber verhindert die Entscheidung, auf die ange-stammte Staatsbürgerschaft zu verzichten. Die Men-schen aus dem Mittelmeerraum verbinden mit einem sol-chen Verzicht eine Art von Verrat und die Vorstellung, der ehemaligen Heimat und den dort lebenden Verwand-ten und Freunden den Rücken zu kehren. Dies aber wird als eine Absage an alles, was im Herkunftsland geblie-ben ist, betrachtet und verbindet sich mit Schuldgefüh-len, wird somit oft zu einem großen psychologischen Problem. Die Bewältigung dieses Zwiespaltes wird über-dies noch erschwert, wenn der Einbürgerungswillige nicht selten feststellen muß, daß er von der Politik und Teilen der deutschen Gesellschaft abgelehnt und weder akzeptiert noch toleriert wird. Der Einbürgerungswillige befürchtet also, am Ende ohne Kompensation für die Aufgabe seiner bisherigen Staatsbürgerschaft und den damit verbundenen Verlust vieler emotionaler Bindungen dazustehen, weil die neue Gesellschaft ihn nicht an-nimmt. Die Angst, am Ende gar nichts mehr in Händen zu halten, keinen Boden mehr unter den Füßen zu ha-ben, verhindert dann sehr oft eine Entscheidung für die neue Gesellschaft, die ihm nicht Heimat sein will.

Auch die zunehmende Ausländerfeindlichkeit nach der deutschen Wiedervereinigung, insbesondere durch die Ereignisse von Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solin-gen, hat dazu beigetragen, die Einwanderer zu verunsi-chern. Viele von ihnen wollen sich daher zumindest die Option auf eine spätere Rückkehr offenhalten und dann nicht wiederum als ‘Ausländer’, diesmal im Herkunfts-land, leben müssen.

Zu diesen Aspekten kommen weitere rechtlich-materielle Hindernisse. Die Arbeitsimmigration vor allem aus den Mittelmeerländern in die Staaten Nord- und Mitteleuro-pas hat einen ganz anderen Charakter als die klassi-schen Auswanderungen nach Nordamerika oder Austra-lien. Die Nähe, schnelle Verkehrsanbindungen und die damit verbundenen ständigen Kontakte zu den Verwand-ten und damit zum Herkunftsland, die Urlaubsaufenthalte sowie der Besitz von Wohnungen oder Grundstücken machen staatsbürgerliche Bindungen oft notwendig.

Für die Bundesrepublik Deutschland entstehen aus die-sen Bindungen und Kontakten der Doppelstaatsbürger keinerlei Nachteile. Im Gegenteil: ein Deutschland mit Millionen von Bürgern mit zwei Staatsbürgerschaften würde bedeuten, daß diese Menschen eine für beide Seiten fruchtbare Brücke vor allem für menschliche und kulturelle Beziehungen zwischen Deutschland und den Herkunftsländern und -orten dieser Bürger knüpfen wür-den. Diese Bindungen stellen nicht nur eine wichtige Be-reicherung des kulturellen Lebens dar, sie werden sich auch für die politische Entwicklung Deutschlands als vor-teilhaft erweisen.

Die Kritiker doppelter Staatsbürgerschaften führen als Argument ins Feld:

  • Doppelstaatsbürger wären privilegiert, da sie die für sie jeweils günstigsten Bedingungen frei wählen könnten,
  • durch viele Doppelstaatsbürger entstünden Probleme in den zwischenstaatlichen Beziehungen,
  • die Loyalitätsfrage bliebe ungeklärt.

Die Doppelstaatler genießen faktisch nur in dem Staat, in dem sie leben, staatsbürgerlichen Rechte und sind damit allen Rechten und Pflichten allein des neuen Staates un-terworfen. Solange sie sich in ihrer neuen Heimat aufhal-ten, ruht die Staatsbürgerschaft des Herkunftslandes und hat daher keine praktische Bedeutung. Es wäre somit völlig problemlos, nicht nur den Einwanderern in der Bundesrepublik zwei Staatsbürgerschaften zuzugeste-hen, wir wünschen uns dies für alle Arbeitsimmigranten mit ihren Familien, also für mehr als 20 Millionen Men-schen, die heute in den Staaten der Europäischen Union leben. In anderen EU-Staaten haben auch bereits viele Millionen Immigranten die doppelte Staatsbürgerschaft.

Auch die ‘Probleme in den zwischenstaatlichen Bezie-hungen’ sind in den letzten Jahren weitgehend gegens-tandslos geworden, da die westeuropäischen Staaten alle aufgetretenen Schwierigkeiten wie z.B. bei der Wehrpflicht inzwischen durch bilaterale Vereinbarungen aus der Welt geschafft haben.

Ungeachtet aller politischen Attacken gegen doppelte Staatsbürgerschaften leben selbst nach vorsichtigen Schätzungen etwa 2 Mio. Doppelstaatler allein in Deutschland. Kinder aus binationalen Ehen können bei-spielsweise die Staatsbürgerschaft beider Eltern erwer-ben; und auch alle Aussiedler aus Osteuropa erhalten die deutsche Staatsbürgerschaft, ohne daß sich die Be-hörden noch um den Paß des Herkunftslandes kümmern würden.

Trotz der vielen Doppelstaatler ergaben sich aus deren zwei unterschiedlichen Staatsbürgerschaften bislang keine nennenswerten Probleme. Das vehemente Eintre-ten mancher Politiker dagegen ist also allein ideologi-schen Vorbehalten geschuldet, für die es keinerlei ratio-nale Gründe gibt.

Die Frage nach der Loyalität ist nicht allein mit der Staatsbürgerschaft zu begründen. Der Erwerb der deut-schen Staatsbürgerschaft ist für jeden Einwanderer ein sehr weitreichender und bedeutender Schritt für das Zu-gehörigkeitsgefühl zu dieser Gesellschaft und deren Staatswesen. Doch die Einwanderer werden bis zur drit-ten oder gar vierten Generation ihre Herkunft sicher nicht verleugnen wollen, ist diese Herkunft doch für viele ein unverzichtbarer Teil ihrer Identität. Diese emotionalen Bindungen an die Heimat der Eltern und Großeltern füh-ren ganz sicher nicht zu einem Loyalitätskonflikt. Auch die Siebenbürger Schwaben in Rumänien, die Wolga-deutschen in Rußland oder Kasachstan oder die deutschstämmigen US-Amerikaner bekennen sich zum Herkunftsland Deutschland. Doch insbesondere die US-Amerikaner deutscher Abstammung bekennen sich zu ihrem Staat, weil sie dort in aller Regel eine gleichbe-rechtigte Aufnahme gefunden haben. Bei den Wolga-deutschen oder den Siebenbürger Schwaben ist dies vielleicht nicht im gleichen Maße der Fall. Loyalität hängt demnach weitgehend davon ab, wie die Mehrheitsgesell-schaft in der neuen Heimat mit ihren Einwanderern um-geht, kaum davon, ob der Neubürger einen oder zwei Pässe in seiner Tasche trägt.

Der Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft darf je-denfalls nicht so verstanden werden, daß die Eingebür-gerten ihrer Herkunftssprache, Religion oder ihrer kultu-rellen Werte verlustig gehen müssen. Integration darf nicht mit Assimilation verwechselt werden. Auch nach dem Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft muß die dynamisch gemeinte und sich erweiternde kulturelle I-dentität und Vielfalt der Minderheiten bewahrt und ge-pflegt werden.

Daher fordern wir:

1. Unsere in Deutschland geborenen Kinder müssen automatisch die Staatsbürgerschaft ihres Geburts-landes erwerben, wie dies auch bei den meisten unserer Nachbarn längst der Fall ist;

2. einen Anspruch auf den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft nach längstens achtjährigem rechtmäßigen Aufenthalt, und zwar ohne die er-zwungene Aufgabe der bisherigen, also unter Hin-nahme der doppelten Staatsbürgerschaft;

3. eine Bearbeitung der Anträge auf Einbürgerung inner-halb einer Frist von drei Monaten.

Prof. Dr. Hakký Keskin, Hochschullehrer Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Ham-burg e.V.