Die Richtung ist entscheidend

Überlegungen zur 'politischen Reife' der Deutschland-Türken

Unbestritten sind die Deutschland-Türken im Bewußtsein der meisten Deutschen nach wie vor die Parias des Landes. Die Tatsache, daß die türkische Bevölkerung Deutschlands sich struktu-rell stark verändert hat, Tausende Akademiker in verschiedenen Berufen, darunter als Ärzte, Ingenieure, Hochschullehrer etc. tätig sind, rund 20.000 Türken eine Hochschule besuchen, nahe-zu 44.000 Türken als selbständige Unternehmer 34 Mrd. DM Umsatz erwirtschaften, ändert an dieser Beurteilung nichts.

Diese Lage der Türken ist mit ihrer gesellschaftspolitischen Stel-lung sehr eng verbunden. Die türkische Bevölkerung Deutsch-lands verfügt nicht über die Möglichkeiten der Einflußnahme, die sie als die mit 2,2 Mio. Menschen größte kulturelle Minderheit haben müßte. Zum einen, weil sie als Ausländer über keine politi-sche Rechte verfügen. Und zum anderen, weil sie noch keine den Erfordernissen dieser Gesellschaft entsprechenden Organisati-onsformen entwickelt haben.

In einer parlamentarischen Demokratie können die Menschen ihre Rechte und Interessen nur dann zur Geltung bringen, wenn sie über die entsprechenden Machtmittel verfügen, sei es als Wähler, als Wirtschaftsfaktor, als Berufs- und Interessenverband. Nur knapp 200.000 der 2,2 Mio. Menschen aus der Türkei, das sind gerade 9 Prozent, sind bis heute deutsche Staatsbürger und somit Wähler geworden. Auf Bundesebene ist die Bedeutung dieses Wählerpotentials noch nicht so groß, daß die Anliegen und Forderungen der türkischen Bevölkerung bei den politischen Parteien und Regierungen deshalb die gebührende Beachtung fän-den.

Die Einwandererbevölkerung vor allem aus den Staaten, die nicht der EU angehören, wird somit nicht nur gesellschaftspoli-tisch ignoriert, sondern auch in der Wahrnehmung und Bewertung durch große Teile der deutschen Bevölkerung als entsprechend ‘minderwertig’ abqualifiziert. Befragungen über die Sympathie-werte von Türken bei der deutschen Bevölkerung belegen dies.

Unter diesen Umständen bleibt für die Deutschland-Türken nur noch die Möglichkeit, nicht nur ihren Forderungen und Anliegen Gehör und Akzeptanz zu verschaffen, sondern sich auch im Be-wußtsein der deutschen Bevölkerung aus dieser ‘Pariarolle’ zu befreien. Dies ist jedoch nur mit einer der Bevölkerungsgröße der Türken angemessenen Organisationsstärke möglich. Die 2,2 Mio. Menschen aus der Türkei müssen in der Lage sein, selbstbewußt diese ihre Stärke erkennbar zu demonstrieren gegen die Jahrzehnte andauernde Ignoranz der Politik, gegen jede Form der rechtlichen, politischen und sozialen Ungleichbehandlung, gegen jede Art und Form von Arroganz, Ablehnung, Rassismus, Fremden- und Türkenfeindlichkeit. Nur hierdurch wird die deutsche Bevölkerung, wird aber auch die Politik ihre herablassenden Blicke gegenüber den Türken ändern und beginnen, ihre Wahrneh-mung in bezug auf die Türken zu korrigieren. Das bisherige Jammern und Klagen der Betroffenen hat nichts verändert und wird auch nichts ändern, so lange diese selbst nicht bereit sind, engagiert für Ihre Interessen einzutreten. Werte wie Demokratie, Menschen- und Minderheitenrechte oder Humanismus, die von der europäischen Zivilisation hervorgebracht wurden, gelten ganz offensichtlich für die in Deutschland und in manch anderen euro-päischen Staaten lebenden Immigranten nicht, so lange diese nicht bereit und in der Lage sind, gegen ihre Untertanenrolle in der Gesellschaft mit allen demokratischen Mitteln zu rebellieren.

Erst seit Beginn der Achtziger Jahre haben sich die nach Deutschland eingewanderten Türken schrittweise von der Illusion befreien können, in Kürze oder ‘irgendwann’ in die Türkei zurückkehren zu können. Der Trend zu dauerhafter Niederlassung in Deutschland nimmt stark zu und hat sehr große Teile der türkischen Bevölkerung bereits erfaßt. Doch ein Teil der politisch akti-ven Türken und ihre Vereine haben hieraus noch nicht die not-wendige Konsequenz gezogen. Ihre Orientierung bleibt weiterhin türkeipolitisch geprägt. Die Probleme und Aufgaben der Deutsch-land-Türken in diesem Lande wie auch die Politik der Bundesre-publik Deutschland sind für sie sekundärer Natur. Mit ihrem Kör-per sind sie dauerhaft hier, mit ihren Gedanken sehr oft immer noch in der Türkei als Anhänger der dortigen politischen Parteien, Bewegungen und sogar religiösen Kreise und Sekten. Dieser Bezug hin zu den in der Türkei agierenden politischen Parteien zersplittert die türkische Bevölkerung Deutschlands, erschwert ihre themen- und sachorientierte politisch-gesellschaftliche Betätigung, Konsensbildung und das gemeinsame Vorgehen im Kampf für gleiche Rechte. Spätestens seit Anfang der Neunziger Jahre hat sich aber in vielen Bundesländern und auf Bundesebene eine neue Politische Kraft etabliert, die Deutschland als neue Heimat der hier dauer-haft lebenden Türken und der gesamten nichtdeutschen Bevölke-rung begreift und sich ohne Wenn und Aber zu dieser neuen Heimat bekennt. Die diese Kraft tragenden Menschen wollen von Gesellschaft und Politik als ein gleichberechtigter Teil anerkannt werden. Eine bedeutende Zahl der politisch engagierten Türken und ihrer Vereine hat sich daher seit Ende 1995 unter einem Dach zusammengeschlossen. Ohne ihre Herkunft und Kultur zu verneinen, sieht diese pluralistisch besetzte Bewegung ihre Arbeit ausschließlich auf Deutschland bezogen, soweit türkeispezifische Anliegen die hier lebenden Türken nicht berühren. Wenn auch zahlenmäßig noch nicht stark vertreten, gibt es weitere Gruppierungen unter den politisch aktiven Türken, die eine politische Arbeit in Einwanderer-Selbsthilfeorganisationen nicht mehr für notwendig erachten. Sie engagieren sich ausschließlich in deutschen Parteien und Vereinen.

Die Organisationsstärke der türkischen Vereine mit einer klaren Hinwendung zu Deutschland und mit auf Deutschland und die deutsche Politik bezogenen Anliegen läßt viel zu wünschen übrig. Diese Vereine verfügen über fast keine professionellen Arbeits-strukturen, weil ihnen die notwendige Mittel und die Unterstützung seitens der deutschen Administration weitgehend fehlt. Die Be-reitschaft der türkischen Bevölkerung, ihnen mit Spenden und Mitgliedsbeiträgen zu helfen, ist sehr gering. Mit überwiegend ehrenamtlich tätigen Menschen wird versucht, nur einen Bruchteil der dringend erforderlichen Aufgaben zu bewältigen. Der Einfluß dieser politischen Bewegung ist daher noch bescheiden, doch Richtung und Qualität ihrer politischen Arbeit sind konzeptionell überzeugend, und das wird für die Zukunft entscheidend sein.