Beitrag zur Leitkulturdebatte

Verfassungspatriotismus anstelle einer Leitkultur, in: Verfassung Patriotismus Leitkultur, Lammert,N. (Herausgeber), Hamburg 2006

Es existieren unzählige wissenschaftliche Definitionen des Begriffes ‘Kultur’. Allein in der angloamerikanischen Kulturanthropologie werden über 150 verschiedene Begriffsdefinitionen angeboten, die sich zudem inhaltlich häufig eher ergänzen als wechselseitig ausschließen. Ich persönlich bevorzuge einen Kulturbegriff, wie er beispielsweise auch von der UNESCO verwendet wird.

‘Kultur umfasst die Strukturen, Ausdrucksformen und Bedingungen des Lebens einer Gesellschaft sowie die verschiedenen Arten, mit denen sich das Individuum in dieser Gesellschaft jeweils zum Ausdruck bringt und erfüllt’ (UNESCO, zit. n. Kula, O. B., Türkische Migrantenkultur als Determinante der Interkulturellen Pädagogik, Saarbrücken 1986, S.16).

Die europäischen Kultusminister verabschiedeten zudem schon im Mai 1984 ihre Berliner Deklaration, in der sie Kultur als Gesamtheit der Werte, die der Menschheit den Sinn ihres Daseins und Handelns vermittelt, definieren. In dieser Deklaration wurde auch ‘die Anerkennung der kulturellen Identität von Arbeitsemigranten, von Minderheiten und von Regionen’ gefordert sowie die Schaffung von ‘Bedingungen, die einem besseren Verständnis unter Menschen verschiedenen Alters und verschiedener Kulturen, verschiedener Regionen und Traditionen dienen’ (Deutsche UNESCO-Kommission (Hg.), Die Multikulturellen, Bonn 1985, S. 127 ff.).

Demgegenüber spiegelt der Begriff der ‘Leitkultur’ eine Vorstellung wieder, in der die eine, nämlich die deutsche oder europäische Kultur über die anderen Kulturen der Minderheiten dominiert. Eine Wiederaufnahme der gesellschaftlichen Debatte mit der Zielrichtung auf eine so genannte ‘Leitkultur’ bedeutet ein Ignorieren der längst vollzogenen Realität der multikulturellen Gesellschaft sowie eine Hierarchisierung mit Überhöhung der eigenen und Unterordnung der anderen, nichtdeutschen Kulturformen.

Zu einer breiten öffentlichen Diskussion über Leitkultur kam es als Friedrich Merz, in seiner damaligen Funktion als Fraktionsvorsitzender der CDU im Bundestag, Leitkultur zu Regeln für die Einwanderung und Integration in Deutschland machen wollte. ‘Das Grundgesetz ist wichtigster Ausdruck unserer Werteordnung und so Teil der deutschen kulturellen Identität, die den inneren Zusammenhalt unserer Gesellschaft erst möglich macht. (…) Zur Identität unserer Freiheitsordnung gehört die in Jahren und Jahrzehnten erkämpfte Stellung der Frau in unserer Gesellschaft. Sie muss auch von denen akzeptiert werden, die überwiegend aus religiösen Gründen ein ganz anderes Verständnis mitbringen. (…) Eine erfolgreiche Einwanderungs- und Integrationspolitik muss darüber hinaus darauf bestehen, dass die deutsche Sprache verstanden und gesprochen wird.’ (Die Welt, 25.10.2000), so Merz. Es bedarf keinerlei Diskussion, dass das Grundgesetz, alle sonstigen Gesetze und das Ausländergesetz zusätzlich für alle Eingewanderten in Deutschland gelten. Über die Verbesserungen der einzelnen Gesetze, über das Einbürgerungerecht und über das neue Zuwanderungsgesetz wird die Diskussion sicherlich weitergehen. Was jedoch als verbindlicher Kanon gilt und gelten muss, sind die von den universalen Menschenrechten abgeleiteten Grundrechte im Grundgesetz. Hierzu gehört selbstverständlich die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Das Erlernen der deutschen Sprache erleichtert jedem Menschen in Deutschland das Leben. Insbesondere für Kinder und Jugendliche ist das Beherrschen der deutschen Sprache für einen erfolgreichen Schul- und Berufsabschluss zwingend erforderlich. Alle Einwanderer teilen ebenfalls die Auffassung, dass die deutsche Sprache gut gelernt werden sollte. Für viele geht jedoch der Begriff Leitkultur weit über diese Selbstverständlichkeiten hinaus. Für Edmund Stoiber wird damit auch ‘die christliche Prägung’ Deutschlands gemeint (www.stern.de/21.11.2004). Bundestagspräsident Dr. Norbert Lammert spricht zwar von einer europäischen Leitkultur, anstelle der deutschen Leitkultur, will jedoch darunter auch die ‘gemeinsame Geschichte und religiöse Traditionen’ erfasst wissen. ‘Wenn ein Europa der Vielfalt nationale Identitäten bewahren und dennoch eine kollektive Identität entwickeln soll, braucht es eine politische Leitidee, ein gemeinsames Fundament von Werten und Überzeugungen. Eine solche europäische Leitidee bezieht sich notwendigerweise auf gemeinsame kulturelle Wurzeln, auf die gemeinsame Geschichte, auf gemeinsame religiöse Traditionen’ (Die Welt, 13.12.2005). Zum einen wäre es sehr gewagt zu behaupten, dass die Menschen in den europäischen Staaten von Griechenland bis Spanien und von Italien bis Schweden eine gemeinsame Geschichte und gemeinsame religiöse Traditionen hätten. Zum anderen leben in Deutschland mehr als 10 Millionen Menschen mit einem anderen kulturellen Hintergrund. Sie leben zu einem großen Teil auch mit einer völlig differenzierten Geschichte, Tradition, Kultur und aber auch Religion. Wie sollen nun diese Menschen sich in einer so verstandenen Leitkultur zurecht finden? Für diese Menschen mit mehr als 10 Prozent der Wohnbevölkerung Deutschlands würde das bedeuten, dass sie ihre differenzierte Kultur der ‘Leitkultur’ unterordnen, ja sogar sich de facto assimilieren müssten. So verstehen viele, sehr viele Nichtdeutsche, aber auch Deutsche diese Leitkulturdiskussion.

Die Verwendung des Leitkulturbegriffs ist damit nicht nur sprachlich missverständlich, sondern vor allem inhaltlich kritikwürdig. Durch eine politisch sanktionierte ‘Leitkultur’ würden kulturelle Minderheiten zwangsläufig unter enormen Druck gesetzt, sich kulturell unterzuordnen bzw. anzupassen. Die Übernahme einer ‘deutschen Leitkultur’ als Maßstab der Integrationspolitik drückt somit die Erwartung nicht nach Integration, welche die Beibehaltung und Weiterentwicklung der eigenen Kultur beinhaltet, sondern die nach Assimilation aus. Die moderne, tolerante, demokratische Gesellschaft darf ihre Bürger und kulturellen Minderheiten nicht zur kulturellen ‘Angleichung’ zwingen, kann und sollte aber von ihnen stattdessen die Achtung und Einhaltung der geltenden gesetzlichen Grundlagen verlangen. Deshalb plädiere ich für den Begriff des Verfassungspatriotismus, anstelle der Leitkultur. Darunter meine ich die Menschen- und Grundrechte, die als Resultat der menschlichen Zivilisation für alle Menschen in den demokratischen Rechtsstaaten gelten müssen. Dann bräuchten wir keine neuen Begriffe, die letztendlich zu mehr Irritation beitragen, anstatt mehr Verständigung zwischen unterschiedlichen Kulturen zu erzielen.

Viele Kulturen, eine gemeinsame Zukunft! Zunächst gilt es jedoch, die Tatsache zu akzeptieren, dass in Deutschland keine Monokultur, ja nicht einmal eine national-homogene Einheitskultur existiert. Kann denn ein vernünftiger Mensch glaubhaft behaupten, dass es in Deutschland nichts anderes gäbe außer der deutschen Kultur, also der deutschen Sprache, Lebensweise, Musik, Kunst, Literatur und der christlichen Religion? Oder vermag jemand die Augen davor zu verschließen, dass sich neben der deutschen Kultur nicht auch zahlreiche andere Kulturen und Lebensweisen in Deutschland etabliert haben? Auch im Bereich der Religionsverankerung ist die deutsche Bevölkerung mittlerweile stark ausdifferenziert. In Deutschland lebt neben den katholischen und protestantischen Konfessionsangehörigen eine immer größer werdende Zahl von Menschen mit nichtchristlicher Religionszugehörigkeit bzw. gänzlich säkular orientierter Menschen.

Deutschland hatte und hat also längst diese kulturelle Vielfalt. Die kulturellen Identitäten all dieser Menschen sind folglich unterschiedlich entstanden. Werden neben den Zuwanderern die bereits eingebürgerten Menschen ausländischer Herkunft hinzugezählt, dann kommt im Bundesdurchschnitt mehr als jeder zehnte, in den Großstädten sogar bis zu jeder vierte Einwohner aus einem anderen Kulturkreis und hat eine andere ethnische Herkunft. Es müsste daher nunmehr darüber kontrovers diskutiert werden, wie und mit welchen Konzepten diese kulturelle Vielfalt, die Multikulturalität also, als eine gesellschaftliche Perspektive nicht des Nebeneinanders, sondern des Miteinanders gestaltet und entfaltet werden kann.

In Deutschland sind unübersehbar Millionen von Eingewanderten und ihre Nachkommen aus unterschiedlichen Kulturen in allen gesellschaftlichen Bereichen präsent. Sie leben hier zum Teil bereits seit einem halben Jahrhundert. Es ist daher überholt und wenig produktiv, bei der Diskussion zu verweilen, ob Deutschland eine multikulturelle Gesellschaft ist. Diese ist bereits eine dauerhafte Realität. Darunter verstehe ich aber nicht bloß die einfache Addition der Kulturen, die nur nebeneinander bestehen, sondern deren bewusste Wahrnehmung und wechselseitige Respektierung. Sie ist Ausdruck eines freiwilligen Kennenlernens, ist Austausch und Dialog zwischen den unterschiedlichen Kulturen. Damit verbunden ist auch die freiwillige Aufnahme von Teilen anderer Kulturen, ohne dass damit die andere Kultur komplett angenommen wird.

Der CDU-Politiker Heiner Geißler beispielsweise gehört seit geraumer Zeit trotz zum Teil heftiger Anfechtungen aus den Reihen der eigenen Partei und von Seiten der bayerischen Schwesterpartei CSU zu den prominentesten Befürwortern der Akzeptanz dieser Realität einer multikulturellen Gesellschaft. Diese Gesellschaft definiert er als ‘die Bereitschaft, mit Menschen aus anderen Kulturen und Ländern zusammenzuleben, ihre Eigenart zu respektieren, ohne sie germanisieren und assimilieren zu wollen. Das heißt auf der anderen Seite, ihnen, wenn sie es wollen, ihre kulturelle Identität zu lassen, aber gleichzeitig von ihnen zu verlangen, dass sie die universellen und die Grundwerte der Republik, z. B. die Gleichberechtigung der Frau und die Glaubens- und Gewissensfreiheit, achten und zweitens die deutsche Sprache beherrschen’ (Geißler, Heiner, Zugluft, München 1990, S. 193).

Die Grundlagen und tragenden Orientierungen müssten in unserer Gesellschaft folglich weitaus stärker interkulturell ausgerichtet sein. Dies erfordert einerseits die Bereitschaft der Aufnahmegesellschaft, die hier lebenden Menschen aus anderen Kulturkreisen zu integrieren, ohne dass diese ihre ursprüngliche kulturelle Identität ablegen müssen. An die hier lebenden kulturellen Minderheiten ist dagegen der begründete Anspruch zu stellen, die universellen Menschenrechte und die Grundwerte der bundesrepublikanischen Verfassung als Werte an sich zu achten sowie zweitens die deutsche Sprache möglichst gut zu beherrschen. Mit den Grundwerten der Bundesrepublik Deutschland, die im Grundgesetz klar beschrieben sind, müssen sich die kulturellen Minderheiten unbedingt identifizieren.

Eine so verstandene ‘Verfassungskultur’ kann sehr wohl gleichermaßen für die deutsche und nichtdeutsche Bevölkerung eine verbindliche Grundorientierung und Voraussetzung des Zusammenlebens in einem multikulturellen Deutschland sein. Die entscheidende Frage lautet vielmehr, ob zunächst einmal die politisch Verantwortlichen der relevanten Parteien selbst bereit sind, ihrerseits die kulturelle Vielfalt der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu akzeptieren?

Die gesellschaftliche Debatte zu diesem Thema sollte zielgerichtet und zugleich offen geführt werden, um einen einseitig vorbestimmten Diskussionsverlauf zu vermeiden. Würde dagegen die Diskussion unter dem Stichwort der so genannten ‘Leitkultur’ vorformuliert, ist zu befürchten, dass von vornherein die kulturelle Assimilation der Minderheiten eine apodiktische Festlegung als Integrationsziel erfährt. Die an eine solche Debatte geknüpften Erwartungen sollten in einer Verständigung über das politisch umzusetzende Integrationskonzept liegen, welches die multikulturelle Lebenswirklichkeit in Deutschland zur Grundlage nimmt und gesellschaftlich weiterentwickelt.

Nach Jahrzehnten kontroverser Diskussionen darüber, ob Deutschland nun ein Einwanderungsland sei oder nicht, findet seit einiger Zeit nun auch die Frage nach den kulturellen Lebensweisen in unserer Gesellschaft eine zunehmende Beachtung. Dabei ist durch die Lebensrealität längst klar geworden, dass die Bundesrepublik unumkehrbar zu einem Einwanderungsland geworden ist, in dem ein Großteil der Zugewanderten dauerhaft leben möchte. Aus diesem Grund ist die Frage nach dem gesellschaftlichen Umgang mit unterschiedlichen kulturellen Identitäten keine abstrakte, sondern vielmehr eine konkrete, alltägliche und nicht zuletzt auch eine zutiefst politische Frage.

Eine erfolgreiche Integrationspolitik ist mit Gleichberechtigung möglich Die neue schwarz-rote Bundesregierung unter Führung von Kanzlerin Angela Merkel hat in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, künftig der Integrationspolitik in Deutschland einen höheren Stellenwert einzuräumen. Umso dringender ist folglich eine gesamtgesellschaftliche Diskussion und Verständigung über die kulturellen Grundsätze und Orientierungen einer erfolgreichen Integration in Deutschland. Hierzu gehören konkrete Forderungen nach rechtlicher, politischer und sozialer Gleichstellung und Gleichbehandlung aller kulturellen Minderheiten sowie ein wirksames Verbot ihrer offenen oder verdeckten Diskriminierung. Die Ausstrahlung und Stabilität einer Demokratie bemisst sich nicht zuletzt nach dem Maß der politischen Partizipation und gesellschaftlichen Teilhabe ihrer Gesellschaftsmitglieder.

Bei der Durchsetzung der rechtlichen Gleichstellung zwischen der deutschen und der Einwandererbevölkerung gibt es zum Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft keine Alternative. Erst die deutsche Staatsangehörigkeit ermöglicht Migranten die politische Teilhabe und volle bürgerliche Rechte. Die Einbürgerung ist somit für die Integration ein zentraler Faktor. Die gegenwärtige Einbürgerungspraxis ist allerdings dringend reformierungsbedürftig. Um die Einbürgerung von Migranten zu erleichtern, ist es zwingend erforderlich, die Beibehaltung der bisherigen Staatsbürgerschaft zu tolerieren. Zugleich sollten die Bearbeitungsfristen bei Einbürgerungsanträgen deutlich verkürzt und die personelle Ausstattung in den Einbürgerungsbehörden spürbar verbessert werden.

Ferner ist den hier seit 5 Jahren lebenden Einwanderern das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen schon vor ihrer offiziellen Einbürgerung einzuräumen, gerade damit sie sich frühzeitig mit den in Deutschland geltenden Grundwerten und Normen vertraut machen können.

Eine Schlüsselstellung nimmt die frühzeitige Entwicklung von interkulturellen Kompetenzen in der Erziehung und Schulausbildung ein, um den Kindern von Migranten das Erlernen der deutschen Sprache, aber auch der eigenen Muttersprache, zu erleichtern. Dies erfordert in den Kindergärten und Schulen eine Aufstockung mit interkulturell geschultem Personal sowie staatliche Zuschüsse oder andere materielle Anreize zur Senkung der Kinderbetreuungskosten, was nicht nur für Migrantenfamilien, sondern auch für deutsche Familien eine wichtige Unterstützung wäre.

Eine erfolgreiche Integrationspolitik bedarf des Weiteren eines umfassenden Schutzes der kulturellen Minderheiten vor ihrer gesellschaftlichen Diskriminierung. Deutschland steht ohnehin in der Pflicht, umgehend ein nationales Antidiskriminierungsgesetz zu verabschieden, da die diesbezüglichen Zeitvorgaben der Europäischen Union bereits deutlich überschritten wurden. In anderen Ländern wie Großbritannien, Schweden, den Niederlanden, aber auch in nichteuropäischen Staaten wie den USA gehören nationale Antidiskriminierungsgesetze längst zur gesellschaftlichen Realität. Diese haben nicht nur dazu beigetragen, die vorhandenen Diskriminierungen kultureller Minderheiten zu beseitigen, sondern deren Chancen auf Gleichbehandlung sogar nachweislich zu verbessern.

Neben einem weit reichenden Diskriminierungsschutz in Beschäftigung und Beruf bleibt in der Bundesrepublik eine Anwendung auch im Zivilrecht bei alltäglichen Massengeschäften unverzichtbar. Niemand darf in seinem persönlichen Lebensalltag wegen seiner ethnischen Herkunft, Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, seines Geschlechts, Alters oder seiner sexuellen Identität diskriminiert werden, was ohnehin ein politisches Gebot des Grundgesetzes wäre. Erfahrungen aus Schweden und Großbritannien belegen zudem eindeutig, dass die Beweislast dafür, dass keine Diskriminierung vorläge, unbedingt bei dem Beklagten liegen müsste. Denn nur durch eine solche Beweislastumkehr ließe sich sicherstellen, dass die Betroffenen eine erfahrene Diskriminierung überhaupt anzeigen würden.

Integration erfordert ein tolerantes, auf Dialog beruhendes und auf Interkulturalität orientiertes Zusammenleben unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen im unmittelbaren Wohnumfeld. Im Bereich der Sozialpolitik lehren uns die jüngsten Jugendunruhen in Frankreich, dass die Stadtentwicklungs- und Wohnungsvergabepolitik eine besondere Beachtung verdient. Um einkommensschwache Bevölkerungsgruppen zu unterstützen, bleibt ein Einfluss der öffentlichen Hand auf die Mietpreisbildung bzw. ein staatlich bezuschusster Wohnungsbau generell notwendig. In den Großstädten sollte einer übermäßigen Konzentration einzelner Migrantengruppen in einigen Stadteilen gezielt entgegengewirkt werden, um mittel- und langfristige Segregations- und Gettoisierungstendenzen zu vermeiden. Mithilfe eines sozialen Quartiersmanagements sollten Stadtteile mit hohen Wohnanteilen nichtdeutscher Bevölkerung kurzfristig attraktiver gemacht werden, indem städtebaulich neue Parkanlagen, Erholungsmöglichkeiten, Freizeiteinrichtungen, Jugendclubs, Sportplätze etc. angelegt werden.

Darüber hinaus sollten die Begegnungs- und Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund erweitert und verbessert werden. Hierfür müssten die bisherigen Erfahrungen stärker wissenschaftlich evaluiert und nach innovativen Begegnungsformen gesucht werden. Speziell die ältere Generation hier lebender MigrantInnen benötigt im Rentenalter dringend kommunikationsfreundliche Begegnungsstätten, deren Besuch nicht zu kostspielig sein darf, da ein Großteil der älteren Migranten nur über ein geringes durchschnittliches Monatseinkommen von unter 500 EURO verfügt. Die Einbeziehung des unmittelbaren Wohnumfelds in integrationspolitische Zielstellungen wäre vorrangig Aufgabe der Kommunen, die zu diesem Zweck finanziell entlastet werden bzw. höhere Zuwendungen von Länder- oder Bundesebene erhalten müssten.

Summa summarum ist Integrationspolitik eine gesamtgesellschaftliche Querschnittsaufgabe und Herausforderung, die weit über den Horizont eines engeren Kulturverständnisses hinausreicht. Die demokratischen Grundprinzipien einer Gesellschaft der kulturellen Offenheit und Vielfalt besitzen Verbindlichkeit für alle hier lebenden Menschen.

Ich begrüße die geplante Neuaufnahme der Diskussion über die Grundprinzipien des gesellschaftlichen Zusammenlebens in Deutschland und verbinde damit die Hoffnung, dass ein konstruktiver und vorurteilsfreier Dialog zu diesem äußerst wichtigen Thema möglich ist. Denn die Vielfalt der Kulturen benötigt wie überall auf der Welt auch in Deutschland eine gemeinsame Zukunft des gesellschaftlichen Miteinanders.

Berlin, 31. Januar 2006

Hakkı Keskin

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