EU-Kandidat Türkei Die Kopenhagener Kriterien und die Menschenrechtsfrage
Lassen Sie mich vorab einige grundsätzliche Bemer-kungen zum Thema machen.
Der staatliche Vorgänger der Republik Türkei, das Os-manische Reich, war auch eine europäische Macht. Über Jahrhunderte hielt es des gesamten Balkanraum unter seiner Kontrolle und grenzte direkt an die mittel-europäische Zentralmacht Österreich.
Die aus dieser Konstellation erwachsene Westorientie-rung ist seit Gründung der modernen Türkei vor 77 Jah-ren Teil der Staatsdoktrin und war für ihren Gründer Kemal Atatürk die Basis ‘für das Erreichen des Ni-veaus der zivilisierten Welt.’
Ich möchte diese Westorientierung anhand einiger Bei-spiele deutliche machen:
1. Die Türkei gehört seit rund 50 Jahren zur NATO und ist damit nicht nur militärisch in das westliche Verteidigungssystem integriert,
2. sie hat sich stets auch als verlässlicher Partner die-ses Bündnisses erwiesen, sei es als unmittelbarer Nachbar der ehemaligen Sowjetunion, sei es beim gemeinsamen Vorgehen gegen den Diktator Sad-dam Hüseyn, 3. sie ist der einzige Vertreter der islamischen Welt, der konsequent für das westlich-demokratische Wertesystem eintritt,
4. sie ist seit 1963 mit der EU durch Assoziierungsab-kommen verbunden,
5. seit 1996 ist sie Mitglied der Zollunion der EU,
6. sie stellt eine geographische, sprachliche und politi-sche Brücke zu den turksprachigen Republiken der ehemaligen Sowjetunion dar, einer Region mit den größten Erdöl- und Erdgasreserven der Welt,
7. sie ist in der Krisenregion ‘Nahost’ ein Faktor poli-tischer Stabilität,
8. mit der Aufnahme in die Gruppe der Erweiterungs-kandidaten hat die EU dieser Westorientierung der Türkei Rechnung getragen und sollte nun daran gehen, diese in die europäischen Institutionen zu integrieren.
Aus diesen Gründen haben wir als ‘Türkische Gemein-de in Deutschland’ die Entscheidung von Helsinki vom Dezember 1999 begrüßt, die die Luxemburger Be-schlüsse revidierte und die Türkei in die Liste der Bei-trittskandidaten aufnahm.
Mit dieser zukunftsträchtigen Entscheidung haben die EU-Repräsentanten bewiesen, dass die Europäische Union auch ein nichtchristliches Land als zukünftiges Mitglied akzeptiert. Somit wurde all denjenigen eine Ab-sage erteilt, welche die EU als einen Christenclub ver-standen wissen wollten.
Diese für die Türkei wichtige Entscheidung wird dem Demokratisierungsprozess in der Türkei einen kräftigen Auftrieb geben und die rasche Umsetzung der ‘Kopen-hagener Standards’ ermöglichen. Diese Standards ge-hören seit Jahren zu den zentralen Anliegen großer Tei-le der türkischen Bevölkerung, nämlich mehr Demokra-tie sowie die Behebung der Defizite in Menschenrechts- und Minderheitenfragen. Dazu gehören auch gutnach-barliche Beziehungen zu Griechenland. Wenn diese Kriterien als aufrichtig gemeinte Forderungen und nicht als Vorwand für ein Hinauszögern der vollen Mitglied-schaft der Türkei gemeint sind, können wir sie aus vol-lem Herzen begrüßen.
Wie schon gesagt, war es seit Gründung der Republik Türkei am 29.Oktober 1923 das erklärte Ziel ihres Gründers Atatürk, die Türkei an das zeitgenössische Entwicklungsniveau anzuheben. Trotz politischer und gesellschaftlicher Turbulenzen hat sich die türkische Bevölkerung von diesem Weg nicht abbringen lassen. Die Entscheidung von Helsinki trägt dieser Tatsache Rechnung und ist ein wichtiger Meilenstein auf diesem Weg.
Was aber bedeutet die Erfüllung der Kopenhagener Beschlüsse für die Türkei? Wie ich diese Beschlüsse verstehe, sind danach vor einem Beitritt folgende Krite-rien zu erfüllen:-Gewährung der Grundrechte und -freiheiten wie sie in den Grund- und Menschenrechten der Charta der Ver-einten Nationen festgelegt sind, -Abschaffung der Todesstrafe, -freie Entfaltung und Betätigung nicht staatlicher Orga-nisationen (NGO), -Abschaffung der Folter, -Verbesserung der Lage in den Gefängnissen, -kulturelle Rechte für die kurdische Bevölkerung, d.h.:
- Recht auf Erlernen der Muttersprache
- Pressefreiheit, auch in kurdischer Sprache
- Hilfen bei der wirtschaftlichen Entwicklung der Re-gion
- Beseitigung der regionalen Unterschiede
- Privatisierung
Meiner Beobachtung nach tritt der Mehrheit der türki-schen Bevölkerung, insbesondere die Intellektuellen des Landes, bereits seit längerer Zeit für eben diese Forderungen ein, so dass ich auch unabhängig von ei-nem EU-Beitritt mit einer mittelfristigen Realisierung rechne.
In dem sogenannten ‘Fortschrittsbericht’ der EU-Kommission wird ein ‘aktives Bemühen’ Ankaras in der Zypernfrage sowie im Streit mit Griechenland um territoriale Fragen in der Ägäis zur Voraussetzung eines EU-Beitritts der Türkei gemacht, und dies sogar bis Ende des Jahres 2001, also binnen 12 Monaten.
Diese aufgrund der Veto-Drohung Griechenlands auf-gestellte Forderung wird allerdings von der türkischen Regierung abgelehnt, denn:-In dem Konflikt zwischen Griechenland und der Türkei kann die Lösung nicht allein einer Partei abverlangt werden,
- eine Lösung unter so extremen Zeitdruck ist der Prob-lemlage nicht angemessen. Die nicht zuletzt aufgrund des Erdbebens entstandenen guten Kontakte zwischen beiden Staaten sollten vertieft und für fruchtbare Ver-handlungen nutzbar gemacht werden.
Doch wenden wir uns wieder einem der Themen zu, welches das Hauptanliegen dieser Veranstaltung ist, nämlich der Kurdenfrage.
Ich muss an dieser Stelle vorausschicken, dass es zu diesem Themenkreis keine Beschlusslage der Türki-schen Gemeinde in Deutschland gibt, ich hier also mei-ne ganz persönliche Meinung äußere.
Betrachtet man einmal die Staaten, in denen Menschen verschiedener Herkunft, Religion, Sprache oder Kultur – kurz unterschiedliche Ethnien – zusammenleben, so gibt es (etwas vereinfacht und verallgemeinernd) zwei grundlegende Konzepte, mit den daraus erwachsenen Problemen umzugehen.
Das Modell der UdSSR oder Ex-Jugoslawiens sah den Zusammenschluss von Staaten, die nach ethnischen Kriterien zusammengesetzt waren, unter einem födera-tiven Staatenverbund vor.
Nur mit Hilfe einer autoritären, undemokratischen Staatsmacht konnte der Zusammenhalt dieser Länder aufrechterhalten werden. Wohin dieses Konzept in bei-den Ländern geführt hat, haben wir mit Betroffenheit verfolgen können. Kein vernünftiger Mensch kann sich eine Tragödie des Ausmaßes, wie wir sie in Bosnien-Herzogowina, im Kosovo oder in der Kaukasus-Region erleben mussten, wünschen. Daher kann hier wohl zu Recht festgestellt werden, dass ein Modell, welches die Ethnisierung der Minderheiten und deren Aufteilung in viele autonome Kleinstaaten vorsieht, fast immer zu ethnischen Konflikten, zu Blutvergießen und viel menschlichem Leid führt.
Die Türkei folgt bei der Behandlung der Minderheiten-frage einem nationalstaatlichen Konzept, ähnlich dem Frankreichs oder der USA: Der Staat differenziert bei seinen Bürgern nicht hinsichtlich ihrer Herkunft oder ethnischen Zugehörigkeit. Alle Staatsbürger sind – un-abhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit – vor dem Gesetz gleich. Die gemeinsame Staatsbürgerschaft ist das vereinende Band zwischen diesen Ethnien.
In der Staatsphilosophie der Türkei spielt – im Gegen-satz zu Deutschland die ethnische Herkunft ‘nach dem Blute’ keine Rolle. Dies ließe sich auch in einem Staatswesen, in dem seit Jahrtausenden eine ständige Vermischung vieler Völker und Zivilisationen stattfand, kaum rechtfertigen. Anatolien war eben stets die Brücke zwischen Asien und Europa, hier hinterließen Hethiter, Griechen, Römer, Seldschucken, Osmanen und viele weitere Völker ihre Spuren. Die Türkei stellt ein Mosaik von 56 Sprachen und Dialekten nebst einer Vielzahl von Ethnien dar. Die moderne Staatsbürgerschaftsauf-fassung der Türkei sollte dieser Vielfalt der Sprachen, Kulturen und Ethnien gerecht werden. Vor diesem Hin-tergrund kann man daher auch nicht von einer ‘türki-schen Rasse’ sprechen.
In diesem Modell, das, von Atatürk konzipiert, die mo-derne Türkei seit mehr als 70 Jahren zusammenhält, ist allerdings kein Raum für Unabhängigkeitsbestrebungen einzelner Ethnien: eine solche würde das gesamte Sys-tem in Frage stellen und höchstwahrscheinlich zu Zu-ständen führen, wie wir sie zu Beginn der 90er Jahre in Bosnien erleben mussten.
Die kurdische Bevölkerung stellt in der Türkei mit einem Anteil von einem Sechstel bis einem Fünftel an der Ge-samtbevölkerung die größte Minderheit dar. Es ist si-cherlich der Wunsch großer Teile der kurdischen Bevöl-kerung, dass ihre kulturelle Identität offiziell anerkannt wird. Diesem berechtigten Anliegen sollte der türkische Staat schnell entsprechen. Dies bedeutet in der politi-schen Realität, dass die Türkei ihre Kurdenpolitik auf eine neue Grundlage stellen muß:
- Kurdisch muß als Muttersprache neben der Amts- und Schulsprache Türkisch in den Schu-len angeboten werden und erlernt werden kön-nen,
- Rundfunk- und Fernsehsendungen müssen auch in kurdischer Sprache erlaubt sein,
- durch eine landesweite Verwaltungsreform sollte die stark zentralistisch auf Ankara ausgerichte-te Verwaltung gelockert werden, und zwar mit dem Ziel, den Kommunal- und Regionalparla-menten mehr Zuständigkeiten einzuräumen. Dies wäre schon im Sinne einer effizienteren Verwaltungsarbeit geboten und entspräche darüber hinaus auch demokratischen Grund-sätzen.
Erst dadurch wären die Kurden nicht nur rechtlich, poli-tisch und sozial, sondern dann auch kulturell auf allen Ebenen den Türken gleichgestellt. Solchermaßen prak-tizierte Gleichstellung ist aber die unverzichtbare Vor-aussetzung für ein gleichberechtigtes, friedliches und solidarisches Zusammenleben verschiedener Volks-gruppen in einem politischen Gemeinwesen.
Prof. Dr. Hakkı Keskin Politikwissenschaftler und Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland