Keiner Religion erlauben, die Rechtslage selbst auszulegen

Die Ereignisse in den Niederlanden haben in Deutschland eine beängstigende Stimmung erzeugt. Im Mai 2002 wurde der rechtspopulistische Politiker Pim Fortuyn von einem Niederländer aus politischen Gründen ermordet.

Die Ereignisse in den Niederlanden haben in Deutschland eine beängstigende Stimmung erzeugt. Im Mai 2002 wurde der rechtspopulistische Politiker Pim Fortuyn von einem Niederländer aus politischen Gründen ermordet. Durch eine ähnliche Schandtat, diesmal jedoch von einem Menschen islamischen Glaubens, verlor der Filmemacher Theo van Gogh sein Leben. Es herrscht Panik. Der Islam wird zur Bedrohung hochstilisiert und Muslime als potentielle Gefahr dargestellt.

Wenn ein Mord genügt, in den durchaus toleranten Niederlanden zum Auslöser dafür zu werden, zahlreiche Moscheen und islamische Einrichtungen mit Brandanschlägen zu attackieren, dann ist dort offensichtlich vieles falsch gelaufen. Eine multikulturelle Gesellschaft setzt Dialog, Begegnung, Austausch und das Miteinander voraus und nicht allein das Dulden oder Tolerieren eines Nebeneinander.

In einer von Panik geprägten Atmosphäre können die seit Jahrzehnten vernachlässigten Aufgaben der Integrationspolitik und des friedlichen Zusammenlebens der deutschen Mehrheitsgesellschaft mit den hier dauerhaft lebenden kulturellen Minderheiten nicht sachlich diskutiert werden. Eine solche Lage für schärfere Maßnahmen nutzen zu wollen ist nicht anständig. In diese Kategorie fällt auch die Forderung, in den Moscheen nur noch in deutscher Sprache predigen zu dürfen – hieße dies doch Assimilation statt Integration. Muttersprache und Religion sind elementare Bestandteile der kulturellen Identität. Die Gläubigen müssen die Predigt hundertprozentig verstehen können. Solche Forderungen können eher ein Abschotten und Abkapseln bewirken.

Der eigentliche Fehler der sogenannten Ausländerpolitik in Deutschland liegt daran, daß sie ohne Beteiligung, Mitwirkung und Mitgestaltung der Betroffenen gemacht wird. Weder zum Staatsangehörigkeitsgesetz noch zum neuen Zuwanderungsgesetz wurden die Betroffenen befragt oder gar an seinem Zustandekommen beteiligt. Die zahlreichen Diskussionen in den Fernsehanstalten und in anderen Medien über Migrationsfragen und vor allem über die Türken als das vermeintliche Problem in Deutschland liefen zumeist ohne Beteiligung der Betroffenen.

Diese Ignoranz, ja Diskriminierung der Einwandererbevölkerung führt notwendigerweise bei den meisten zur Resignation und zum Rückzug in den eigenen Kulturkreis.

Für Defizite und Probleme werden oft die Migranten selbst verantwortlich gemacht. Dabei trägt die seit Jahrzehnten herrschende Konzeptionslosigkeit der Migrationspolitik dafür die Hauptverantwortung. Die Ballung von Türken und anderen Migranten in Wilhelmsburg und in einigen anderen Stadtteilen kam zustande, weil es dort bezahlbare Wohnungen gab. Wer würde nicht gern in Eppendorf, in Winterhude oder an der Alster wohnen? Wer möchte nicht, daß seine Kinder die deutsche Sprache perfekt beherrschen, gute Schulabschlüsse haben, Abitur machen, eine Hochschule besuchen oder doch zumindest einen guten Beruf erlernen?

Wenn diese Ziele von vielen Kindern der Migranten nicht erreicht werden, muß nach den Gründen gefragt und brauchbare Lösungen angeboten wer-den. Die Türkische Gemeinde und ihre Berufsverbände haben wiederholt konkrete Vorschläge dafür vorgelegt.

Manche akuten Schwierigkeiten sind jedoch hausgemacht und von den Behörden zu verantworten. Niemandem, weder Eltern noch Schülerinnen, darf erlaubt sein, die Gesetze in Deutschland – und dazu gehören auch die Schulgesetze! – zu mißachten. Schulpflicht gilt für alle: für Mädchen und Jungen, für Sport-, Schwimm- und Sexualkundeunterricht. Der Staat und die Schulen dürfen sich auf eine Diskussion über die geltende Rechtslage nicht einlassen. Es darf keine Freiräume für eine Auslegung durch die jeweilige Religion geben. Religionen und religiöse Überzeugungen einzelner Personen und Gruppen müssen Privatsache bleiben und dürfen nicht auf die staatspolitischen, rechtlichen und bildungspolitischen Einrichtungen übertragen werden.

Vereine, die sich als Religionsgemeinschaft ausgeben, dürfen unter keinen Umständen eigene Kindertagesstätten und Schulen eröffnen und unterhalten. Diese Fehler werden in den Niederlanden gemacht. In Berlin erteilt eine selbsternannte Religionsgemeinschaft inzwischen den islamischen Religionsunterricht in den Schulen und führt sogar eine eigene Schule. Bevor es zu spät ist, müssen diese Fehler korrigiert werden.

Die staatlichen Schulen müssen aber mit der Einführung einer islamischen Religionsunterweisung dem Bedürfnis muslimischer Eltern entsprechen und dem politischen Islam den Boden für politische Agitation und die dogmatische Auslegung des Islam entziehen. Das fordern wir seit mehr als 20 Jahren.

Der Islam ist eine tolerante, friedliche und flexible Religion. Er verlangt von den Gläubigen, sich an die Rechtsordnung und an die Gesetze des jeweiligen Landes zu halten, in dem man lebt. Der politische Islam will aber die Religion instrumentalisieren, schafft daraus eine politische Ideologie und bildet daraus Dogmen. Genau das will der Laizismus in Frankreich und in der Türkei verhindern. Deshalb sollte Deutschland beim Umgang mit Muslimen aus den Erfahrungen dieser Länder lernen.

erschienen am 19. November 2004 in Politik

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